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1. Kapitel: Ein Mord und keine Zähne

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Irgendwann mitten in der Nacht schreckte ich aus meinen Träumen hoch. Ein scharfes Klingeln und gleich darauf ein lautes, dumpfes Gepolter hatten mich geweckt.

Ich schwang mich aus dem Bett, griff mir den Browning aus dem Nachttischkasten und schlich zu Jimmys Zimmer hinüber. Die Tür stand weit auf. Ich knipste das Licht an und machte ein dummes Gesicht.

Jimmy lag vor seinem Bett und massierte sich die Stirn.

„Verdammt“, murmelte er benommen, „was war das?“

Die Antwort gab das Telefon neben seinem Nachttisch. Es klingelte jetzt zum zweiten Mal laut und schrill.

„Sag deinen Freundinnen, sie sollen nicht um diese unmögliche Zeit anrufen“, knurrte ich missmutig. „Und falls du dir die Birne gestoßen hast, tut mir das kein bisschen leid.“ Ich ging zurück in mein Zimmer und krabbelte wieder ins Bett. Der vergangene Abend war recht abwechslungsreich gewesen. Abwechslungsreich und flüssig. Ich hatte mindestens so einen schweren Kopf wie Jimmy.

Ich streckte mich im Bett aus. Aber dann hörte ich, dass Jimmy offenbar nicht mit irgend ‘ner kleinen Freundin telefonierte.

„Was sagen Sie da?“, knurrte er gerade. „Ein Mord? Jetzt um diese Zeit? Kann ich mir gar nicht denken. Und warum rufen Sie denn aus Los Angeles an? Gibt‘s da keine Polizisten?“

Ich hatte mir schon den Mithörer von meinem Nachttisch geangelt und hielt ihn ans Ohr.

„Nein“, quäkte eine Frauenstimme, „ich bin Mistress Priston. Haben Sie das immer noch nicht kapiert?“

„Ach so“, sagte Jimmy, „die Frau vom langen Sam?“

„Ja, er ist krank. Er kann nicht sprechen. Der Arzt hat ihm alle Zähne gezogen, und er hat eine Menge Mull im Gesicht und ‘n bisschen Fieber. Aber er hat mir auf ‘n Zettel geschrieben, ich soll Sie sofort anrufen, und Sie sollen kommen.“

„Warum?“, fragte Jimmy. „Die Zähne können wir ihm nicht wieder besorgen.“

„Ich sagte doch, dass es ein Mord ist“, tönte die Stimme der Frau. „Ein Mord, ein Mord, ein Mord!“

„Was denn?“ Jimmy wurde ärgerlich. „Drei Morde?“

„Ein Mord!“, schrie die Frau. „Kommen Sie nun oder nicht? Ich hab schon auf dem Flugplatz nachgesehen. Wenn Sie acht Uhr vierzig fliegen, sind Sie kurz vor elf hier.“

„Was für ‘n Mord ist ‘n das?“, fragte Jimmy.

„Das erzählt Ihnen Sam alles selber.“

„Erzählt? Ich denke, er kann nicht sprechen.“

„Er schreibt es auf einen Zettel. Kommen Sie schon. Er macht mich ganz verrückt.“

„Wie denkst du darüber, Langer?“, knurrte Jimmy „Hast du mitgehört?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten“, erwiderte ich, „entweder er spinnt, denn sie sagst ja selbst, er hat Fieber, oder er redet die Wahrheit. Er ist sonst ja reichlich nüchtern. Irgend etwas ist dran an der Sache.“

„Weißt du was, Langer,“, sagte Jimmy, „jetzt, wo wir sowieso schon wach sind, können wir eigentlich ruhig ‘rüberfliegen. Und wenn nichts dahintersteckt, ist es auch ganz schön. So ‘n paar Urlaubstage in Hollywood drüben haben wir doch verdient. Findest du nicht?“

„Okay. Sag ihr, wir kommen.“

*


Zehn Minuten vor elf setzte der viermotorige Clipper über dem Internationalen Airport Los Angeles zur Landung an.

„Die Landung ist immer das Schlimmste“, seufzte Jimmy und rülpste zwei- oder dreimal hintereinander. In letzter Zeit hatte er das Fliegen ein bisschen besser vertragen als sonst. „Ich glaube ja, Sam hat gesponnen. Leute, die keine Zähne mehr haben, spinnen immer ‘n bisschen schneller.“

Ich schwieg dazu und grinste vor mich hin. Ich wusste, dass Jimmy nichts Sehnlicheres wünschte, als dass Sam Priston einen blinden Alarm gegeben hat. Nun waren wir schon mal in Los Angeles, und hier gab es eine Menge Vergnügungsmöglichkeiten. Es war kein Problem, in ein paar Tagen doppelt soviel Hundertdollarscheine zu verjubeln.

