Читать книгу Barfuß in Deutschland - Tete Loeper - Страница 8
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ОглавлениеTendeza kam und setzte sich neben mich, während ich meine Schuhe mit einer alten Zahnbürste putzte. »Weißt du was, Toni«, sagte sie. Mein Name ist Mutoni, aber die Leute nannten mich Toni und ich mochte den Spitznamen.
»Was?« Ich drehte mich um und sah sie an.
»Ich gehe nach Dubai«, sagte sie mit strahlendem Lächeln.
Die meisten Mädchen unserer Generation strebten nach Dubai, während die Jungen nach Darfur oder Mosambik gingen. Ich habe Geschichten von Jungen gehört, die nach Mosambik gegangen und erfolgreiche Händler geworden waren. Einige kehrten nach Hause zurück, um zu heiraten, ihre Frauen nahmen sie dann mit. Jungen, die nach Darfur gingen, kamen mit genug Geld zurück, um Häuser zu bauen und ihre eigenen Geschäfte zu eröffnen. Niemand sprach über die, die im Ausland ihr Leben verloren. Nun wollte auch meine kleine Schwester aufbrechen, um ihr Glück zu suchen.
»Und wie kommst du nach Dubai?«, fragte ich Tendeza.
»Du solltest erst einmal so etwas wie ›herzlichen Glückwunsch‹ oder ›ich bin stolz auf dich‹ sagen.«
»Ach, na ja, ich weiß nicht, ob du einen Fehler machst.«
Tendeza wurde schnell wütend. »Wirst du jemals aufhören, mich zu kritisieren? Ich kann weder wie du sein, Mutoni, noch werde ich mich jemals so benehmen, wie du es von mir erwartest. Also hör auf, so zu tun, als wärst du meine Mutter.«
»Ist ja gut. Du brauchst nicht zu schreien. Also, wie willst du nach Dubai kommen?«
»Haruna nimmt mich mit. Er hat mir dort einen Job als Hotelrezeptionistin besorgt.«
Haruna war der einzige Mann, den ich unter den Kunden nicht mochte, die das Restaurant besuchten, wo ich an den Wochenenden und in Sonderschichten arbeitete. Das kleine Restaurant, eigentlich eher ein Kiosk, wurde in Nyamirambo als Restaurant angesehen. Wir verkauften Samosas, Chapati und Erfrischungsgetränke, wie auf dem Schild an der Tür zu lesen war: Amata na Fanta bikonje.
Haruna trug eine schwere Silberkette, die auf seinem Bauch ruhte, der so groß war wie eine überreife Schwangerschaft. Eines Abends, als er sein Essen bezahlte, lehnte er sich so dicht zu mir, dass ich das Tajiri riechen konnte, mit dem er seine Haut eingeölt hatte. »Du bist zu schön, um hier zu arbeiten«, raunte er.
»Danke, aber Schönheit hat nichts mit Essen zu tun«, antwortete ich mit einem Schulterzucken.
»Hör mal, ich kann für dich überall in diesem Land einen Job finden«, flüsterte er mir ins Ohr. Ich fühlte mich sofort unwohl.
»Wirklich?« Ich verspottete ihn, aber er verstand es als ernst gemeinte Frage.
»Ich habe Beziehungen, weißt du. Lass uns darüber sprechen, nachdem du das Restaurant zugemacht hast. Ich kann irgendwo auf dich warten«, sagte er.
»In Ordnung, geben Sie mir Ihre Nummer und ich rufe Sie an, wenn ich schließe.«
Ich dachte, er könnte mir vielleicht einen Job in der Gemeindebank besorgen. Es schien zu stimmen, dass er viele Leute kannte. Später rief ich ihn an, und wir trafen uns in der Amani Lodge. Er begann damit, mir den Rücken zu reiben und bestand darauf, dass wir unser Gespräch in seinem Zimmer weiterführen sollten, da es sehr vertraulich sei. Seine Hände wanderten nach unten und fassten an meinen Po. Ich schlug sie weg und verstand nun, was er von mir wollte. Ich nahm ein Motorradtaxi und fuhr weinend nach Hause. In dieser Nacht hasste ich mich dafür, dass ich so naiv war. Bevor ich mich mit ihm traf, hätte ich skeptisch sein sollen, welche Art von Verbindungen er hatte, denn er hatte nicht einmal selbst einen Job. Tendeza erzählte ich aber nichts davon.
Ich konnte nicht zulassen, dass meine Schwester in Harunas Falle tappte. Ich machte mir Sorgen, was bereits passiert sein könnte, als wir über Tendezas bevorstehendes Dubai-Abenteuer sprachen. Und was würde erst mit ihr geschehen, wenn er sie dorthin brachte?
»Haruna ist ein Monster. Er wird dein Leben ruinieren«, sagte ich.
