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Ganzer

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Wohl hab ich euer Grüßen,

Ihr Ahnen mein, gehört;

Eure Reihe soll ich schließen,

Wohl mir, ich bin es wert.

Mit Tramnitz haben wir unsre Wanderungen an »Rhin und Dosse« beendet und kehren nunmehr auf die große Straße zurück, um mit Hülfe derselben das Ruppiner Plateau von West nach Ost oder von der Prignitz bis zur Uckermark hin zu durchschneiden. Die Dörfer und Städte, denen wir auf dieser Querlinie begegnen werden, sind Ganzer, Gottberg, Kränzlin, Lindow und Gransee.

Zunächst Ganzer, ehemaliger Besitz der Familie Wahlen-Jürgaß, etwa zwei Meilen westlich von dem Zietenschen Wustrau.

Beide Familien, die Zieten und die Jürgaß, waren recht eigentlich ruppinsche Geschlechter, seßhafte Leute, die, durch die Jahrhunderte hin, schlicht gelebt und treu gedient und den Boden ihrer Väter in Ehren gehalten hatten. Hans Zieten zu Wildberg, wie schon in unsrem Wustrau-Kapitel hervorgehoben, war Geschworner Rat des letzten Grafen zu Ruppin und begleitete diesen auf den Wormser Reichstag, um dieselbe Zeit aber saßen auch schon die Jürgaß auf Ganzer und werden 1525 urkundlich genannt. Von da ab gehen die Zieten auf Wustrau und die Jürgaß zu Ganzer in Leid und Freud mit- und nebeneinander, um schließlich auch, wie ein altes Paar, gemeinschaftlich in den Tod zu gehen. Nur um anzudeuten, wie vielfach beide Familien versippt und verschwägert waren, stehe hier das Folgende. Die Mutter des berühmten alten Zieten war Ilsabe Katharina von Jürgaß aus dem Hause Ganzer (geboren 1666), und die erste Frau des alten Zieten war wiederum eine Jürgaß (Leopoldine Judith, geboren 1703). Aus dieser Ehe, zwischen Hans von Zieten und Judith von Jürgaß, ward eine Tochter geboren, Fräulein Johanna von Zieten, die sich mit Karl von Jürgaß vermählte, der seinerseits wieder ein Sohn Joachims von Jürgaß aus seiner Ehe mit Luise von Zieten war.

Man wird an diesem einen Beispiel erkennen, daß die Verwandtschaft oft fünf- und sechsfach und in ihren verschiedenen Graden gar nicht mehr zu verfolgen war. Es waren nur noch zwei Familien dem Namen nach, während längst dasselbe Blut in den Adern hüben und drüben floß.

Ganzer selbst ist ein noch übriggebliebenes Musterstück aus jener Zeit her, wo die Dörfer im Ruppinschen, oder doch viele von ihnen, nicht aus einem Rittergute, sondern aus zwei, vier und selbst sechs Edelhöfen bestanden, die dann freilich sehr viel mehr einem Bauernhof als einem Rittergute glichen. Auch Ganzer gehörte seinerzeit vier Familien, und zwar den von Jürgaß, von Rohr, von Kröcher und von Wuthenow, aus welcher Vierteilung später eine Zweiteilung ward, indem der ganze Grundbesitz, durch Kauf oder Tausch oder Erbschaft, an die Rohr und die Jürgaß überging. Das war ohngefähr zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, und diesen Charakter eines zweigeteilten Besitzes hat sich das Dorf in einer so markanten und zugleich so malerischen Weise gewahrt, wie mir kein zweites Beispiel in der Grafschaft bekannt geworden ist.

Wir halten vor dem Dorfeingang und schwanken, ob wir unser Fuhrwerk nach links oder rechts hin lenken sollen, denn scharf einander gegenüber erblicken wir zwei Krugwirtschaften, jede mit dem üblichen Vorbau, jede mit einer Anzahl Stehkrippen und jede mit einem Wirt in der Tür. Wir entscheiden uns endlich für links und sind infolge dieser Wahl, ohne Wissen und Wollen, auf der Rohrschen Seite gelandet.

