Читать книгу Geisterfahrten - Theres Roth-Hunkeler - Страница 9

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Ich warte auf die letzten angemeldeten Gäste. Es ist schon ziemlich spät und draußen noch immer warm, Mitte Juni, hier tut die Klimaanlage ihren Dienst, ich fröstle ein wenig. Bald wird sich das automatische Schließsystem einschalten, bereits eingecheckte Hotelgäste, die noch in der Stadt unterwegs sind, können die Eingangstür jederzeit mit ihrer Zimmerkarte öffnen. Ein Doppelzimmer aber ist für diese längst schon angebrochene Nacht noch nicht bezogen worden. Herr und Frau Berger treffen vielleicht nicht mehr ein, eine Viertelstunde Zeit bleibt ihnen noch. Ich bin am Ende meiner Arbeitsjahre, die ich stets in Hotels und seit langer Zeit ausschließlich am Empfang verbracht habe, immer noch nicht sicher, welche Gäste lästiger sind: Jene, die schon am Vormittag ihr gebuchtes Zimmer beziehen möchten, wo doch auf allen Infokanälen steht, der Zimmerbezug sei ab vierzehn Uhr möglich, oder jene wie die Bergers, die auf den letzten Drücker erscheinen, ohne ihre späte Ankunft vorher zu melden. Oder eben gar nicht erscheinen und sich dann ärgern und ein Riesendrama lostreten, wenn sie irgendwann auf ihrer Kreditkartenabrechnung feststellen, dass wir ihnen einen Betrag für die erste Nacht belastet haben, was auch in den allgemeinen Geschäftsbedingungen steht. Unser Reservierungssystem verlangt die Angabe einer gültigen Kreditkarte.

Jetzt vernehme ich das summende Geräusch der Drehtür im Eingangsbereich zum Hotel. Durch das Glas erkenne ich eine großgewachsene Gestalt, die sich anschickt, eine kleine Gestalt sowie einen großen und einen kleinen Koffer gleichzeitig in eines der gläsernen Türabteile zu zwängen, eine Aktion, die sofort den Drehmechanismus der Tür stoppt. Schnell verlasse ich meinen Arbeitsplatz und eile zu Hilfe. Unter Herr und Frau Berger habe ich mir ein Paar vorgestellt, aber in der Drehtür stehen eine Frau und ein Junge. Ich mache ihnen Zeichen, zurückzutreten und zuerst den großen Koffer in ein Abteil zu stellen, was die Frau sofort versteht. Ich deblockiere die Tür, nehme den großen Koffer in Empfang, dann tritt zuerst der Junge ein, der seinen bunt bedruckten Kinderkoffer am Bügel hinter sich herzieht, danach die Frau.

Herzlich willkommen und Guten Abend, sage ich, und zur Dame gewandt: Sie sind wohl Frau Berger? Die Frau nickt lächelnd, weist dann auf das Kind an ihrer Hand und sagt:

Und das ist Sebastian, mein sehr müder Sohn.

Born to make records steht auf dem T-Shirt, das der Junge trägt. Seine Mutter überlässt ihm ihr Handy und weist ihn an, auf einem der Sessel in der Hotellobby Platz zu nehmen. Nun tritt sie an den Desk, hinter dem ich bereits wieder stehe, sie reicht mir ihre Kreditkarte, ich schiebe sie in das Lesegerät, und während sie die Geheimzahl eintippt, überlege ich, ob ich ihr sagen soll, dass sie und der Junge für immer in meiner Erinnerung bleiben werden als die letzten Gäste, die ich in meinem Leben je in ein Hotel eincheckte. Selbstverständlich sage ich es nicht, die Dame zieht ihre Kreditkarte aus dem Schlitz, ich reiche ihr zwei Zimmerkarten, vierte Etage, sage ich, Zimmer 407, ich begleite Sie nach oben. Sehr freundlich, sagt sie, aber nicht nötig, es gibt ja einen Aufzug, wir kommen zurecht. Sie lächelt mich an, schaut sich nach ihrem Jungen um, komm, Sebastian, sagt sie, born to make records, denke ich, und sofort fällt mir Stern, mein Bruder, ein, der es in seinem Leben zu mancherlei Rekorden gebracht hat. Ganz bestimmt hat er den Streckenrekord im Abschreiten von Mittelstreifen auf Schweizer Autobahnen inne. Nur weiß das fast niemand.

