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2 Wissenschaftliche Erklärungsansätze zur Entstehung von Aggression und Gewalt

Um präventiv gegen die Entstehung von Aggression und Gewalt im Pflegebereich vorgehen zu können, muss man zuerst verstehen, welche Auslöser dafür verantwortlich sind.

In der Aggressionsforschung gibt es drei große Theorien, die sich mit der Entstehung von Aggression und Gewalt beschäftigen.

2.1 Triebtheorien nach Sigmund Freud und Konrad Lorenz

Sowohl Freud als auch Lorenz gingen davon aus, dass Aggression ein angeborener Trieb ist, der sich in jedem Wesen aufstauen kann und spontan und unkontrolliert entladen wird. Triebe dienen der Lebens-, Art- und Selbsterhaltung.

Sigmund Freud erfasste in seiner Triebtheorie (Freud 1905/1961) Kräfte, die das psychische Geschehen bestimmen, um der Selbsterhaltung zu dienen. Diese äußern sich in körperlicher Anspannung. Die Aggression staut sich auf, um sich dann spontan und unkontrolliert zu entladen. Er betrachtet Aggression als Teil des lebenszerstörenden Todestriebes (Thanatos), der in jedem Menschen wohnt. Dem gegenüber steht der lebenserhaltende Trieb (Eros). Ziel der Triebimpulse ist es, unlustvolle Reizzustände zu beenden.

Konrad Lorenz betrachtet Aggression als Instinkt. Ausgehend von Tierbeobachtungen entwickelte Lorenz das psychohydraulische Energiemodell (Lorenz 1937). Aggression staut sich an und strebt ständig nach außen. Folgt ein auslösender Reiz führt dieser zu aggressiven Verhaltensweisen. Je stärker der Reiz oder die Motivation ist, desto stärker fällt die Reaktion aus. Ein sehr starker Reiz kann auch bei fehlender Motivation eine Reaktion auslösen und umgekehrt.

Beispiel

Herr G. war lebenslang begeisterter Marathonläufer. Das Laufen half ihm Stress und Ärger abzubauen. Nach einem Schlaganfall ist Herr G. halbseitig gelähmt und auf Hilfe angewiesen. Sein Hobby kann er nicht mehr ausüben. Stress und Ärger stauen sich in ihm an.

2.2 Die Frustrations-Aggressions-Hypothese

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard 1939) besagt, dass Aggression immer ein Resultat von Frustration ist. Je größer die Frustration, desto größer die Aggression (proportionale Entwicklung). Möchte eine Person ein Ziel erreichen, und wird ihr dabei durch äußere Einflüsse ein Hindernis in den Weg gestellt, verändert die Frustration darüber den Erregungszustand der Person und es kommt zu körperlicher Anspannung. Aggression kann sie wieder zum Normalzustand zurückführen und als Erleichterung angesehen werden. Diese Hypothese wurde von Miller (Miller 1941) weiterentwickelt. Er geht davon aus, dass Frustration lediglich als Anreiz für Aggression dient. Die individuelle Frustrationstoleranz muss berücksichtigt werden. Unterbindet man die Ausübung der Aggression kommt es zu einer Verschiebung der Aggression auf andere Personen oder Dinge.

Beispiel

Frau M. strickte früher leidenschaftlich gerne Socken. Für ihre Enkelin möchte sie gerne ein Paar Socken herstellen. Da sie ihre Finger wegen einer Gichterkrankung kaum noch bewegen kann, ist es ihr nicht möglich zu stricken. Stark frustriert fängt sie an, das Strickzeug auf den Tisch zu hauen. Die Pflegerin Frau O. nimmt es ihr aus der Hand. Wütend fegt Frau M. das volle Wasserglas vom Tisch.

2.3 Lerntheoretische Erklärungsmodelle – Theorien des sozialen Lernens

2.3.1 Modelllernen, soziales Lernen oder Lernen durch Beobachtung

A. Bandura (Bandura 1976) geht davon aus, dass aggressives Verhalten erlernt wird. Das eigene Verhalten wird durch Nachahmung erfolgreicher Vorbilder erworben (Lernen am Modell). Die Person eignet sich das beobachtete »erfolgreiche« Verhalten an, speichert es ab, um es später in einer geeigneten Situation abzurufen. Das erlernte Verhalten kann auch auf völlig unterschiedliche Situationen übertragen werden. Modelle (Personen) zu denen der Beobachtende eine gute Beziehung hat, Personen die er liebt oder die einen höheren sozialen Status haben eignen sich besonders, um das Verhalten zu kopieren. Pflegende und betreuende Personen haben hier eine Vorbildfunktion. Ihr Verhalten untereinander, den Angehörigen und Patienten gegenüber ist mitverantwortlich für die Entstehung von Aggressionsmustern.

Beispiel

Der geistig behinderte F. möchte sich nie duschen lassen. Die Betreuungskraft muss deshalb mit lauter Stimme und mit starkem Nachdruck, dazu auffordern sich zu entkleiden und duschen zu lassen.

Eine Pflegeschülerin beobachtet ihre ältere Kollegin dabei, wie sie einen Patienten anschreit, damit er bei der morgendlichen Dusche stillhält. Daraufhin leistet er keinen Widerstand mehr. Die junge Pflegeschülerin wird wahrscheinlich auch dieses »erfolgreiche« Verhalten anwenden, wenn sie das nächste Mal mit dem Patienten alleine ist.