Der Damm oder Fahrweg macht die Grenze: was links liegt, ist alt-Rohrscher, was rechts liegt, alt-Jürgaßscher Besitz. Jede Seite hat ihr Herrenhaus und ihren Park, und nur die Dorfgasse samt Kirchhof und Kirche bildet das beiden Hälften Gemeinschaftliche.

Wir haben im Krug ein Gespräch angeknüpft und über die beiden alten Herren von Jürgaß, zwei Brüder, die nun seit dreißig Jahren und länger das Zeitliche gesegnet haben, ein wenig zu plaudern gesucht, aber sei's nun, daß unser Wirt, als »Rohrscher«, sich um die Jürgasse drüben nie recht gekümmert hat, oder sei's andererseits, daß all die zwischenliegenden Aussaaten und Ernten ihre Bilder in seiner Erinnerung etwas abgeblaßt haben, gleichviel, seine Mitteilungen beschränken sich darauf, »dat de een en beten streng wör« und »dat de anner et ümmer wedder goodmoaken un 'n Daler gewen deih«. »Awers« – so schloß er – »he gäw en ümmer so, dat de Broder nix merken künn.«

Wir verabschieden uns nun und treten auf die malerische Dorfgasse hinaus. Links vom Wege, von hohen Ulmen und Linden umstellt, schimmern die weißen Wände des alten Rohrschen Herrenhauses (eines weitschichtigen Fachwerkbaus mit schwerfälligen Flügeln und Doppeldach), das halb gemütlich, halb spukhaft dreinblickt, je nach der Stimmung, in der man sich ihm nähert, oder nach der Beleuchtung, die zufällig um die Kronen der alten Ulmen spielt. Dem Rohrschen Herrenhause folgt dann die Kirche samt Schulhaus und Predigerhaus, zwischen denen ein Garten in leiser Schrägung ansteigt. Es summen Bienen drüberhin, und träumerisch die Steige verfolgend, stehen wir plötzlich, statt zwischen Beeten, zwischen Gräbern. Unwissentlich haben wir den Schritt aus Leben in Tod getan.

Die frühgotische Kirche hat einen Schindelturm aus späterer Zeit. Ihr Inneres ist einfach und erhält nur durch die Zweiteilung, der wir sofort auch hier wieder begegnen, einen bestimmten Charakter. Links die Rohrsche, rechts die Jürgaßsche Seite: hier ein paar Rohrsche Galanteriedegen aus der Zeit der Zöpfe, dort ein Jürgaßscher Säbel und Federhut aus der Zeit der Freiheitskriege, hier eine Rohrsche Familiengruft, dort eine Jürgaßsche. Die Jürgaßsche gleicht mehr einer in gleicher Höhe mit dem Kirchenschiffe befindlichen Grabkammer, durch deren Fensterchen man die dahinter aufgeschichteten Särge zählen kann. Anders die Rohrsche Gruft. Über ihrer Eingangstür erhebt sich eine vortreffliche Marmorbüste (vielleicht von Glume), die wohl eine andere Inschrift als die folgende verdient hätte: »Bedaure und verehre, billiger Wandersmann, hier noch die Asche eines Ruhmwürdigen, eines im Leben Gerechten, im Tode Unverzagten, dessen Rat Land und Leuten treulich geraten, aber wider des Todes allgemeinen Einbruch als eines Landrats (das heißt, trotzdem er ein Landrat war) nichts vermochte. Seine Schwachheit und Stärke siegen zugleich. Seine Stärke durch weisen Rat wider die Unsterblichkeit. Darum stößt die Fama durch Posaunen noch seinen Ruhm aus, und die flüchtige Zeit kann seine ruhmwürdigen Taten nicht verbergen noch zernichten. Sein Lorbeerkranz grünt mitten unter Zypressen, und sein Palmbaum trägt Früchte in Apollens Garten, wo Mars ihm von ferne steht und den Zutritt scheuet wie ein Unbekannter. Die Schwachheit siegt durchs Alter und trägt die Krone des Lebens im Glauben davon am Ende.«

