Читать книгу Barfuß in Deutschland - Tete Loeper - Страница 9

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In der Schule war ich nicht die Art Mädchen gewesen, das für Aufsehen sorgte, wenn es den Raum betrat, und so würde ich auch nie werden.

Ich erinnerte mich gut, wie ich gemobbt und rutwe genannt wurde, in Anspielung auf meinen großen Kopf im Verhältnis zu meinem zierlichen Körper.

Als Sonia mir ein Foto ihres reichen deutschen Freundes schickte, der wiederum von meinen Fotos fasziniert war, beschloss ich, aus meiner Opferrolle auszubrechen. Schließlich bedeutete in Europa zu leben, reich zu werden, sehr gut zu riechen und vor allem, »Diaspora« genannt zu werden, wenn ich zu Besuch nach Hause kommen würde. Diaspora war ein Name, mit dem man sich in Ruanda Respekt verschaffte. Ein Name, der einen Verwandte näherbrachte, von denen man zuvor noch nie gehört hatte, und ein Name, der ruandische Junggesellen dazu veranlasste, deine Hand auch ohne gusabagukwa und eine aufwendige kirchliche Zeremonie zu akzeptieren.

Sonias Angebot anzunehmen und nach Deutschland zu reisen, um den Mann zu treffen, den sie für mich gefunden hatte, war das einzig Richtige, das ich machen konnte. So dachte ich, als ich diese Entscheidung traf. Was sollte auch dagegensprechen? Kabibi war im Oman, Natasha war in Mosambik und Shema bereitete sich darauf vor, in der kommenden Woche nach Frankreich zu gehen.

Was hatte ich noch zu verlieren? Wenn ich mit meinem Abschluss in Marketing nach Deutschland ginge, hatte ich mir überlegt, würde ich sogar ein besseres Leben als Sonia haben. Schließlich war ich eine gebildete Frau.

Ich schrieb Sonia, dass ich ihren Freund Sebastian gerne kennenlernen würde und dass ich bereit wäre, Ruanda so bald wie möglich zu verlassen.

Schon am nächsten Tag, nachdem ich Sonias Antwort auf meine Nachricht gelesen hatte, antwortete ich ihr, dass ich mit allem einverstanden sei. Sie rief mich über Skype an, damit ich mit Sebastian sprechen konnte. Sein ungezwungenes Lächeln und seine blauen Augen, die sogar durch die Kamera leuchteten, gaben mir das Gefühl, dass ich ihn schon einmal irgendwo getroffen hatte, vielleicht in meinen Träumen. Unser Gespräch war kurz, fast ohne Worte.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

»Mir geht es gut, und dir?«, fragte ich lächelnd zurück.

»Alles gut. Sonia hat gesagt, dass du hierherkommen willst. Das ist schön.«

»Ja, ich möchte so bald wie möglich kommen«, sagte ich.

Er schaute auf seine Armbanduhr, fuhr sich mit der Hand durch sein goldbraunes Haar und entschuldigte sich, dass er das Gespräch beenden müsse. Er habe eine wichtige Besprechung. Sonia würde nun meine Reise organisieren und alle meine Fragen beantworten, die ich eventuell noch hätte.

An diesem Tag ging ich rüber zu Tante Rose und klopfte an ihre Tür. Sie war die Lieblingsnachbarin und Freundin unserer Mutter gewesen. Nach Mutters Tod war sie die einzige Person, die für uns da war, deshalb hatte ich das Bedürfnis, sie über die guten Nachrichten zu informieren. Aus ihrem Haus schallte wie immer laute ugandische Musik.

»Toni, ni amahoro? Ist alles in Ordnung?«, so begrüßte sie mich, als sie die Tür öffnete und mich nach innen zog. Ihr Kitenge-Tuch hing lose um ihre Brust, als könnte ein engeres Schnüren verhindern, dass der Sauerstoff in ihrem Körper zirkulierte.

»Ja, Tante, alles ist gut. Ich gehe nach Europa«, sagte ich stolz.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf wie jemand, der aus einem Traum erwachte. Sie sah mich mit großen Augen an. »Iburayi?«

»Ja, ich habe ein Stipendium erhalten, um meinen Master an einer deutschen Universität zu machen, und ich werde dort auch arbeiten«, log ich selbstbewusst.

»Reka sha, mbwira neza. Komm näher und erkläre es mir richtig«, sagte sie strahlend und zog mich in ihre Arme.