„Wenn er nicht gesponnen hat“, murmelte ich tiefsinnig, „dann muss es ‘ne saure Sache sein; denn warum ruft er uns extra an? Er hätte doch genauso gut hier in Los Angeles irgend jemand alarmieren können. Ich habe so‘n Gefühl in der Magengrube, Jimmy, als wäre doch irgendwas dran.“

„Wieso glaubst du denn so was?“, fragte Jimmy befremdet und rülpste. Die Maschine setzte in diesem Augenblick auf dem Rollfeld auf und steuerte kurz darauf auf die Empfangshallen zu.

„Wenn es blinder Alarm war, Jimmy, dann hat Sam also gesponnen. Fieberphantasien und so. Na klar, warum soll so was nicht möglich sein. Und einer, der Fieberphantasien hat, kann Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Das ist doch auch klar. Aber wenn er seiner Eheliebsten, die doch sehr energisch ist, so sehr auf den Wecker fällt, dass sie bei uns anruft, dann scheint er doch ziemlich klare Vorstellungen zu haben. Das passt nicht zu der Theorie der Fieberphantasien.“

„Wir werden sehen“, grunzte Jimmy. Und im gleichen Augenblick, als das Flugzeug still stand, rülpste er noch einmal.

*


Am Rande dieser riesigen Stadt, dort, wo schon die ersten Hollywoodvillen stehen, hatte Sam Priston ein kleines Häuschen. Wir waren mit einem Taxi hinausgefahren, und Sam Pristons Frau, klein, rundlich und sehr energisch, hatte die Haustür geöffnet.

„Gott sei Dank, dass Sie da sind. Sam macht mich ganz verrückt. Er hat schon alles für Sie aufgeschrieben. Kommen Sie herein!“

Sam Priston lag in seinem kleinen Wohnzimmer auf einem ziemlich altertümlichen Sofa, das er vermutlich für gemütlich hielt. Man muss allerdings wissen, dass Sam Priston noch einen halben Kopf länger ist als ich, und ich bin wahrhaftig nicht gerade kurz geraten. Sam ist dünn wie eine Bohnenstange, aber drahtig und umsichtig. Und er säuft gern. Jetzt aber sah er uns aus ziemlich verquollenen Augen an und wedelte mit einem Stück Papier. Seine Füße hatte er, da das Sofa viel zu kurz war, hinter der Sofalehne auf einem Stuhl deponiert.

Er deutete aufgeregt mit seinem langen, spitzen Zeigefinger auf zwei Sessel und streckte mir das Papier entgegen. Mit dem Daumen gab er seiner Frau ein Zeichen zu verschwinden.

„Trinken Sie gern ‘nen Kaffee?“, fragte die Frau.

„Aber gern“, sagte Jimmy. „Der da auch. Sam darf wohl nicht, wie?“

„Ach, es ist ein Elend mit dem Langen“, erwiderte sie. „Sie sehen ja, wie schrecklich er verbunden ist. Er kann nur trinken. Eier und so‘n Zeug. Na, hoffentlich ist es bald überstanden. Der Arzt hat gesagt, er wird noch mal ‘n schöner Mann, wenn er erst die neuen Zähne hat.“

Ich hatte nur mit einem halben Ohr hingehört; denn ich las schon, was Sam für uns aufgeschrieben hatte.

„Konnte nicht schlafen. Starrte aus Fenster zu den Sternen. Im Haus gegenüber Party. Gegen vier Uhr morgens Mann und Frau vor Fenster oben rechts. Fuchteln herum. Streit. Plötzlich sackt Frau weg. Gleich danach verlassen Gäste Haus. Sofort euch alarmiert. Nichts mehr weiter bemerkt, weil eingeschlafen. Fieber gemessen vorher: ist nicht. Bin genauso normal wie ihr. Falls ihr‘s überhaupt seid.“

Ich gab Jimmy den Zettel und sah den Langen vorwurfsvoll an.

„Sag mal, Langer, das kann genauso gut ein harmloser Ehekrach sein. Wie kommst du auf‘n Mord?“

Sam Priston schüttelte heftig den Kopf und kritzelte auf einen Notizblock. Ich las die Antwort, während er noch schrieb.

„Mann hat sich nicht um Frau gekümmert, sondern rannte schnell weg. Konnte nicht sehen, ob Dolch oder Revolver oder sonst was.“

„Das ist noch lange kein Beweis für‘n Mord, Sam.“

„Kümmert euch drum“, schrieb Sam, „bitte!!!“

„Du hast wohl so‘n Gefühl im Urin, wie?“ Ich grinste ihn an.