Die Jürgaßsche Gruft ist ohne Schmuck und Bild, aber draußen auf dem Kirchhofe, zwischen Blumen und Gräbern, steht ein mächtiges Monument das nicht einem einzelnen Toten, sondern dem ganzen aus diesem Leben geschiedenen Geschlecht errichtet ist. Die beiden letzten Jürgasse, »de strenge un de gode Herr«, wiesen in ihrem Testament eine bedeutende Summe zur Aufführung desselben an, und mit Gewissenhaftigkeit sind die Vollstrecker des Testaments diesem Letzten Willen nachgekommen. Es ist kein eigentliches Grabmal, sondern, wie schon hervorgehoben, ein mehr architektonisch gehaltenes Monument und stellt auf einem hohen Postamente von Sandstein, dem als nächstes ein Eisenwürfel folgt, eine baldachinartige, nach allen vier Seiten hin geöffnete Nische dar, in der, gesenkten Blickes, ein Engel des Friedens steht. Der Eisenwürfel ist mit Inschriften überdeckt. Was im Durchlesen dieser Inschriften am meisten überrascht, ist, daß die beiden letzten Jürgaß einer überaus zahlreichen Familie von acht Brüdern und einer Schwester angehörten, daß aber alle acht Brüder starben, ohne Kinder hinterlassen zu haben. Ein neuer Beweis, wie der Prozeß des Lebens nach frischem Blute verlangt.

Von den Inschriften mögen hier nur die beiden stehen, die, für länger oder kürzer, die Namen der beiden letzten Jürgasse der Nachwelt erhalten werden.

Auf dem Seitenfelde zur Linken lesen wir wie folgt: »Herr Alexander Konstantin Maximilian von Wahlen-Jürgaß, königlich preußischer Generallieutenant von der Kavallerie, Drost zu Stückhausen, Ritter vieler hoher Orden, Erbherr auf Triglitz, geboren den 15. Junius 1758 zu Ganzer, focht von 1778 bis 1816 in allen preußischen Kriegen, wohnte sechsundzwanzig Schlachten und Hauptgefechten bei, ward bei Hainau durch den Schenkel und bei Ligny durch die Brust geschossen. Ein Muster der Tapferkeit und der Herzensgüte, geehrt und geliebt von seinem Könige und von jedermann, starb er zu Ganzer den 8. November 1833.« (Dies ist »de gode Herr«.)

Auf dem Seitenfelde zur Rechten begegnen wir einer doppelten Grabschrift, und zwar der des letzten Jürgaß und seiner Gemahlin, der letzten Zieten aus dem Hause Wustrau. Jene lautet: »Franz Karl Wilhelm Rudolf von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Ganzer und Triglitz, ward geboren den 14. September 1752 zu Ganzer und verstarb daselbst, im zweiundachtzigsten Jahre, den 26. Juni 1834, als das letzte Glied seiner Familie. Er war der treuste Freund seiner Freunde, und alle, die ihn näher kannten, schätzten ihn hoch.« (Dies ist der ältere Bruder, »de en beten streng wör«.) Die andere Inschrift lautet: »Frau Johanna Christiana Sophie von Wahlen-Jürgaß, geborne von Zieten aus dem Hause Wustrau, ward geboren den 23. Januar 1747 und ehelich verbunden am 23. Oktober 1776 mit Karl von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Ganzer und Triglitz. Ein Muster weiblicher Tugenden und Größe, entschlief sie sanft den 7. Juni 1829.«