Mein Dienst ist zu Ende, ich logge mich aus, überprüfe nochmals, ob das Schließsystem funktioniert, alles bestens, ich bin zu müde, mich im Personalzimmer umzuziehen, wofür auch, so hole ich dort bloß meine Privatkleider aus meinem Spind, stopfe sie in eine Tüte und fahre mit dem Aufzug direkt in die Tiefgarage des Hotels. Unsere HR-Frau ist im Urlaub, sie hat mir für den ersten Tag ihrer Rückkehr einen Termin eingeräumt, um mit mir alles Nötige zu besprechen und meinen offiziellen Austritt aus dem Arbeitsleben zu regeln.

Wie das klingt. Als würde ich künftig gar nichts mehr tun und meine Hände für immer in den Schoß legen. Dann kannst du gleich sterben, sage ich laut zu mir selbst, steige in meinen Wagen, starte den Motor und fahre los. Allerdings habe ich alles andere vor, als zu sterben.

Ich werde schon bald eine große Reise machen, zusammen mit einer Freundin: Ostkanada, Neufundland und Labrador. Danach will ich meinen verwilderten Garten roden und mir jene Kenntnisse aneignen, die es braucht, um ihn zum Blühen zu bringen. Bestimmt hat mein Bruder ein paar Ratschläge für dieses Unternehmen, kennt er sich doch aus mit Pflanzen, mit Früh- und Spätblühern und mit aller Art Unkraut. Und dann sehen wir weiter. Neufundland passt, hat Ruth gesagt, als wir die Flüge buchten, du musst dich doch neu erfinden jetzt, da du dein Leben nicht mehr größtenteils in Hotels verbringen wirst. Dafür bin ich zu alt, habe ich zu ihr gesagt, und überdies war für Erfindungen stets mein Bruder zuständig. Wer weiß, hat Ruth gesagt, die noch einige Arbeitsjahre vor sich hat. Sie leitet eine Kita und wird sich schon bald zum ersten Mal für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen. Was Ruth auch weiß: Vor der großen Reise steht erst mal eine kleine Reise an, leider nicht zusammen mit ihr. Sie beginnt schon nächste Woche und möglicherweise ist es diese Reise, auf der ich mich neu erfinden muss. Keine Ahnung, sage ich, echt keine Ahnung. Ich habe die Angewohnheit, mit mir selbst zu sprechen, vor allem im Auto und vor allem auf Strecken, die ich im Schlaf fahren könnte. Aber ich schlafe nicht, sondern verlangsame nun das Tempo, setze den Blinker, biege von der Autobahn ab, fahre noch durch zwei Dörfer und erreiche zehn Minuten später den Ort, in dem ich seit einigen Jahren wohne. Übermorgen werde ich Stern abholen, er kennt das Reiseziel nicht. Fahrt ins Blaue, habe ich zu ihm gesagt, wir werden ein paar Tage bleiben. Stern wohnt genau sechzig Kilometer entfernt von mir, die Minimaldistanz zwischen Geschwistern, habe ich bislang gedacht. Ob Maria, seine Frau, auch mitkommen wird, steht noch nicht fest.

Oktober 1935 bis Juli 1936

Immer im Herbst kam Filomenas Vater, Kundenmetzger im Dorf, auf den Hof, der zum Wirtshaus gehörte, um ein Schwein zu schlachten. Am darauf folgenden Sonntag ging es hoch zu und her in der Gaststube des Bären. Erst Schlachtplatte, hinterher Tanz. Franz, der Wirtssohn, hat mit der schönen Filomena getanzt, immer wieder und nicht zum ersten Mal. Vom Tanzen allein kriegt man kein Kind, kanzelte die Wirtin ein paar Wochen später ihren Ältesten ab, ebenso die wohl oder übel künftige Schwiegertochter, eine Nuber. Rasch wurde der Hochzeitstermin festgelegt. Damit sich die Schande noch nicht zeigte. Geheiratet wurde in dem für die Alpennordseite wärmsten Januar seit Beginn der offiziellen Wetterbeobachtungen. Die außergewöhnliche Wärme ließ die Schneedecke der Niederungen dahinschmelzen. Filomena trug ein schlichtes Brautkleid, zu dem ein langer Schleier gehörte. Die Schande hieß Ernst und wurde sechs Monate nach der Hochzeit geboren. Im kalten und nassen Juli 1936.

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