Er nickte. Ob er grinste, konnte ich nicht feststellen, dazu hatte er zu viel Verbandszeug am Kiefer. Ich verstand nicht recht, weshalb er so verpackt worden war. Aber vielleicht hatte er irgend ‘ne schwere Entzündung oder sonst ‘n Geschwür dazu bekommen.

„Kennst du die Leute?“, fragte ich.

Der Lange nickte und kritzelte auf seinen Notizblock die Antwort.

„Paul Short. Filmproduzent.“

„Hör mal, Sam, war der Mann dieser Short? Konntest du es erkennen?“

Das Mullbindengesicht schüttelte den Kopf.

Jimmy hatte den Zettel mittlerweile auch gelesen und gab ihn Sam Priston zurück.

„Und wie denkst du dir das weiter, Langer?“, fragte er. „Wie? Sollen wir vielleicht ‘rübergehen und ihn fragen, ob er seine Alte umgebracht hat oder vielleicht sein Dienstmädchen.“

Sam Priston schob die Schultern hoch. Dann nahm er seinen Notizblock und schrieb darauf.

„Mit irgend ‘ner Ausrede ‘rumschnüffeln.“

„Ist Paul Short verheiratet?“

Sam Priston nickte.

„Wie viele Gäste waren ungefähr da?“

Sam überlegte einen Augenblick und schrieb dann die Zahl Zwanzig mit einem Fragezeichen auf seinen Block.

„Warum hast du nicht gleich die Polizei alarmiert?“

Sam deutete auf seine verbundene Kaumaschinerie. Dann deutete er zur Tür, wo seine Frau verschwunden war, und machte die Bewegung des Schlafens. Er wollte sie wohl nicht stören und wagte es erst, als sie zufällig wach war, vielleicht um ihm einen Eisbeutel auf die Birne zu packen.

Ich überlegte einen Augenblick und zog mir dann Sams Telefon heran. Ich suchte mir die Nummer irgendeines Filmblatts heraus und ließ mich dort mit dem Briefkastenonkel verbinden.

„Hallo“, sagte ich, „können Sie mir ‘nen Tipp geben? Es dreht sich um ‘ne Wette. Filmproduzent Paul Short plant doch ‘nen neuen Film. Ich hab vergessen, wie das Ding hieß.“

„O ja, ich weiß“, sagte der Filmonkel, „das wird ‘n toller Reißer. Das Geheimnis des Urwaldfressers.“

„Hübscher Name“, sagte ich lobend, „aber ich hab die Wette verloren. Na, vielen Dank.“ Ich legte den Hörer auf und sah Jimmy an. „Wir versuchen es mal auf die doofe Tour, Kleiner. Wir versuchen ihn zu interviewen. Vielleicht kriegen wir bei der Gelegenheit ‘n bisschen was raus.“

Bevor wir gingen, tranken wir noch den Kaffee, den Pristons Frau uns in diesem Augenblick gebracht hatte.

„Und du, Langer“, sagte ich zu dem Kerl, der wie ein hingegossenes Fragezeichen dalag, „denk ‘n bisschen darüber nach, wer bei Paul Short alles verkehrt. Wer seine Mitarbeiter sind und ob dir sonst was aufgefallen ist. Dann hast du wenigstens Beschäftigung und knobelst dir nicht ‘nen neuen Mord aus. Schreib alles auf, was dir einfällt.“

Das Mullbindengesicht nickte.

Wir überquerten die Straße. Dabei gaben wir uns keine Mühe, unsere Abgangsstation zu tarnen. Wenn man uns von Shorts Haus tatsächlich beobachtet haben sollte, so konnten wir immer noch irgendwas als Ausrede erzählen.

Ich drückte auf die Klingel, und wir warteten.

„Keine Witze, Jimmy“, sagte ich, „lieber ‘n bisschen in Anhimmelung und Verehrung machen, verstehst du? Auf die Tour kommt man meist am weitesten bei diesen Leuten. Sie haben alle einen Vogel. Jeder, sag ich dir. Es gibt da kaum eine Ausnahme. Wird wohl ‘ne Berufskrankheit sein.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis uns geöffnet wurde. Vor uns stand eine große blonde Frau, ungefähr etwas über Dreißig, aber sehr jugendlich und attraktiv aussehend. Sie war genau der Typ, der jeden Mann um den Finger wickelt. Ich sah es auf den ersten Blick. Und sie hatte Augen, große, braune Augen, die zu dem hellblonden Haar einen seltsamen Kontrast bildeten. Trotzdem fand ich diese Augen nicht schön. Sie waren ein bisschen zu misstrauisch und beinahe listig.