Diese Frau von Jürgaß, zugleich die letzte Zieten aus dem Hause Wustrau, hat uns vorzugsweise nach Ganzer geführt, und voll Erwartung, in dem Dorfe, darin sie so lange lebte, noch ihrem Andenken zu begegnen, treten wir jetzt von dem Kirchhof aus auf den Fahrdamm zurück und setzen unsere Wanderung bis zum alten Jürgaßschen Herrenhause fort. Ein Heckenzaun trennt das Haus von der Gasse, von rechts her lehnen sich Wirtschaftsgebäude, von links her hohe Parkbäume bis dicht an den Giebel und geben ein freundliches Bild, aber doch zugleich auch ein Bild äußerster Schlichtheit, und wären nicht ein paar Edeltannen und die Malven, die, hoch am Stock gezogen, ein Stück englischen Rasen umstellen, man würd eine kleine Pachterswohnung, aber keinen Edelhof hinter diesem Heckenzaune vermuten. Und eine Pachterswohnung ist es auch seit des letzten Jürgaß Tode. Wir treten ein und werden freundlich empfangen. Eine junge Frau kommt unsrer Neugier entgegen, zeigt uns Küch und Keller, auch das Zimmer, wo General Blücher geschlafen, und führt uns endlich in den Park hinaus, auf dessen sonnigem Grün die Schatten der leise bewegten Zweige hin und her tanzen. Wir nehmen Platz unter einer breitblättrigen Platane, wo Tisch und Bank zum Plaudern einladen, und während allerhand Erfrischungen, und darunter, als die willkommenste, Milch und Blaubeeren, auf den Tisch gestellt werden, geselle sich uns eine Anverwandte des Hauses, eine schlanke, nicht mehr junge Dame mit dunklen Augen und feingeformtem Mund. Die Pachtersfrau, die bis dahin die Kosten der Unterhaltung mühsam bestritten, ist augenscheinlich froh über den eintreffenden Sukkurs, und mit einem kurzen »Tante Helene weiß alles« ihren Rückzug antretend, eilt sie wieder ins Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Und nun sind wir allein, und »Tante Helene« legt ihren breiten Sommerhut beiseite, entweder weil wir im Schatten sitzen oder vielleicht auch, um die Schönheit ihres schwarzen Haares zu zeigen, und während sie mit dem Band am Hute spielt, beginnen meine Fragen. Aber wir verirren uns immer wieder in unsrem Gespräche, sind bald in Wustrau bei den Zietens, bald in Trieplatz bei den Rohrs, bis sie mir die Hand über den Tisch reicht und mit gewinnender Freundlichkeit zuruft: »Es wird nichts; plaudern wir lieber, wie der Zufall es will. Ich erzähl Ihnen brieflich, was Sie wissen wollen. Und seien Sie sicher, ich halte Wort.«

Und sie hielt Wort, und nach kurzer Zeit schon empfing ich folgenden Brief: »Ich habe sie gut gekannt die Frau von Jürgaß, besser vielleicht als irgendwer. Sie nahm mich zu sich, als ich eine Waise geworden war, und so kam ich aus dem Pfarrhaus ins Herrenhaus hinüber. Meine Mutter hab ich nie gekannt, sie starb bei meiner Geburt; aber hätt ich sie auch gekannt, ich hätt ihre Liebe kaum vermissen können, so gut wie die gnädige Frau gegen mich war! Sie war sehr klein und sehr häßlich, und doch mußte man sich immer wieder fragen, ob sie denn wirklich so häßlich sei. Sie hatte kleine blaue Augen, eine wunderbare Nase und gelbe Löckchen, auf denen eine Turmhaube saß. Es ist wahr, sie sah sehr altfränkisch und beinah komisch aus, und doch lachte niemand über sie, dazu war sie zu gut und zu gescheit. Sie besaß aber auch zwei Schönheiten: perlenweiße Zähne, die sie bis zuletzt behielt, und kleine weiße Hände, die mit Ringen überdeckt waren. Ich fühlte mich immer geehrt, wenn ich eine dieser Hände küssen durfte. Sie litt es aber nur selten.

