Читать книгу Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist: Reclam Lektüreschlüssel XL - Theodor Pelster - Страница 12
Die bürgerliche Schicht
ОглавлениеMichael Kohlhaas. Die Haupt- und Titelfigur ist Sohn eines Schulmeisters, übt den Beruf eines Pferdehändlers aus und wohnt auf einem Bauernhof in einem Dorf namens Kohlhaasenbrück, das dem Regierungsbezirk Brandenburg angehört, der wiederum Teil des Kurfürstentums Brandenburg ist. Kohlhaas gilt »bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürger und UntertanStaatsbürgers« (S. 3). Wie er treu zu seinem Landesherrn steht, so erwartet er, dass dieser ihn »als brandenburgischen Untertan« (S. 80) zu schützen bereit ist.
Da er über »Besitzungen, im Brandenburgischen und im Sächsischen« (S. 21), verfügt, darf man ihn als begütert ansehen. Sein Wohlstand resultiert aus einem erfolgreichen Der bürgerliche HandelsmannPferdehandel. Die Gewinne, die er erzielt, legt er zum Teil »auf neuen Gewinst« an, zum Teil »aber auch auf den Genuss der Gegenwart« (S. 3). Dieses bürgerliche Verhalten im guten Sinne bringt ihm »die Bekanntschaft […] der bedeutendsten Männer des Landes« ein (S. 17). Außerdem hat ihm »die Redlichkeit, mit welcher er […] zu Werke ging«, deren »Wohlwollen« (S. 17) verschafft.
Michael Kohlhaas ist mit Lisbeth verheiratet; gemeinsam haben sie fünf Kinder. Freudig wird der Kohlhaas als HausvaterFamilienvater empfangen, wenn er von einer Geschäftsreise zurückkommt. Mit zum Haus gehören auch Mägde und Knechte. Kohlhaas und seine Frau sorgen sich in verantwortungsvoller Weise um den Großknecht Herse, der auf der Tronkenburg schändlich behandelt wurde. Kohlhaas lässt ihm als Trost »eine Flasche Wein« zukommen, verspricht, sich dafür einzusetzen, dass ihm »Gerechtigkeit« (S. 16) widerfahren solle, verschafft ihm später einen Kuraufenthalt an einer »Heilquelle« (S. 18) und kümmert sich am Schluss noch darum, dass »die alte Mutter Hersens« nach dem Tod des Sohnes »ein Geschenk […] zur Pflege und Erquickung ihrer alten Tage« (S. 108) erhält. Kein Wunder, dass die Knechte des Hauses »treu […] wie Gold« (S. 28) zu ihm stehen, wenn er in Schwierigkeiten ist.
Die ganze Familie bekennt sich zur »Das lutherische Bekenntnislutherische[n] Religion«, dem »eben damals aufkeimenden Glauben« (S. 27). Vor Luther möchte Kohlhaas »seine Beichte« ablegen, von ihm möchte er »die Wohltat des heiligen Sakraments« (S. 47) empfangen. Doch Luther verweigert ihm beides, da Kohlhaasens Handeln nicht christlichen Grundsätzen entspreche. Erst unmittelbar vor der Hinrichtung wird Kohlhaas durch »einen Abgesandten Doktor Luthers […] die Wohltat der heiligen Kommunion« (S. 105 f.) gereicht.
Besonders hervorgehoben wird das »Das »Rechtgefühl«Rechtgefühl« des Pferdehändlers, »das einer Goldwaage glich« (S. 9). Mehr als alles andere bestimmt dieses Rechtsgefühl sein Denken und Handeln. Dabei zeigt sich, dass seine Rechtsauffassung mit den Rechtsauffassungen anderer kollidiert. Die Ankündigung, die der erzählten Geschichte vorangesetzt wird, nimmt das Ende vorweg: »Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder« (S. 3).
