Читать книгу Geisterfahrten - Theres Roth-Hunkeler - Страница 12
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ОглавлениеIch bin irgendwie angeknipst. Kann nachts nicht richtig schlafen, bin aber tagsüber gleichwohl nicht müde. Stern hingegen ist dauernd müde. Immer wieder gähnt er, immer wieder drohen seine Augenlider zuzufallen. Als wären noch immer die Schlafkuren wirksam, die in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit ihm gemacht wurden. Jetzt hält er einen Nachmittagsschlaf, der allerdings, laut Maria, nicht zu lange dauern dürfe, nach einer Stunde spätestens müsse er geweckt werden. Ich mache ein paar Vorbereitungen für unser Abendessen, stelle dann draußen die Sonnenschirme auf, hole kühle Getränke und Kaffee, ein Badetuch, ein großes Becken, gefüllt mit Wasser und einem Schuss Olivenöl für Sterns Fußbad, ebenso die Utensilien für die Fußpflege hinterher. Dann wecke ich ihn auf. Wie langsam mein großer Bruder geworden ist. Und wie ungeduldig ich bin. Es dauert in meinen Augen ewig, bis er sich installiert hat auf der Bank, ein Kissen unter seinem Hintern, die Füße im Becken, er trägt, der Wärme angepasst, bloß ein T-Shirt und eine Boxershorts. Stets muss ich ihn zum Wassertrinken animieren.
Du hast schön schlanke Beine, sage ich, ohne eine einzige Krampfader. Stern lächelt.
Wenigstens das, sagt er, plätschert mit seinen Füßen ein wenig im Wasser und wirkt zum ersten Mal, seit wir hier sind, ziemlich entspannt. Ich überlege, wie ich den Moment nützen und ihn zum Reden bringen könnte, ich weiß auch, worauf ich hinaus möchte, aber ich mache einen Umweg, um so vielleicht mein Ziel zu erreichen.
Welchen Beruf würdest du erlernen, wenn du nochmals jung wärst, frage ich. Viel schneller als erwartet antwortet er: Physiker.
Fände ich toll. Du hast dich ja mit allerlei Handfestem herumgeschlagen. Sogar die Spezialkonstruktionen der Maschinen hast du selber ausgetüftelt, um deine Trocken- oder Hydrosaat auf dem Gelände auszubringen.
Lange her, brummt Stern und bewegt nun seine Füße so heftig, dass das Wasser überschwappt und auch meine Hose etwas davon abkriegt.
Lass mich laut denken, sage ich und kremple dabei mein feuchtes Hosenbein hoch. Du würdest dir also in einem nächsten Leben zuerst die physikalischen Gesetzmäßigkeiten aneignen für einiges, was du dir mühsam erarbeiten musstest? Und bei mir selber denke ich, wie interessant, mein Bruder, bei dem es oft in seinem Leben ums Psychische ging, möchte Physiker werden.
Stern nickt, betrachtet eingehend seine Füße, als hätte er sie schon lange nicht mehr gesehen und äußert schließlich: Bin mein ganzes Leben lang ein Bastler geblieben. Leider.
Allerdings ein erfolgreicher Bastler, immerhin hast du Grün gegründet, hast Glück gehabt mit deiner Firma und bist doch ziemlich reich geworden damit. Stern zuckt mit den Schultern.
Geld, sagt er, Geld …
Geld war zumindest am Anfang ein Problem. Erinnerst du dich noch an die Szene, als du Vater nach Geld gefragt hast für deine Unternehmung? Nun schaut mich Stern interessiert an. Ich jedenfalls, fahre ich fort, erinnere mich noch so genau, als wäre es gestern gewesen. Du willst also mit Autobahnen dein Geld machen, hat Vater aufgebracht gebrüllt. Anstatt unseren Hof weiterzuführen und mein Nachfolger als Förster bei der Korporation zu werden, willst du von diesen verfluchten Autobahnen profitieren, die Ackerland und Wälder durchschneiden und unsere Existenz und jene der Waldtiere bedrohen. Keinen Franken, ich sag es dir klipp und klar, keinen Franken bekommst du von mir für eine solche Firma, so lange ich noch nicht unter dem Boden bin. Etwa so hat es geklungen, weißt du das noch, Stern?
Er antwortet nicht, sondern starrt schon wieder ins Leere, ich aber weiß noch, wie explosiv die Situation war und wie erleichtert ich später war, dass niemand von mir erwartet hat, einen Bauern zu heiraten und den Hof zu übernehmen. Und dass Mutter oft zu mir gesagt hat: Mach du uns bloß nicht auch noch Verdruss, wir haben schon genug davon.