Außer der hohen Haube trug sie Hackenschuhe mit hohen Absätzen. Mitunter, wenn ich die Turmhaube und die hohen Absätze sah, zwischen denen sich die kleine Frau bewegte, kam sie mir noch kleiner vor, als sie wirklich war. Sie liebte ihren Mann und verehrte ihren Schwager, den alten General, und beide vergalten es ihr und trugen sie auf Händen. Es war ein Leben, wie ich es nie wieder gefunden habe, und ich habe doch viele Menschen und viele Häuser gesehen. In Winterzeit, wenn die Wege verschneit und die Freunde ausgeblieben waren, saßen wir oben im Ecksaal und spielten ›Gesellschaft‹. Frau von Jürgaß nahm dann Platz auf dem Sofa, die doppelarmigen Leuchter wurden angezündet und ich durfte nun neben ihr sitzen auf einem großen, alten Fußkissen, darauf der Alte Fritz gestickt war. War alles vorbereitet, so gab sie mir ein Zeichen oder klingelte; dann mußt ich aufspringen und den General von Jürgaß anmelden. Der alte General trat dann auch wirklich herein oder erhob sich von dem Stuhl, auf dem er bis dahin gesessen, und küßte der Gnädigen die Hand, fragte nach ihrem Befinden und nach ihres Bruders Befinden drüben in Wustrau, und eh zwei Minuten um waren, waren sie im lebhaftesten Gespräch über die alte Zeit. Alle Ereignisse, die sie seit fünfzig Jahren zusammen durchlebt hatten, wurden nun wieder durchgeplaudert wie etwas Neues, Fremdes, wovon man die Mitteilung wie eine Ehre anzusehen und deshalb mit Dank und Teilnahme entgegenzunehmen hat. Dann brachen sie plötzlich ab, lachten herzlich, schüttelten sich die Hände und holten das Dambrett herbei, um Schlagdame oder Toccadille zu spielen. Ich muß Ihnen gestehen, es ängstigte mich damals mitunter, die beiden alten Leute so zeremoniell miteinander verkehren zu sehn, und ich dachte dann wohl, sie wären tot und ihre Gespenster kämen zusammen, um an alter Stelle nach alter Weise zu sprechen. Aber ich habe später in andern Häusern oft denken müssen: ›Ach, wenn doch Mann und Frau hier, oder Schwager und Schwägerin, nur ähnliche Gesellschaftsspiele spielen wollten!‹ Und mir fiel dann immer das Wort ein, das Frau von Jürgaß einmal zu mir gesagt hatte: ›Gute Gewohnheiten wollen geübt sein; sie rosten sonst.‹ Dies zeremonielle Wesen schloß übrigens gesellschaftliche Freiheit nicht aus, ja, bedingte sie vielleicht und ich bewunderte Frau von J. jedesmal, wenn, sie, sobald Besuch von den Gütern oder gar aus der Hauptstadt eintraf, die Honneurs des Hauses machte. Den beiden alten Herren an Witz und Wissen sehr überlegen, hätte sie's leicht gehabt, auf ihre Kosten die geistreiche Wirtin zu machen, aber wenn abends beim Souper die alten Anekdoten von Hainau und Katzbach und Vater Blücher zum wer weiß wievielsten Mal erzählt wurden, hörte sie aufmerksam zu und suchte nur durch eine geschickte Wendung der alten Geschichte eine neue Pointe zu geben. Sie war ganz ihres Vaters Tochter: klein, unansehnlich und unschön, aber fromm und mutig und pflichttreu, und wie ihr Vater gestorben war, so starb auch sie, ruhig, hochbetagt und ohne die Bitterkeit des Todes zu fühlen. Sie schlief sanft hinüber. Einen der Ringe, mit denen ich als Kind spielen durfte, wenn ich neben ihr auf dem gestickten Kissen saß, hat sie mir vermacht, aber es hätte dieses Zeichens nicht bedurft um ihrer immer in Dankbarkeit zu gedenken.«

Am 7. Juni 1829 starb des alten Zieten Tochter, am 29. Juni 1854 starb des alten Zieten Sohn. Ein Feldstein ohne Spruch und Inschrift deckt das Grab des letzten Zieten aus der Linie Wustrau, das Monument aber, das zu Ehren des letzten Jürgaß und seines mit ihm ausgestorbenen Geschlechtes errichtet ist zeigt auf dem schmalen Eisenstreifen, der die vier Pfeiler der Nische trägt den schönen Spruch: »Der Herr hat sie zu einem beßren Leben berufen, wo sie sich der Herrlichkeit unsres Erlösers erfreuen.«

Noch einmal:

Frau von Jürgaß, geborene von Zieten

Zehn Jahre nachdem das vorstehende Kapitel geschrieben und eine Charakterskizze der alten Frau von Jürgaß versucht wurde, ging mir durch Frau von Romberg, geborne Gräfin von Dönhoff († 1879) eine zweite, denselben Gegenstand behandelnde Schilderung zu, der ich nachstehendes entnehme.