Auf die ersten »ungesetzlichen Erpressungen« (S. 5), die er auf der Tronkenburg erleidet, Reaktion auf erlittenes Unrechtreagiert Kohlhaas noch gelassen. Er ist zwar verwundert, dass man plötzlich Zoll und Passierschein von ihm verlangt, wo er doch »siebzehn Mal […], ohne einen solchen Schein, über die Grenze gezogen sei« (S. 4); aber er bleibt freundlich und umgänglich, zumal er nicht sicher ist, ob er eine neue Verordnung nicht doch übersehen hat. Nachdem er sich jedoch überzeugt hat, dass die Anordnungen des Junkers Wenzel von Tronka ungesetzlich sind, und er erkennt, dass ihm, seinem Großknecht Herse und seinen als Pfand zurückgelassenen Rappen grobes Unrecht widerfahren ist, ist er »entschlossen […], die öffentliche Gerechtigkeit für sich aufzufordern« (S. 16). Als er aber vor Gericht nicht gehört wird und von seinem Landesherrn keinen Schutz erhält, da erhebt er sich und nennt sich »einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn« (S. 33). In einem Mandat gibt er sich als »einen Statthalter Vergleich mit Erzengel MichaelMichaels, des Erzengels« (S. 39) aus, also als einen Vertreter jenes obersten Engels, der das Volk Gottes verteidigt und nach der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament sogar den Teufel besiegt (Offenbarung 12,7–10). Dementsprechend unterzeichnet Kohlhaas dieses Schriftstück, als übertreffe er den Landesherrn an Rang: »Gegeben auf dem Sitz unserer provisorischen Weltregierung, dem Erzschlosse zu Lützen« (S. 39).
Kohlhaas setzt seine Familie, seinen Besitz, sein Ansehen aufs Spiel, um sich Recht zu verschaffen. Auf dem Weg, auf dem er sein Recht erstreitet, wird er dann selbst schuldig. An dem Tag, an dem er schließlich und endlich »Kohlhaasens »Genugtuung«Genugtuung« für sein erlittenes Unrecht erfährt, wird er aufgefordert, jetzt selbst dem Staat wegen Bruchs des kaiserlichen Landfriedens »Genugtuung zu geben« (S. 108). Dazu ist er bereit. Daraufhin wird Kohlhaasens Todesurteil vollstreckt.
Elisabeth Kohlhaas, kurz »Lisbeth – die Frau des HausesLisbeth« genannt, wird als Kohlhaasens »treues Weib« (S. 11) eingeführt. Damit wird nicht nur eine Tugend der Ehefrau gelobt; sie wird dadurch zugleich als Mutter der Kinder und als bürgerliche »Hausfrau« (S. 12) gewürdigt, die sich im Gewerbe ihres Mannes auskennt und die sich für alle Personen verantwortlich fühlt, die zu Haus und Hof gehören. Sie ist interessiert an den politischen Entwicklungen im Land und weiß von den »Freveln […], die man sich seit kurzem auf der Tronkenburg [...] erlaubt« (S. 12). Dass Kohlhaas auf das, was ihm, dem Großknecht Herse und den Rappen angetan wurde, mit »Gelassenheit« (S. 12) reagiert, freut sie. Offensichtlich Scheu vor Konfliktenscheut sie Konflikte und Auseinandersetzungen.
Sie stimmt mit ihrem Mann überein, »dass es ein Werk Gottes wäre, Unordnungen, gleich diesen, Einhalt zu tun« (S. 16) und will Geld beitreiben, um die Prozesskosten zu bestreiten. Sie Die unausgesprochene Sorgeerschrickt jedoch darüber, dass Kohlhaas seinen ganzen Besitz verkaufen will, um frei zu sein, sich sein »Recht […] zu verschaffen« (S. 25). Als Kohlhaas ihr dann seinen vollständigen Plan entwickelt, zu dem auch gehört, dass sich seine Familie »über die Grenze« nach Schwerin zurückziehen solle, »[erstickte] das Entsetzen [...] ihr die Sprache« (S. 24). Auf die suggestiv gestellte Frage ihres Mannes: »Soll ich nach der Tronkenburg gehen, und den Ritter bitten, dass er mir die Pferde wiedergebe, mich aufschwingen, und sie dir herreiten?« wagt sie nicht »ja! ja! ja! zu sagen« (S. 25), obwohl sie genau das möchte. Kohlhaas erkennt nicht den Dissens unter den EheleutenDissens, der die Eheleute trennt, und glaubt, in Übereinstimmung mit seiner Frau zu leben.
Trotzdem ist er froh, dass Elisabeth einen eigenen Weg finden will, dem Landesherrn eine »Bittschrift« (S. 25) zu überreichen. Es erweist sich, dass Kohlhaasens Frau nicht nur Lisbeths Courage und Todcouragiert ist, sondern in früheren Zeiten auch begehrt war. Als sie sich in Berlin »zu dreist an die Person des Landesherrn« (S. 26) vordrängt, wird sie aber von der Wache zurückgestoßen und tödlich verwundet. Von ihrem Mann wird ein »Leichenbegängnis« ausgerichtet, »das weniger für sie, als für eine Fürstin, angeordnet schien« (S. 27). Erbittert über dieses Unglück, ist Kohlhaas nun erst recht gewillt, »das Geschäft der Rache« (S. 28) anzutreten.