Den ganzen wüsten Streit nur wegen des Geldes … Stern schaut mich nun fragend an.
Wahrscheinlich ging es um mehr als um Geld, erwidere ich, apropos Geld, weißt du eigentlich, was die Behandlung, die ich nun gleich deinen Füßen angedeihen lasse, bei einer Fachperson kosten würde?
Keine Ahnung, weißt du es denn?
Klar, ich gehe regelmäßig zur Podologin, sie nimmt hundertzehn Franken pro Behandlung.
Brauchst du Geld?
Nein, sage ich lachend und greife nach der Espressotasse auf dem Tisch und trinke sie in einem Zug leer. Stern tut es mir gleich, es schüttelt ihn aber unmittelbar nach dem Schlucken.
Ekelhaft bittere Brühe, stößt er hervor, er brauche Zucker in den Kaffee. Zucker. Drei Löffel mindestens.
Ach, stimmt, das habe ich vergessen, tut mir leid, nimm einen Schluck Wasser, sage ich, breite dann ein Tuch vor dem Becken am Boden aus und bitte ihn, seine Füße daraufzulegen.
Stern gehorcht und macht Anstalten, sich hinunter zu beugen, um seine Füße trocken zu reiben, aber ich sehe, wie viel Anstrengung ihn das kostet. Lass sie an der Luft trocknen, das dauert nicht lange, sage ich und drapiere ein kleineres Tuch auf meinen Oberschenkeln. Nach einer Weile weise ich ihn an, seine Beine hochzuheben und sie so zu platzieren, dass seine Füße auf meinen Oberschenkeln zu liegen kommen. Ächzend tut er, was ich von ihm verlange.
Ruhig halten, wenn ich die Nägel schneide, bitte ich, greife zum Nagelclip und nehme mir Sterns rechten Fuß vor. Der Nagel der großen Zehe reicht weit über die Zehenkuppe hinaus, er ist verdickt und das Nagelbett ein bisschen entzündet. Vorsichtig setze ich den Clip so an, dass sich ein Stück Nagelplatte zwischen den Schneidstücken befindet, dann betätige ich den kleinen Hebel. Das abgeknipste Nagelstück spickt weg und landet irgendwo, jedenfalls nicht auf dem Tuch auf meinen Beinen. Der nächste Nagel ist fast eingewachsen und verlangt nach der Eckenzange, die sich in meinem Pediküre-Set befindet. Meine semiprofessionelle Ausstattung entlockt Stern einen bewundernden Laut, und er hält während der gesamten Schneideprozedur ganz still.
Stell dir vor, über welche Strecken dich diese Füße hier schon getragen habe, äußere ich, während ich seine Nägel feile und mich dann an die Bearbeitung der Hornhaut machen will. Stern brummt erst etwas Unverständliches und klagt dann, seine Beine würden schmerzen, er müsse sie wieder eine Weile auf den Boden stellen. Ich nutze die Gelegenheit und hole die Hornhautfeile im Bad, mit dem Bimsstein allein komme ich dem Zustand seiner Füße nicht bei. In Ermangelung eines speziellen Produktes für die Füße nehme ich auch mein Gesichtspeeling mit, zur Not wird man Sterns Füße auch damit bearbeiten können, ebenso greife ich nach der Tube mit der Fußcreme. Wieder draußen, stelle ich zwei Stühle mit Polster nebeneinander, damit Sterns Beine besser abgestützt werden, klopfe auf die Polster: Bitte, Beine wieder hoch, es ist nun bequemer für dich. Er tut, was ich verlange, und während ich mich mit geneigtem Kopf konzentriert der Hornhaut an seiner linken Ferse widme, die ich zuerst mit der groben, dann mit der feinen Feilenseite abrasple, frage ich: Wie ist es eigentlich für dich, zuschauen zu müssen, wie dein Lebenswerk verschwindet? Kurz blicke ich zu Stern hoch, er hat die Augen geschlossen, vielleicht genießt er es ja, dass sich jemand um seine Füße kümmert. Ich lege die Feile weg, wechsle zum Bimsstein, und als Stern nicht antwortet, rede ich weiter. Du weißt doch, dass immer mehr Autobahnen rundum saniert worden sind. Er zuckt nur mit den Schultern. Laut Verkehrsexperten, fahre ich fort, sollen ein neues Leitplankensystem und ein neuartiger Belag über alle Fahrbahnen hinweg mehr Flexibilität bringen.