»Als ich im Jahre 1818, eben verheiratet, nach dem Rombergschen Gute Brunn, in der Grafschaft Ruppin, zog, lernte ich Frau von Jürgaß, die Tochter des berühmten ›alten Zieten‹, auf ihrem benachbarten Gute Ganzer kennen. Sie war schon hochbetagt, und ich kann also von dem, was zurücklag, wenig oder nichts berichten. Ich weiß weder das Jahr ihrer Geburt, noch wo und wie sie ihre Kindheit und Jugendjahre verbrachte, nicht einmal, an welchem der Berliner Höfe sie als Hofdame fungierte, bevor sie sich (nicht mehr in der ersten Jugendblüte) mit ihrem fünf Jahre jüngeren Manne, dem damals sehr schönen und von ihr mit schwärmerischer Liebe geliebten Karl von Jürgaß, vermählte, mit dem sie dann auf sein nicht großes, aber hübsches und einträgliches Landgut Ganzer zog. Oft erzählte sie mir später von der Verlegenheit, mit der sie sich – ein verwöhntes und jeder häuslichen Sorge völlig überhobenes Hoffräulein – plötzlich an der Spitze einer großen Landwirtschaft befunden habe, deren ganzer Betrieb ihr fremd gewesen sei. Schnell aber war ihr Entschluß gefaßt, sich unbefangen in die Lehre einer tüchtigen Haushälterin zu geben, um nun, gleichsam von der Pike an, bis zur Hausfrau hinaufzudienen. Keine Arbeit war ihr dabei so niedrig oder so schwer, daß sie sie nicht mit eigenen Händen angegriffen hätte, jedem Dienstboten lernte sie die Kunstgriffe seines besonderen Amtes ab und gelangte so sehr bald dazu, sich sowohl den klaren Überblick über das Ganze wie die genaue Kenntnis aller Einzelnheiten zu verschaffen. Ich denke, es war nach Jahresfrist, daß sie sich selbst das Zeugnis ausstellen konnte, Herrin der Situation geworden zu sein. Und nun folgte der zweite energische Schritt: die gesamte Dienerschaft, von der obersten bis zur letzten Stufe, wurde mit einem Schlage entlassen und durch eine ganz neue und fremde Schicht ersetzt. Denn keiner im Hause sollte die Herrin als Schülerin gekannt haben, vielmehr sollte der alleinigen Autorität ebendieser durch Kenntnis des Voraufgegangenen kein Abbruch geschehen. Sofort ging es jetzt ans Befehlen und Selbstregieren, und kein Feldherr hat wohl je seinen Kommandostab sicherer geführt als diese echte Soldatentochter. Bald war ihr Haushalt als der Musterhaushalt der Gegend bekannt, und alle jungen Frauen auf den Rittergütern erholten sich Rat bei ihrer unbestrittenen Autorität. Dabei war ihr Haus bald das gastlichste in der durch ihre Gastlichkeit berühmten Gegend und hielt doch gleichzeitig den einfachen Charakter der Zeit sowohl in der Ausstattung der Zimmer als auch im Hinblick auf die zwar stets überreichliche, aber nie künstlich verfeinerte Bewirtung fest. Zu Tisch ward man per carte auf eine ›freundschaftliche Suppe‹ geladen, die sich dann freilich zu einer Masse von Gängen und Schüsseln erweiterte; aber immer nur treffliche Hausmannskost. Ein einziger alter Diener (Christoph) war das Faktotum des Hauses, und gebrach es an bedienenden Händen, so griffen die Hausmädchen zu. Mit patriarchalischer Naivetät benachrichtigte die treffliche Frau ihre Nachbarn und Nachbarinnen von den bevorstehenden Wasch- und Schlachttagen, um in diesen ganz von ihr geleiteten ›großen Aktionen‹ durch keine Besuche gestört zu werden. Ja, dem Wurstmachen räumte sie sogar ihre sehr einfach ausgestatteten Wohnstuben ein.