Damit stellt er sich dem letzten Willen seiner Frau entgegen. Sie hatte kurz vor ihrem Tod, als sie schon nicht mehr sprechen konnte oder wollte, auf jene Stelle in der Mahnung zu christlichem HandelnBibel gezeigt, in der es heißt: »Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen« (S. 27). Dazu kann sich Kohlhaas nicht verstehen.
Elisabeth, die »Zigeunerin« (S. 87), ist eine rätselhafte Figur. Sie hatte einst in Jüterbock, wo »der Kurfürst von Sachsen und der Kurfürst von Brandenburg […] eine Zusammenkunft hielten« (S. 85), Die ProphezeiungenVoraussagen für die Zukunft gemacht. Die Umstände ergaben, dass sie die Weissagungen, die für den Kurfürsten von Sachsen bestimmt waren, auf einen Zettel geschrieben, diesen in eine Kapsel gesteckt und die Kapsel einem fremden Mann, nämlich – wie sich herausstellt – Kohlhaas gegeben hatte. Damit ist Kohlhaas im Besitz eines Faustpfandes, das er gegen den Kurfürsten von Sachsen verwenden kann.
Diese Wahrsagerin verschafft sich Zugang zu dem im Gefängnis einsitzenden Kohlhaas; später lässt sie ihm eine Die Botschaft der WahrsagerinBotschaft zukommen, die wichtige Informationen zu den Absichten des Kurfürsten von Sachsen enthält und unterzeichnet ist mit »Deine Elisabeth« (S. 106) – ein Name, der für eine Romni eher ungewöhnlich ist. Kohlhaas fühlt sich an seine verstorbene Frau erinnert, die ihm aus dem Jenseits zu Hilfe kommen möchte. Aber seine Erkundungen, wer »das wunderbare Weib« (S. 106) sei, bleiben erfolglos.
Die Tatsache, dass Kohlhaas »genau am Tage nach dem Begräbnis [s]einer Parallele zu Elisabeth KohlhaasFrau« (S. 85) auf die »Zigeunerin« trifft, an dem Tag also, als er seinen Rachezug beginnt, lässt den Leser vermuten, dass in der »Zigeunerin« eine Frau gesehen werden soll, die an die Stelle der verstorbenen Ehefrau Lisbeth tritt und deren stützende und beratende Rolle übernimmt. Hierzu passt auch, dass der Name »Elisabeth« auf verschiedene Frauenfiguren, besonders aus der christlichen Tradition verweist, die eine beschützende Rolle einnehmen: Elisabeth von Thüringen ist die Patronin der Armen und Hilfebedürftigen, und auch die Mutter von Johannes dem Täufer trägt den Namen Elisabeth.
Herse, der Großknecht, nimmt die oberste Stellung unter den Knechten auf Kohlhaasens Bauernhauf ein und gehört zu dessen Haus und Familie. Er sieht in seinem Herrn den Patron, dem er zu folgen hat, der aber auch für ihn sorgt. Herr und Treueverhältnis Herr und KnechtKnecht sind durch ein besonderes Treueverhältnis verbunden.
Herse ist in seiner Aufgabe Kompetent und unbestechlichkompetent. Er setzt sich für die ihm anvertrauten Pferde ein und schützt sie, so gut es geht, vor den Übergriffen der Leute auf der Tronkenburg. Er ist unbestechlich und lässt sich auf keine Geschäfte mit dem Vogt oder dem Verwalter der Tronkenburg ein, die seinem Herrn von Nachteil, ihm aber von Vorteil wären. »[D]ie schändlichsten Misshandlungen« (S. 11) duldet er, verzichtet aber auf persönliche Rache und hofft nur, dass »Gottes Blitz« das Haus seiner Feinde »einäschern« (S. 12) möge.
Wahrheitsgemäß berichtet er seinem Herrn, was ihm und den Pferden geschehen ist, und gerät in Zorn, als Kohlhaas Zweifel äußert. Trost ist ihm dann Kohlhaasens Satz: »dir soll Gerechtigkeit widerfahren!« (S. 16).
Herse ist sofort bereit, sich an dem Beteiligung am RachefeldzugRachefeldzug gegen die Tronkenburg zu beteiligen. Bei »einem nächtlichen Überfall, bei Mühlberg« (S. 38), findet er den Tod. Kohlhaas setzt sich weiter dafür ein, dass seinem Großknecht Recht widerfahre. Der »Schadenersatz« (S. 108), den er erstreitet, kommt der alten Mutter Herses zu. Sie ist in das Treueverhältnis von Herr und Knecht eingebunden.