Wir saßen auf ihrem Bett, denn ihr Haus bestand nur aus einem Zimmer. Tante Rose hörte mir aufgeregt zu. Ich erzählte, wie Sonia für mich eine Universität in Deutschland gefunden hatte, an der ich studieren und in zwei Jahren meinen Master machen konnte. Dann erfand ich einen Cousin von Sonia, der Direktor eines internationalen Handelsunternehmens sei und bereit war, mich als seine Assistentin einzustellen. Ich erklärte, dass sich die Universität um alles kümmern würde, was mit meinem Visum zu tun hatte, und sogar meine Reisekosten bezahlen würde. Tante Rose sagte: »Wow, wabona uzanarongorwa n’umuzungu. Wahrscheinlich wirst du sogar einen weißen Mann heiraten!«

Allerdings war Tante Rose bei Sonia ein wenig skeptisch.

»Ich habe Geschichten gehört, dass Sonia in Dubai eine malaya ist«, sagte sie.

»Eine Prostituierte?«, fragte ich überrascht.

»Mm, sie haben im Karibu-Frisörsalon über sie gesprochen, als ich diese Cornrows geflochten bekam.« Sie strich sich mit der Hand über die Haare.

Ich erklärte ihr, dass Dubai nicht Deutschland ist, dass es jetzt Europa war, wo Sonia lebte.

»Tante, Europa. Iburayi«, wiederholte ich und schaute ihr in die Augen, um sicherzugehen, dass sie verstand, dass es nicht um Afrika ging, über das wir sprachen.

»Ja, natürlich kenne ich Deutschland. Das Land, das die Fußballweltmeisterschaft gewonnen hat. Richtig?«

»Das ist schon ein paar Jahre her.« Wir lachten. Tante Rose hatte eine tiefe Stimme und ein kräftiges, kratziges Lachen.

Mit nachdenklichem Blick fragte ich: »Aber Tante, interessiert es dich wirklich, was Sonia in Dubai gemacht hat, wenn sie es geschafft hat, nach Europa zu ziehen? Schau, wie sie das Leben ihrer Mutter verändert, hm?«

Tante Rose zog ihr Tuch straff und schaute mich ernst an. »Nun, ich würde dir raten, vorsichtig zu sein. Die Leute hier tratschen viel, da weiß man nie, was wahr oder falsch ist. Wenn du dort bist, konzentriere dich einfach auf dein Studium. Lass dich nicht ablenken.«

Ich fügte noch hinzu, selbst wenn Sonia eine malaya in Deutschland sei, würde das nicht bedeuten, dass ich mit ihr arbeitete. Ich hatte schließlich mein Diplom und war ein gebildetes Mädchen.

»Komm her mein Mädchen!«, sagte sie, während sie mich so fest umarmte, dass ich Angst hatte, meine Rippen würden brechen. »Knie dich hin, damit wir Gott danken.«

Ich löste mich aus ihren Armen und tat schnell so, als hätte ich mich gerade an etwas erinnert: »Ach übrigens, Tante, Tendeza ist nach Dubai gegangen. Sie hat dort einen Job als Hotelrezeptionistin gefunden.«

Tante Rose hob beide Arme, als wollte sie an die Decke fassen, und beugte sich dann nach vorn, um stattdessen den Boden zu berühren. »Segen über Segen. Gott ist gut, meine Tochter. Er antwortet zur rechten Zeit.«

Wir sprachen ein kurzes Gebet, dann ging ich.

Ein paar Tage später schickte mir Sonia alle Unterlagen, die ich von Sebastian für meinen Visumsantrag benötigte. Ich stellte die angeforderten Papiere zusammen und beantragte das Schengen-Visum. In der von Sebastian Baumann verfassten Einladung stand, dass wir drei Monate gemeinsam in Hamburg verbringen und nach Paris, Amsterdam und Venedig reisen würden. Ich erhielt von ihm eine Bestätigung über die Unterbringung, eine Reiseversicherung, eine detaillierte Reiseroute und einen Nachweis über die finanzielle Absicherung.

Der Tag, an dem die Botschaft mich anrief, damit ich meinen Pass abholte, war der schönste meines Lebens. Wochen zuvor musste ich meine Beine zwingen, sich zu bewegen, als ich zum ersten Mal dort hinging, um das Visum zu beantragen. Die Frau hinter der Glasfront, die gebrochenes Kinyarwanda sprach und es mit Englisch vermischte, hatte mir tief in die Augen geschaut, nachdem sie meine Papiere in einen Ordner abgelegt hatte. Wenn ein Blick einen Menschen zerbrechen könnte, wäre ich an diesem Tag in tausend Stücke zerfallen.

»Ist das dein Freund, den du besuchen wirst?«, fragte sie.