Als ich die treffliche Frau kennenlernte (die auch mir später eine mütterliche Ratgeberin wurde), muß sie schon hoch in den Siebzigern gewesen sein, aber sie zeigte sich noch in voller, rüstiger Lebenskraft, alle Jüngeren durch ihre Tätigkeit beschämend. Sie war immer die erste, die im Hause erwachte, ging umher, um alle Dienstboten aus dem Schlafe zu wecken, und erst wenn das tägliche Uhrwerk im Gange war, legte sie sich noch einmal auf ein Stündchen zur Ruh.

Sie war von kleiner, kräftiger, untersetzter Gestalt, dem ›alten Zieten‹ auf dem Wilhelmsplatze wie aus den Augen geschnitten. Der Ausdruck von Klugheit und Energie, der ihr eignete, war durch den einer großen Freundlichkeit und Herzensgüte gemildert, wie ich denn auch nie gehört habe, daß sie ihre Autorität im Hause durch Strenge oder gar Härte unterstützt hätte. Sie regierte vielmehr ausschließlich durch Ernst und Konsequenz, vor allem aber durch ihr Beispiel, und war von ihren Untergebenen, wie von allen Nachbarn und Freunden, ebenso geliebt als verehrt. Von ihrer Frömmigkeit, dem schönen Erbteil ihres gottseligen Vaters, machte sie keine Worte, und alle Liebeswerke wurden in der Stille geübt.

Bei aller häuslichen Tätigkeit vernachlässigte sie nicht die Bildung ihres Geistes und ging stets mit der fortschreitenden Zeit, deren Erscheinungen sie mit dem lebendigsten Interesse verfolgte. Walter Scotts Romane zählten zu ihrer Lieblingsunterhaltung, und oft erinnerte sie mich selbst an einzelne poetische Gestalten darin, besonders wenn sie mit einem wahren Feuereifer von dem Besuche Friedrich Wilhelms III. und der reizenden Königin Luise in Ganzer erzählte, als wär es ein Vorgang von gestern gewesen. Eine lila Flachsstaude im Garten, die die Königin Luise für ihre Lieblingsblume erklärt hatte, wurde, fast ein halbes Jahrhundert hindurch und von einem eisernen Korbgeflecht umfangen, sorgsam gepflegt und jedem Besucher gezeigt.

Ihre Unterhaltung war belebt und belehrend und oft vom originellsten Humore gewürzt, wie sie denn durch und durch ein naturwüchsiges Original war. Wenn man sich ihrer Kräfte bei allen Anstrengungen verwunderte, versicherte sie, das rühre von einem starken Beisatz von Schwefel in ihrem Blute her, und rieb sich, zum Beweise, die Hände, wobei ich indes von dem verheißenen Schwefelgeruche niemals etwas wahrgenommen habe.

Die Frische und Jugendlichkeit aber, die sie sich bis ins hohe Alter bewahrte, gipfelte besonders in ihrer fast anbetenden Liebe zu ihrem Manne, der dieselbe mit großer Treue und etwas kühler Verehrung erwiderte. Bei Tische horchte sie nur auf seine Stimme, und wenn irgendein scherzhaftes Wort seines Mundes zu ihr herüberklang, so rief sie, wie in unwillkürlichem Entzücken und mit strahlender Miene: › Himmlischer Jürgaß!‹, › göttlicher Karl!‹ Nie werd ich den Zustand vergessen, in dem wir die Achtzigjährige fanden, als sie die Nachricht erhalten hatte, daß ihr Karl, während eines Besuches bei seinem Bruder in Berlin, heftig erkrankt sei und sie nicht zu ihm dürfe! Mit Tränen überströmt, an allen Gliedern zitternd, ganz aus ihrer gewohnten festen und kräftigen Haltung hinausgeworfen, stand die alte Frau da wie das Bild der Leidenschaft jugendlichster Liebe.

