Читать книгу Geisterfahrten - Theres Roth-Hunkeler - Страница 10

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In unserer Familie gab es drei Generationen: Die Eltern, Stern, meinen Bruder, und mich. Und es gibt kein Familienfoto von uns, kein einziges. Als ich noch sehr klein war, das weiß ich nur aus Erzählungen, hielt ich manchmal auch Stern für meinen Vater, jedenfalls nannte ich beide Männer der Familie Papa. Verständlich, war Stern doch gut neunzehn Jahre älter als ich und arbeitete auf dem Hof zusammen mit unserem Vater. Einige Zeit später war er weg. Im Winter besuchte er die Landwirtschaftsschule, im Sommer arbeitete er auswärts auf einem viel größeren Hof, selten kam er unter der Woche zum Schlafen nach Hause, ab und zu an Wochenenden. In dieser Zeit erschien mir Stern wie ein weiterer Zimmerherr, von denen es stets zwei gab daheim. Schlafgäste, die nicht mit uns am Tisch saßen und die über ein eigenes winziges Badezimmer verfügten, das zu betreten mir Mutter verboten hatte.

Erst als ich bereits erwachsen war, hat Stern mir erzählt, er habe als über Achtzehnjähriger keine Ahnung gehabt, dass Mutter schwanger gewesen sei. Zwar sei ihm aufgefallen, dass sie schwerer und runder geworden sei, aber dass sie nach fast elfjähriger Ehe und mit bald achtunddreißig Jahren zum ersten Mal hätte schwanger sein können, darauf wäre er nicht im Traum gekommen. Erst vor der bevorstehenden Geburt habe ihn unser Vater eingeweiht, und kurze Zeit später habe er ihm an einem Sonntag in der Morgenfrühe im Stall gesagt, dass es in der Nacht vorbeigegangen sei. Ein Mädchen. Jetzt seid ihr halt zu zweit, habe Vater gesagt, worauf er ihn gefragt habe, ob das neue Kind gesund sei. Ja, das sei es, gesund, Gott sei Dank, eine schöne Sache sei es, dass das Kind gesund sei, eine ganz schöne Sache, habe der Vater geantwortet, und dann hätten sie schweigend die achtzehn Kühe gemolken, die im Stall standen, die Ava, die Blondi, die Bruni, die Dunka, die Fee, die Gloria, die Gundi, die Grimmi, die Hexli, die Mägi, die Mecker, die Muger, die Rose, die Scheck, die Schmutzli, die Soleil, die Vroni, die Zira. Anschließend hätten sie diese und alle andern Tiere des Hofes gefüttert und er, Stern, habe die ganze Zeit gewartet, dass der Vater ihm den Namen des Neugeborenen nennen würde, aber das sei nicht passiert und zu fragen habe er sich gescheut. Am Sonntag danach sei ich auf den Namen Elisabeth getauft worden.

Es war lange her, seit unser Vater zum letzten Mal Vater geworden war, fast achtzehn Jahre. Im viel zu nassen Juli 1938 war sein zweiter Sohn zur Welt gekommen, Walter hieß der Bub, der mit vier Monaten verstarb, in einem November mit warmen Winden, die endlich die im Sommer und Herbst immer wieder überschwemmten Felder trockneten. Ich habe diesen Buben bei mir selbst stets Walder genannt, denn ich stellte mir lange Zeit vor, er sei im Wald gestorben. Aber das war nicht so. Im Wald ist ein anderer und erst sieben Jahrzehnte später gestorben, Walter sei im Straßengraben gestorben. Das Auto des Dorftierarztes habe auch seine Mutter totgefahren, die auch Sterns Mutter gewesen sei, sie habe den Kinderwagen, in dem Walter lag, vor sich hergeschoben, der Tierarzt sei übermüdet gewesen und am Steuer eingeschlafen. Walter sei krank gewesen, er habe so heftig gehustet, dass er fast keine Luft mehr bekommen habe und zu ersticken drohte, getrunken habe er auch praktisch nichts mehr, seine Mutter habe befürchtet, ihr jüngerer Sohn leide an einer inneren Krankheit, der Unfall sei passiert, als sie auf dem Weg zum Arzt gewesen sei, das habe ich mir zusammengereimt aus den paar Bruchstücken, die ich im Laufe der Zeit aus unserer Mutter heraus bekommen habe. Vater durfte nicht gefragt werden. Nie.