»Mehr als es jetzt schon ruiniert ist?«, antwortete Tendeza spöttisch. »Sieh uns an, was haben wir denn?«
»Du bist noch jung, Tendeza. Du könntest sogar wieder studieren.«
»Studieren, studieren … und was dann? So werden wie du?«
»Es tut mir leid.« Ich zog sie in meine Arme, während mir Tränen über die Wangen liefen.
»Es ist nur so, wenn ich daran denke, wie sehr sich Mutter bemüht hat, damit wir studieren können … Es würde sie stolz machen, wenn du zurück an die Uni gehen würdest. Und vielleicht könnte ich sogar ein Stipendium für dich erlangen, damit du später im Ausland weiterstudieren kannst«, sagte ich.
»Und du meinst wirklich, dass es meine Aufgabe ist, Tote stolz zu machen? Weißt du, was das Problem hier ist?« Sie löste sich aus meinen Armen. »Alle wollen eine höhere Bildung, aber sie finden nichts, wo sie sich dann bewerben können, und während sie das versuchen, verpassen sie andere Möglichkeiten.«
»Na ja, wenigstens bin ich gebildet«, wandte ich ein.
»Ja, du hast eine akademische Ausbildung, aber dir fehlt es trotzdem an Köpfchen«, sagte sie.
»Tendeza, du suchst nur nach Ausreden für deine Ignoranz.«
»Du nennst mich also ignorant? Na dann, bitte.«
Tendeza widmete sich ihrem Telefon und begann zu scrollen.
Eine bedrückende Stille entstand zwischen uns.
Ich erhob mich, um meine Schuhe ans Fenster zu stellen, wo sie über Nacht trocknen sollten, und fragte Tendeza bemüht beiläufig: »Und wann hast du vor abzureisen?«
»Morgen Abend. Ich habe schon alles vorbereitet.«
»Was?«, rief ich fassungslos.
Bevor ich mich kontrollieren konnte, hatte ich schon ausgeholt und meiner Schwester eine Ohrfeige verpasst. »Bist du krank? Wann wolltest du mir davon erzählen?«
»Ich hasse dich! Wenn es das ist, was du eine fürsorgliche Schwester nennst, dann will ich dich nie in meinem Leben wiedersehen!«, schrie sie.
Ich stand hilflos vor ihr und weinte. »Es tut mir leid, ich will wirklich …«
»Spar dir deine Ausreden für dein armseliges Leben.« Sie wies mich ab, als ich versuchte, nach ihrer Hand zu fassen. »Lass mich in Ruhe.« Ohne ein weiteres Wort ging sie zu Bett.
In dieser Nacht schlief ich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Am nächsten Tag wachte ich sehr früh auf und lief zu einem Laden in der Nachbarschaft, um Donuts und Eier zu kaufen. Ich kochte Haferbrei, briet Spiegeleier und deckte den Frühstückstisch. Ich wollte wenigstens eine letzte Mahlzeit mit meiner Schwester teilen, bevor sie abreiste. Ich hatte mir einen Satz zurechtgelegt, mit dem ich mich für den Vorfall von letzter Nacht entschuldigen wollte: »Meine liebste Schwester, ich verstehe, dass jede von uns ihr eigenes Leben leben muss. Ich hoffe, du findest dein Glück in dem, wofür auch immer du dich entscheidest. Zähl auf mich, wenn du jemals Hilfe brauchst.«
Ich wartete und wartete, aber Tendeza kam nicht aus dem Schlafzimmer. Ein seltsames Gefühl der Sorge ließ mich an die Tür klopfen, aber niemand antwortete. Ich machte die Tür auf und stellte fest, dass Tendeza nicht da war und der Koffer, den sie neben dem Bett gehabt hatte, weg war. Auf dem Kopfkissen lag ein Zettel: »Ich bin gegangen, damit du deine Erziehungsratschläge für dich selbst nutzen kannst. Ich schicke dir bald eine WhatsApp mit meiner Dubai-Nummer.«
Ich bemühte mich, tief ein- und auszuatmen. Ich wollte meinen Verstand überlisten, dass ich bloß träumte, aber ich konnte die Realität nicht leugnen.
Was habe ich mit meinem Leben angefangen?
Ich weinte.
Was habe ich den Menschen angetan, die ich liebe?
Warum ich?
Ich ging zu dem Mangobaum in unserem Hof, legte mich darunter und verlor mich in Gedanken. Die heiße Sonne machte mir nichts aus; ich war froh, allein zu sein.
Es gab keine Antwort auf meine Fragen, außer, dass das Leben mich lehrte, erwachsener zu werden. Ich wusste nicht, wie lange ich dort lag – vielleicht eine Stunde oder zwei. Ich schloss meine Augen und versuchte so sehr einen Grund zu finden, in Ruanda zu bleiben. Doch es gab keinen.