Einst gestand sie mir, daß sie, an jedem Jahrestag ihrer Vermählung, in aller Stille immer ihr Hochzeitskleid unter ihrem einfachen Hausrock anlege und daß ihre große Halskrause dann den Schmuck und die Perlenschnur des Hochzeitsstaates vor aller Augen berge.

Sogar der Beisatz der Eifersucht fehlte dieser leidenschaftlichen Liebe nicht; doch richtete sie sich auf den unschuldigsten Gegenstand, auf den von sieben andern einzig übriggebliebenen Bruder ihres Mannes, den als Held aus den Freiheitskriegen berühmten, mit den schwersten Wunden und den ehrenvollsten Orden bedeckten Generallieutenant von Jürgaß (›die Exzellenz‹, wie sie ihn in tiefer Ehrfurcht stets nannte), der fast jeden Sommer, zur Stärkung seiner erschütterten Gesundheit einige Wochen oder Monat in Ganzer zubrachte, wo dann die Brüder, wie ein Paar Inséparables, vom Morgen bis zum Abend untereinander verkehrten und sie sich, als die Dritte im Bunde, etwas beiseite geschoben fühlte. Auch verhehlte sie, in ihrer großen Wahrheitsliebe, nicht eine jedesmalige, etwas wehmütige Scheu bei der Meldung dieses Besuches, und war es drum in der Nachbarschaft eine gern erzählte Anekdote, daß sie sich, in ihren häuslichen Verpflichtungen, bei Bewirtung der Exzellenz noch absichtlich steigre, um vor sich selbst und vor anderen den kleinen eifersüchtelnden Verdruß an dem Besuche zu bemänteln.

Diese Exzellenz selbst aber war der einfachste, anspruchloseste Heldengreis, der mir je vorgekommen, bedeutender als sein Bruder, bescheiden im Bericht über seine Taten und mit der Schwägerin auf einem ziemlich förmlichen Fuß. Ich habe nie etwas Kindlicheres und Naiveres gesehen als das zärtliche Verhältnis dieser beiden Brüder – besonders sind mir die harmlosen kleinen Whistpartien um allerniedrigste Points in Erinnerung geblieben, die jeden Abend in der Wohnstube stattfanden und noch jahrelang nach dem Tode der im neunzigsten Jahre sanft entschlafenen Heldin dieser Erzählung fortgesetzt wurden, bald in Ganzer und bald in Brunn. Damals aber, wo die liebe Alte noch als stille Zuschauerin auf dem Sofa saß, entweder ihren Walter Scott lesend oder mit mir oder einem andern Besuche plaudernd, wurde ›Pasterchen‹ als vierter zur Whistpartie herbeigerufen, wenn nicht gar Charlotte, das Hausmädchen, als homme de bois fungieren mußte. So einfach waren die Zeiten und die Sitten des patriarchalischen Hauses!

Kinder waren der Frau von Jürgaß nicht beschieden, aber teilnehmend war und blieb sie gegen jung und alt und ihr lebendiger Sinn für Schönheit machte (bei ihrem gänzlichen Mangel derselben) einen beinah rührenden Eindruck. So kann ich das ›Ah!‹ nicht vergessen, mit dem sie, statt aller Begrüßung, vor der reizenden Erscheinung der jungen Henriette von Röder, Gemahlin des späteren Generals Karl von Röder, stehenblieb, als wir ihr diese zum Besuche zuführten. Jahrelang erzählte sie noch ›von den langen, blonden Ringellocken, die die schönen Züge des durchsichtig-klaren Gesichtes umrahmt hätten‹, und ermahnte mich immer wieder, daß die schöne Frau ›für die Akademie‹, wie sie sagte, gemalt werden müsse.

Während ihrer letzten Lebensjahre war ich leider aus der Gegend fern und weiß über ihren Tod nur das eine, daß es ein sanfter war.

Wie ihr Charakter aus einem Stück, so war ihr Leben aus einem Guß, und ihre lautere Seele wird dort oben in der ewigen Einheit des Wahren und Guten ihre Heimstätte gefunden haben.«

Wanderungen durch die Mark Brandenburg

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