Die Grundoperationen, insbesondere die Division, lernte ich früh kennen. Ich habe ja diesen Halbbruder. Diesen Stern. Überhaupt beschäftigte mich in meiner frühen Zeit eine einzige, heimliche Kopfrechnung, eine Art Kettenrechnung. Ich weiß viel zu wenig über Stern, das soll sich nun ändern, bevor es zu spät ist, aber dass er eigentlich Ernst heißt, Mutter ihn aber von Beginn ihrer Zeit weg Stern genannt hat und sich dieser Name im Laufe der Jahre eingebürgert hat, das weiß ich. Niemand sprach von Stern als von meinem Halbbruder, was er eigentlich auch nicht ist, eher ist er so etwas wie ein Dreiviertelbruder, denn meine Mutter, die auch er, seit ich mich erinnern kann, stets Mutter nannte, war ja genau genommen seine Tante. Bloß hat es in der Familie niemand außer mir genau genommen. Von Walter, meinem zweiten Halb- oder eben Dreiviertelbruder allerdings weiß ich noch viel weniger als über Stern. Manchmal rechnete ich aus, wie viele Stunden dieser Säugling in seinem kurzen Leben wach gewesen war. Neugeborene schlafen ja fast die ganze Zeit. Dieses mir unbekannte Kind hatte hundertundzwanzig Tage gelebt, davon hat es wohl vier Fünftel verschlafen. Sagen wir, und das ist hochgerechnet, es war insgesamt vierhundertachtzig Stunden wach in seinem Leben. Dieser Säugling habe viel geschrien, oft über mehrere Stunden, hatte Mutter einmal erwähnt. Also veranschlagte ich seine Schreizeit mit rund dreihundert Lebensstunden. Blieben hundertachtzig Stunden, die er mit saugen, gesäubert, gewickelt, gewogen, gewiegt und geliebt werden verbracht hatte.

Weil Stern mein Halbbruder ist, hatte ich mir als Kind oft überlegt, ob meine Mutter auch seine Halbmutter sei, denn Vater war für uns beide ja der gleiche Ganzvater. Wobei, bei der Mutter war es komplizierter. Sie war mehr als halb für meinen Bruder, war sie doch für ihn die ersten zweieinhalb Jahre lang eine unter vielen Tanten gewesen, die jüngste Schwester seiner Ganzmutter. Diese Rechnung überstieg meine Fähigkeiten. Erst recht, wenn ich versuchte, mit einzubeziehen, was ich nach und nach halbwegs erfuhr und halbwegs aus den in der Luft hängen gebliebenen, unfertigen Sätzen ergänzte. Dass meine Mutter nach dem Tod ihrer Schwester jahrelang zur Haushälterin unseres Vaters und zur Spezialtante meines Halbbruders geworden sei, die mit Begeisterung auf dem Hof mitgearbeitet habe, den der Vater nach dem Unfall erwerben konnte. Nach den mageren Jahren – so hat Stern viel später diese Zeit bezeichnet, von fetten Jahren allerdings hat er nie gesprochen – sei der Tag gekommen, als der Vater meinem Halbbruder verkündet habe, dass er die Spezialtante ab morgen Mama nennen dürfe. Vater, habe ich errechnet, hat im Frühjahr 1945 also jene Frau geheiratet, die elf Jahre später meine Ganzmutter wurde und neunzehn Jahre älter war als mein Halbbruder, der wiederum gut neunzehn Jahre älter ist als ich. So ist das. Es gab schon immer viel zu rechnen in unserer Familie und immer noch rechne ich die ganze Zeit. Insbesondere Bruchrechnen liegt mir.

Auf dem Hochzeitsbild meiner Eltern fehlt Stern. Obwohl er bald neun Jahre alt und ein Zweitklässler war, weiß er nicht mehr, wo und wie er diesen Tag verbracht hat.

Richtig heißt mein Bruder Ernst und ein ernster Stern ist er bis heute geblieben. Das hat seine Gründe. Es war ja Mutter, die ihn von Beginn weg Stern genannt hatte, als sie in den Haushalt ihres Schwagers kam. Sie habe dem untröstlichen Zweieinhalbjährigen Abend für Abend das Lied vom Sternchen, das am Himmel steht, gesungen. Bei dem Lied habe der Bub manchmal aufgehört zu weinen. Allmählich habe er sich ein wenig erholt und sie habe ihm erklärt, dass seine Mama fortan als ein Stern am Himmel leuchte. Abend für Abend habe nun der Bub nach dem Mutterstern Ausschau gehalten.

Wie es sich wohl anfühlt, einen Stern als Mutter zu haben? Mutter hatte sich das wohl nie gefragt, weil sie ja eine Schwester hatte, die ein Stern war. Des Buben Mutterstern war auch ihr Schwesternstern. Mutter war mit mir über das Fleisch und das Blut verbunden und mit meinem Bruder über den Stern. Und Vater war ganz einfach unser Vater.