Zusammengefasst unterteilt sich das Lernen am Modell in vier Abschnitte:

• Aufmerksamkeit: Der Beobachter konzentriert sich genau auf sein Vorbild. Verhaltensweisen, die zum Erfolg führen werden besonders beachtet.

• Behalten: Das beobachtete Verhalten wird im Gedächtnis gespeichert.

• Reproduktion: Der Beobachter erinnert sich an das gespeicherte, erfolgreiche Verhalten und ahmt es in einer geeigneten Situation nach.

• Verstärkung und Motivation: Schon bei den ersten Fortschritten und Erfolgen verstärkt sich das erlernte Verhalten.

2.3.2 Versuch- und Irrtum-Methode (Lernen aus Erfahrung)

Geprägt wurde diese Methode von Jennings und Holmes (Musseler 2002) Um ein angestrebtes Ziel zu erreichen, »probiert« eine Person so lange verschiedene Lösungsmöglichkeiten aus, bis sich der gewünschte Erfolg einstellt. Fehlschläge werden bewusst in Kauf genommen. Erlebter Erfolg/Misserfolg führt zu einer Verstärkung/Verminderung aggressiven Verhaltens.

2.4 Weitere Erklärungen

2.4.1 Gewaltendreieck nach Galtung

Der Soziologe und Friedensforscher Johan Galtung (Galtung 2007) unterscheidet in seinem Modell drei Formen der Gewalt:


Abb. 1: Gewaltendreieck nach Galtung (Galtung 2007)

Alle drei Formen der Gewalt treten gemeinsam auf und beeinflussen sich gegenseitig.

Indirekte (strukturelle) Gewalt geht nicht von einer bestimmten Person aus, sondern ist in unserem Gesellschaftssystem verankert und wirkt sich so indirekt auf die Handlung von Personen aus (z. B. Personalmangel in Pflegeeinrichtungen, Kosten- und Zeitdruck bei der Pflege).

Direkte (personale) Gewalt wird direkt von einer Person ausgeübt, mit der Absicht der Schädigung einer anderen Person oder Sache. (z. B. Drohungen, Misshandlungen).

Kulturelle Gewalt dient dazu, strukturelle und personale Gewalt zu legitimieren bzw. durch den gesellschaftlichen Hintergrund zu rechtfertigen. (z. B. Rollenbilder, Akzeptanz von Gewalt, Mentalität).

Beispiel

Pflegeberufe sind in der Gesellschaft nicht allzu hoch angesehen und werden schlecht bezahlt. Pflegekräfte haben den Ruf schlecht ausgebildet zu sein (kulturelle Gewalt). In unserem Gesellschaftssystem wird nur nach Gewinn und Rentabilität gearbeitet. Die Pflegekräfte unterliegen einem strikten Zeitmanagement und haben deshalb für die Patienten wenig Zeit (strukturelle Gewalt). Die Pflegerin Frau S. ist überarbeitet und ständig im Stress. Wegen des geringen Verdienstes muss sie morgens noch Zeitungen austragen. Mit Drohungen versucht sie, die zu pflegenden Bewohner zur Mitarbeit zu bewegen (personale Gewalt).

2.4.2 Motivationstheorie

Die Motivation eines Menschen eine Handlung auszuführen, wurde im Lauf der Forschung zuerst auf angeborene Instinkte zurückgeführt. Später ging man davon aus, dass die Motivation eng mit Bedürfnissen und Emotionen verbunden ist.


Definition Motivation

Das Lexikon der Psychologie (Pschomeda 2016) definiert Motivation folgendermaßen: »Die Motivation ist ein nicht direkt beobachtbares psychologisches Konstrukt, das die Bereitschaft eines Menschen beschreibt, Zeit, Energie und Arbeit zu investieren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wer hoch motiviert ist, strengt sich mehr an, ist ausdauernder, nimmt eher Schmerzen in Kauf und hält auch nach Rückschlägen an seinen Zielen fest.«

2.4.3 Erweitertes kognitives Motivationsmodell nach Heckhausen

Der deutsche Psychologe Heinz Heckhausen (Heckhausen 1980) untersucht in seinem Modell den Ablauf von Motivation und Handlung. Vier Elemente spielen dabei eine wichtige Rolle:

1. Wahrgenommene Situation

(Annahme, wie das Ergebnis ausfallen wird, wenn die Person nicht eingreifen wird.)

Beispiel

Patient P. kann nach einem Schlaganfall die rechte Hand nicht mehr wie gewohnt einsetzen. Die selbständige Nahrungsaufnahme wird dadurch erschwert. Nach seinem Krankenhausaufenthalt ist deshalb eine Physiotherapie vorgesehen.

2. Mögliche Handlung

(Mit welcher Wahrscheinlichkeit führt das Handeln zum Erfolg?)

Beispiel

Patient P. hat Aussichten, mit Hilfe der Physiotherapie wieder selbständig essen zu lernen.

3. Ergebnis der Handlung

Beispiel

Er ist hoch motiviert und kann die Hand wieder einsetzen.

Ein weiterer Bestandteil des Modells ist ein Fragenkatalog, aus dem man ableiten kann, ob eine Person handeln wird:

a) Ist das Ergebnis der Handlung bereits festgelegt?

b) Kann ich das Ergebnis der Handlung beeinflussen?

c) Ist mir das Ergebnis meines Handelns wichtig genug?

d) Bringt das Ergebnis auch die gewünschten Folgen mit sich?

Werden die Fragen b–d mit »nein« beantwortet, wird eine Person wahrscheinlich nicht handeln.

Aggression in der Pflege

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