„Mistress Short?“, fragte ich.

„Nein“, sagte sie, „ich bin Mistress Lane. Was kann ich für Sie tun?“

„Wir hätten Mister Short gern gesprochen“, sagte ich zögernd.

„Ah, ich verstehe“, sagte sie plötzlich und lächelte freundlich. Sie hielt die Tür ein Stück weiter auf. „Kommen Sie doch herein. Sie wollen sicher das Haus besichtigen, nicht wahr? Mister Short ist nämlich schon ausgezogen. Einen Teil der Möbel hat er heute morgen mitgenommen. Der Rest ist hier, wie der Agentur angemeldet wurde.“ Sie sah uns einen Augenblick lang prüfend an. „Sie kommen doch von der Agentur Daheim, nicht wahr?“

Wir nickten beide ernsthaft.

„Wir sind schon so gut wie entschlossen“, sagte ich, „wenn noch jemand kommen sollte, können Sie ihn gleich wegschicken, oder lassen Sie ihn warten. Wir wollen nur einmal ganz kurz durch die Räume gehen.“

„Ich begleite Sie“, sagte sie. Sie wandte sich um, deutete in die breite Halle, die bis zur Rückwand des Hauses führte und dort durch eine kleine Wendeltreppe begrenzt wurde.

„Wie Sie sehen, ist die Halle sehr groß und schön. Hier links ist das Esszimmer und rechts die Küche.“

Wir warfen einen Blick in die Räume und stellten fest, dass sie ein bisschen unordentlich waren. Aber wenn die ganze Nacht hier gefeiert worden war, war das nicht weiter verwunderlich. Im Gegenteil, eigentlich hätte es noch ein bisschen wilder aussehen müssen.

„Auf der gegenüberliegenden Seite ist das Wohnzimmer und das Herrenzimmer“, sagte sie. „Wie ich sehe, sind Sie nur zwei Herren. Sind Sie verheiratet?“

„Vielen Dank für die Nachfrage“, sagte Jimmy.

„Nein“, sagte ich.

„Na, dann wird es gehen. Vielleicht richten Sie sich das Wohnzimmer als zweites Herrenzimmer ein, dann hat jeder der Herren ein Zimmer.“

„Und oben?“, fragte ich.

Die Frau nickte, und wir durchquerten die Halle, um zu der Wendeltreppe zu kommen. Neben der Wendeltreppe befanden sich noch zwei Türen.

„Das ist eine Toilette und das andere ein Eingang zum Keller“, sagte die Frau. Wir gingen die Wendeltreppe hoch, und da sie so eilig voranschritt, konnten wir unhöflicherweise genau ihre Waden betrachten. Es waren jugendliche Waden, Beine, die es in sich hatten. Mistress Lane heißt sie, dachte ich. Aber sie hat uns nicht verraten, was für eine Position sie hier einnimmt.

Gegenüber der Treppe befanden sich wieder zwei nebeneinanderliegende Türen.

„Das eine ist eine Toilette, das andere ein Bad“, sagte sie. Dann deutete sie zur Seite. „Dies hier ist ein Gastzimmer.“ Sie öffnete die Tür und ließ uns eintreten. Neben diesem Raum musste das Zimmer liegen, in dem Sam Priston von drüben irgend etwas beobachtet hatte.

„Und das da?“, fragte ich.

„Das Eheschlafzimmer“, sagte sie. „Aber wenn Sie wollen, können Sie sich diese beiden Räume hier ebenfalls teilen. Einer der Herren kann im Gastzimmer schlafen und der andere im Eheschlafzimmer.“

„Keine üble Idee“, sagte ich und öffnete die Tür zum Eheschlafzimmer.

Gleich auf den ersten Blick fiel mir etwas auf. Von den Ehebetten war eins frisch bezogen und das andere überhaupt nicht. Die roten Matratzen waren kahl.

Ich fing einen Blick von Jimmy auf. Wir hatten beide im gleichen Augenblick das Gefühl, dass in der letzten Nacht in diesem Zimmer hier tatsächlich irgend etwas geschehen war. Ein bisschen mehr als das, was sonst in Schlafzimmern zu geschehen pflegt. Ich schlenderte gemütlich durch den Raum und blieb dicht am Fenster stehen. Ich peilte suchend umher, und dann sah ich zwischen dem Bett und dem Fenster einen großen dunklen Fleck.

Sam Priston hatte nicht geträumt.

Schwarze Nacht und rote Haare

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