Als ich zur Welt kam, machte sich Stern daran, erwachsen zu werden. Für ihn, denke ich, bin ich wohl eine Plage gewesen. Ich verlor eben meine Milchzähne und er ging beinahe ein vor Liebeskummer. Die Eltern wussten bald nicht mehr, was tun. Stern, erzählte mir die Mutter Jahrzehnte später, habe sich als Sechsundzwanzigjähriger tagelang in einem der gerade leer stehenden Zimmerherrenzimmer im obersten Stockwerk verbarrikadiert. In äußerster Not habe sie den Hausarzt angerufen. Der alte Doktor Meier sei gekommen und irgendwann habe Stern die Zimmertür geöffnet und sich widerstandslos einliefern lassen. Im Sanatorium seien ihm Schlafkuren verordnet worden, irgendeine Art Heilschlaf wohl. So also hat das Übel seinen Anfang genommen, hat die Mutter schulterzuckend gesagt.

Als ich mich langsam ins Leben als Jugendliche vortastete, war Stern in seinen besten Jahren, die ab und zu und stets unerwartet unterbrochen wurden von schlechten Phasen. Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal bewusst wahrnahm, wie Stern erlosch. Wie er zuerst vollkommen ruhelos und in stummer Panik durchs Haus ging und unverständliche Dinge murmelte, schließlich verstummte und nur noch katatonisch am Tisch saß. Er hatte längere Zeit im Seeland einen großen Gutsbetrieb geleitet. Erfolgreich. Daneben hatte er mit seinen Experimenten zu Hydrokulturen angefangen. Erfolg versprechend. Bis ihn eines Tages einer seiner Untergebenen zu uns nach Hause brachte. Stern war nicht der Einzige im Dorf, der in die Psychiatrie musste. In die Anstalt, sagten die Älteren. Versorgt. Bei den Frauen hieß es, sie müssten zur Kur, und einer aus dem Dorf, ein Brandstifter, musste hinter Gitter. Für viele Jahre. Mutter benutzte einen andern Begriff, wenn sie nach Sterns Verbleib gefragt wurde. Er ist im Sanatorium, sagte sie.

Winter und Frühjahr 1936

Nach der Heirat verließ Filomena ihr Elternhaus und zog zweihundert Meter weiter. Zu Franz. Er freute sich, nur, er wohnte noch immer bei seinen Eltern im Wirtshaus. Und dort hieß es: Noch eine Frau im Haus. Frisch verheiratet und schwanger. Es gab schon die Chefin, Anna Hauser, die Schwiegermutter. Es gab die beiden ledigen Schwägerinnen, die im Wirtshaus bedienten, in der Küche halfen und sich um den jüngsten, behinderten Bruder kümmerten. Ehemänner waren für sie nicht vorgesehen. Wie sich Filomena gefühlt hat in der herrschenden Frauenwirtschaft, das interessierte niemand, am wenigstens ihren Schwiegervater Josef, eine Randfigur, um Jahre älter als seine Frau. Anna war schlauer als er und hielt den ganzen Laden, der ihr auch gehörte, am Laufen. Frauengut. Josef hatte hier bloß eingeheiratet. Im Mai 1906 beehrten sich Anna Ackermann und Josef Hauser, die bevorstehende Vermählung ergebenst anzuzeigen. In der Gaststube hatte Josef nichts verloren, er roch nach Stall, Kuhmist klebte an seinen Stiefeln. Mehr schlecht als recht führte er den Hof, der zum Wirtshaus gehörte. Zwölf Kühe standen im Stall, fünf Kälber, in einem Verschlag ein paar Schweine, daneben der gut gefüllte Kaninchenstall seines Jüngsten. Franz half seinem Vater oft auf dem Hof, erst nur im Sommer, wenn es am strengsten war, denn er arbeitete im Nachbardorf in einer Sägerei. Immer häufiger aber molk er auch im Winter morgens die Kühe und besorgte den Stall, bevor er mit dem Fahrrad in die Sägerei fuhr auf einer nicht geteerten, abgerandeten Landstraße, wo im Frühjahr Unkräuter wie Löwenzahn, Ehrenpreis, Huflattich und Hornklee sprossen und eine Art grünen Mittelstreifen bildeten. Dann dachte er oft einen Moment lang an seinen Vater, der langsam alt wurde und immer häufiger klagte, es täten ihm alle Knochen weh.

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