»Ja, ich reise erst mal nur für drei Monate.«

Sie sah mich weiter unverwandt an, während sie ihre Wasserflasche in die Hand nahm, um einen Schluck daraus zu trinken. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte die Kraft, sie um ein bisschen Wasser zu bitten. Das Schlucken des wenigen Speichels, der sich noch in meinem Mund befand, fühlte sich an, als würde ich ein Stück gekochte Kassava hinunterwürgen.

Sie blätterte noch einmal meine Unterlagen durch und sagte dann: »In Ordnung, einen schönen Tag noch. Wir werden Sie anrufen, sollten wir weitere Dokumente benötigen.«

Eine schwere Last wurde von meinen Schultern genommen, als ich mich umdrehen und die Botschaft verlassen konnte.

Als ich nun endlich meinen Pass mit dem Visumsaufkleber in der Hand hielt, nahm ich auf dem Heimweg einen Umweg über Kiyovu, weil ich Angst hatte, mir könnte mein neuer Pass gestohlen werden, wenn ich durch das Stadtzentrum fahren würde. Ich zögerte ein paar Mal, ein Motorradtaxi zu nehmen, denn ich fürchtete, dass der Wind mir den Ordner aus der Hand reißen und ein Fremder meinen Pass an sich nehmen könnte. Würde ein Fremder das Visum darin sehen, würde er mich sicher um Geld bitten, bevor er ihn mir zurückgäbe. Ich tastete von Zeit zu Zeit nach meinem Pass und ließ ihn von meiner Handtasche in die Tasche meiner Jeans wandern, bis ich beschloss, dass es am sichersten wäre, ihn fest in den Händen zu halten. Ich zwickte mich, um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. An diesem Tag lächelte ich jeden und alles an, was meinen Weg kreuzte.

Da Europa bedeutete, reich, nobel und zivilisiert zu sein, musste ich mich entsprechend vorbereiten. Um nicht wie vom Dorf auszusehen, wenn ich in Deutschland ankam, begann ich langsam, mich zu »europäisieren«, wie Tante Rose es nannte. Ich übte mich in der Kunst, europäisch zu sein. Ich ging zum besten Schneider am Kimironko-Markt und bestellte ein schwarzes Kostüm und eine dazu passende weiße Bluse. Die Schneiderin nahm meine Maße. Ich sagte ihr, dass es sehr dringend sei, und so rief sie mich bereits nach wenigen Tagen an, damit ich zum Abholen kam. Natürlich musste ich ihr einen Sonderpreis zahlen. Aber wen interessierte das noch? Ich zog nach Europa, also machte ich mir keine Sorgen darum, meine Ersparnisse auszugeben. In meinem Kostüm sah ich aus wie eine Bankmanagerin oder noch besser, wie die Chefin vom FBI in Fernsehkrimis.

Ich hatte noch nie Schuhe mit hohen Absätzen getragen oder gar besessen, aber für Europa war es den Versuch wert. Sich europäisch zu kleiden, war ein Muss. Um mich im Schuhgeschäft nicht lächerlich zu machen, weil ich nicht wusste, wie man auf hohen Absätzen läuft, beschloss ich, einfach Schuhe in meiner Größe zu kaufen, ohne sie anzuprobieren. Ich wählte rote High Heels. Der Verkäufer bestand darauf, dass ich sie erst anprobierte, aber ich weigerte mich. Ich überzeugte ihn, dass ich genau das gleiche Paar bereits in Schwarz besäße, deshalb wüsste ich sehr wohl, was ich kaufte. Abends übte ich zu Hause vor dem Schlafengehen den Catwalk auf hohen Absätzen. Mit der Zeit wurde ich immer besser.

Schließlich war es so weit. An einem Sonntagabend fuhr Tante Rose mit mir im Taxi zum Flughafen, sie hatte sogar angeboten, es zu bezahlen. Als wir uns umarmten und voneinander verabschiedeten, entfernte ich die SIM-Karte aus meinem Mobiltelefon und überreichte es ihr. »Tante, dieses Telefon wird besser sein als deines, oder? Und außerdem kann ich dir sonst keine Fotos von Europa schicken!«

»Oh, vielen Dank, Toni.«

»Es hat WhatsApp – deine Tochter Joy wird dir zeigen, wie man es benutzt. Ich bin sicher, sie weiß, wie.«

Ich gab ihr gefühlt Hunderte Versprechen. Ich war entschlossen, es in Europa zu schaffen. Ich wollte arbeiten, studieren und das Leben mit Sebastian genießen, Tante Rose Geld schicken und nach Dubai reisen, um dort eine gute Zeit mit meiner kleinen Schwester zu verbringen.

Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was vor mir lag.

Barfuß in Deutschland

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