Stern hat jetzt die Augen geöffnet, schaut mich aber nicht an, und so rede ich weiter, nun etwas langsamer: Stell dir vor, die begrünten Mittelstreifen verschwinden wohl gänzlich. Sie werden entfernt und durch Betonmauern, Stahlstreifen und andere Abschrankungen ersetzt.
Stern nickt, brummt wieder etwas Unverständliches und ich spüre, dass der Bimsstein, mit dem ich noch immer seine Fersen bearbeite, etwas wärmer geworden ist. Ich rasple und rasple und bleibe am Thema dran: Immerhin wird ein kleiner Teil jener Grünflächen entlang der Nationalstraßen, die meist als Lärmschutz dienen, aufgewertet werden, aber die begrünten Mittelstreifen verschwinden mehr und mehr. Wie findest du das denn? Nun halte ich kurz inne, um zu sehen, ob mein Bruder in irgendeiner Weise auf meine Frage reagiert, aber er bleibt unbewegt. Erst nach langem äußert er: So geht halt die Zeit.
Am liebsten würde ich ihn schütteln, um seinen Panzer aus Resignation zu durchbrechen, stattdessen rasple ich nun bloß etwas heftiger die Hornhaut an seinen Fußballen weg. Bereits tun mir der rechte Arm und der Rücken weh, das Verharren in gebeugter Position ist unbequem, aber ich gebe nicht auf. Mit den Fingerkuppen suche ich Sterns Füße nach weiteren verhornten Stellen ab. Deine Hühneraugen, sage ich dann, musst du dir von einem Podologen entfernen lassen, das traue ich mir nicht zu.
Die tun ja nicht weh, erwidert er.
Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, trage ich nun das Peeling-Gel auf und massiere es in die Fußhaut ein, dann fordere ich ihn auf, seine Füße nochmals ins Becken zu tauchen, das Wasser ist wohl mittlerweile kalt, aber das spielt keine Rolle. Ich knie mich hin, rubble seine Füße im kalten Wasser durch und entferne so Gel und Hautschüppchen. Nach dem erneuten Trocknen muss Stern sie nochmals auf meine Oberschenkel legen und nun beginne ich, die Füße meines Bruders reichlich mit Arnika-Fußcreme einzucremen. Fußmassage, sage ich dazu und spüre, dass mir diese Berührungen fast zu intim sind.
Ich war zehn, als mein Bruder mich auf seinem Motorrad mitnahm und mit mir, platziert hinten auf dem Beifahrersitz, durch das Entlebuch und das Emmental in einen Vorort von Bern fuhr. Schon auf den ersten Kilometern hatte der Fahrtwind mein Kopftuch davongetragen. Ich hatte Angst in den Kurven, Angst, wenn uns ein Auto überholte, ich hatte Angst vor dem Körper meines Bruders, an den ich mich schmiegen musste, dessen Bauch ich umfassen musste mit meinen Armen, ich hatte Angst, mein Bruder würde die Route nicht kennen und wir würden nie an unserem Ziel ankommen, bei einer Kusine nämlich, bei der ich ein paar Ferientage verbringen würde. Aber wir kamen an, und wie, waren wir doch in einem Restaurant verabredet, in dem es ein Aquarium gab, was ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Wir nahmen in einem vornehmen Restaurant das Abendessen ein, schrieb ich nach den Frühlingsferien über mein schönstes Ferienerlebnis, und als mein Bruder sich verabschiedete, weinte ich. Schnell ging ich wieder zum Aquarium und betrachtete die Fische, damit niemand sah, dass ich weinte. Warum weintest du?, schrieb der Lehrer unter meinen Aufsatz. Ich wusste es wohl selbst nicht, hatte ich mich doch unglaublich auf die Reise und auf die Ferientage gefreut. Schon damals allerdings war mir bewusst, dass auch das, worauf man sich freut, alles Schöne also, vorbeigehen würde. So hat sich in die Vorfreude und in jeden einzelnen Ferientag bereits ein Vorschmerz über das unabänderliche, künftige Ende des Aufenthaltes gemischt. Die Fahrt war lang und beschwerlich gewesen, mir taten alle Glieder weh, und heute denke ich, mir wurde erst in dem Moment bewusst, als mein Bruder sich verabschiedete, dass ich meine viel ältere Kusine und ihren Mann gar nicht richtig kannte. Die beiden kamen zwei-, dreimal pro Jahr zu Besuch, tranken eine Flasche Wein mit meinen Eltern, erzählten von irgendwelchen Leuten, dann gingen sie wieder weg. Der Mann meiner Kusine war Kaminfeger, meine Kusine war Hausfrau, sie hatten zwei Mädchen adoptiert, weil sie keine eigenen Kinder bekommen hatten. Wirkliche Adoptivkinder hatte ich noch nie gesehen, diesen Status kannte ich nur aus Büchern. Als ich die zwei endlich kennenlernte, sie waren am Wochenende bei einer Freundin der Kusine gewesen, war ich enttäuscht. Sie sahen aus wie gewöhnliche Kinder, die zu meiner Kusine und ihrem Mann Mama und Papa sagten und nicht die ganze Zeit darüber nachdachten, dass sie bloß Adoptivkinder waren.
Wie lange hattest du eigentlich ein Motorrad?, frage ich in Richtung meines Bruders, ohne die Massage zu unterbrechen. Keine Antwort. Ich blicke hoch und sehe, dass Stern weint.
Was soll ich nun tun? Stern hat diverse Gründe zu weinen. Vielleicht weint er, weil er alt ist. Da gibt es keinen Trost. Mit dreiundachtzig sei man alt, das schlecke keine Geiß weg, hat er auf der Fahrt hierher gesagt. Oder weint er, weil er zwei Söhne verloren hat? Oder weil das Buschwerk der begrünten Mittelstreifen auf den Autobahnen gerodet wird, da seine Pflege, über Jahre wichtigster Auftrag von Grün, zu gefährlich und der Blendschutz, den es bot, obsolet geworden ist? Und soll ich so tun, als bemerkte ich das Weinen nicht?
Hast du vielleicht Heimweh?, frage ich schließlich. Aber Stern antwortet nicht und so schlage ich vor: Wir lassen die Fußcreme noch ein wenig einwirken, dann wird die Haut an deinen Füßen so zart wie die eines Babys. Lauf also noch nicht gleich los.
Wohin denn auch, äußert er, und es klingt nicht wie eine Frage. Dann wischt er sich mit einer Hand über das Gesicht.
Warte kurz, sage ich, ich hole Taschentücher.
Sommer und Herbst 1938
Filomena konnte auch ihr zweites Kind, Walter, nicht stillen. An einem Abend voller Abendrot – den Tag über hatte es des Öftern schwach geregnet – war es in ihrem Schlafzimmer im oberen Stockwerk des Wirtshauses zur Welt gekommen. Eine Hebamme und Filomenas Mutter waren bei der Geburt dabei gewesen. Zwar hatte auch Ernst als Säugling ab und zu geschrien, meist nach dem Trinken, aber Walters Dauergeschrei wurde bald unerträglich. Er litt an Koliken, ausgelöst wohl von der verdünnten Kuhmilch, die ihm verabreicht wurde, denn Kindermehl für die Zubereitung eines Fläschchens leistete sich niemand im Dorf. Walter schrie tagsüber, er schrie abends und er schrie nachts. Auf dem Dachboden, denn dorthin wurde er über Nacht gebracht, in einen Wäschekorb gebettet, damit niemand sein nervtötendes Geschrei mehr hören musste. Filomena hörte es dennoch, sie lag wach, aber es war ihr untersagt, aufzustehen und zu ihrem Kind zu gehen. Einmal, an einem Sonntagnachmittag, als das Geschrei wieder nicht aufhören wollte, packte Franz den Säugling und zeigte seinem Söhnchen den Meister. Dabei schrie er ihn an: Du sollst schlafen, kapierst du, schlafen sollst du. Walter brüllte nun so heftig, dass er fast keine Luft mehr kriegte und blau anlief. Sein Vater beförderte ihn unsanft wieder zurück in die Wiege, stürzte hinaus und überrannte beinahe seine Frau, die in der offenen Tür stand, schockstarr, bis Bewegung in sie kam und sie Walter aus der Wiege zerrte, ihn kopfunter hielt wie ein totes Kaninchen und ihm immer wieder kleine Klapse auf Rücken und Po verabreichte und schrie: Atme, atme. Dann rannte sie mit dem japsenden Kind in ihr Elternhaus. Ihre Mutter nahm Walter in den Arm und wiegte und wiegte und streichelte und tröstete ihn und schickte Filomena dann in ihr eigenes Bett, damit sie sich endlich ein wenig ausruhen konnte. Wo der gut zweijährige Ernst in dieser Zeit war, wer weiß das.