Читать книгу Geisterfahrten - Theres Roth-Hunkeler - Страница 13
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ОглавлениеStern, geerdet wie kein Zweiter und gleichzeitig ein Himmelskörper. Sein Bart sprießt üppig, wächst noch immer schnell und lässt ihn immer wieder verstruppt aussehen. Er verwildert. Wie ein alter Kater, nur sind alte Kater in der Regel mager. Für einen Mann, der sein Leben lang unter freiem Himmel gearbeitet hat, bei jedem Wetter draußen war und Maschinen bediente und dessen Tagwerk erst spät abends endete, für einen, der über Jahrzehnte die Jahreszeiten und die wachsenden und abnehmendem Tage und die steigenden und fallenden Temperaturen und die Gewitter und die Stürme am eigenen Leibe erfahren hat, für solch einen ist es wohl noch schwieriger, alt zu werden und nun den größten Teil der Zeit drinnen zu verbringen, schwieriger, als es für Bürogummis und Stubenhocker ist, so nennt Stern alle, die mit dem Kopf arbeiten. Für ihn ist die radikale Beschneidung seines Radius wohl sehr schmerzlich. Weil Stern zittrig ist, beträgt seine Betriebszeit draußen höchstens noch eine halbe Stunde. Mehr leistet sein Körper nicht mehr. Zwar könnten seine Beine mehr bewältigen, ein wenig Restkraft ist in den Beinmuskeln geblieben, aber die Zitteranfälle ermüden Stern und weichen seinen einst so gestählten Körper auf. Denn längst hat sein Körper die Straffheit verloren, das Fleisch die Festigkeit. Könnte man dieses Zittern abstellen, wäre viel gewonnen, sagt er immer wieder. Und er fürchte vor allem die Nacht.
Die Nacht? Er nickt.
Ja, die Nacht. Er könne es nicht erklären, sagt er und schaut dabei ins Leere.
Hast du denn quälende Träume?, bohre ich nach. Er macht nur eine wegwerfende Handbewegung. Träume, sagt er in verächtlichem Ton dazu. Stern fürchtet wohl die Schwärze der Nacht. Ihre dunkle Stille. Es verstört ihn wohl die Abwesenheit jeder Bewegung. Und was soll er denn tun, in der Nacht, wenn es schon schwierig ist, den Tag irgendwie hinter sich zu bringen? Einer, der nicht liest, bloß ein bisschen in der Lokalzeitung blättert. Einer, der nicht mehr gerne Karten spielt. Keine Rätsel löst, kein Radio hört, der sich nicht sonderlich für Sportsendungen und Spieleshows im Fernsehen interessiert. Einer, der sich bis an der Schwelle zum Alter mit nichts anderem beschäftigte als mit Arbeit. Arbeit mit den Händen, Arbeit unter hohem Körpereinsatz. Dieser alte Menschenschlag stirbt allmählich aus, in unserer Familie ganz sicher. Unser Vater war auch so. Nur Linus, Sterns Sohn, hat sich dem verweigert.
Sterns Körper lässt ihn nun im Stich. Als das Zittern immer stärker wurde, gab es ein paar Sitzungen bei der Physiotherapie. Und es habe tatsächlich ein paar Morgen gegeben, an denen er mit den Übungen, die ihm dort gezeigt wurden, begonnen habe, sagt er, als ich nachfrage. Wir haben eben das Frühstück beendet.
Zeig mir bitte die Übungen, fordere ich ihn auf. Jetzt lacht er und sagt: Gut, wenn du unbedingt einem Alten beim Turnen zuschauen willst. Ich werde gleich mal mit dem schwierigsten beginnen.
Bitte nicht, du musst dich doch zuerst ein wenig aufwärmen. Stern aber schüttelt den Kopf, steht langsam auf, schiebt einen Stuhl zur Seite, geht in die Mitte des Raumes, schaut mich an, lächelt.
Die Schwalbe, sagt er, mal schauen, ob ich sie noch hinkriege. Er breitet die Arme waagrecht aus, verlagert sein Gewicht auf das linke Bein und hebt das rechte langsam hoch. Tatsächlich versucht er sich an der Standwaage. Und scheitert. Er stürzt mit Gepolter. Ich erstarre. Dann springe ich auf, beuge mich über ihn, der aufzustehen versucht, es aber nicht schafft.
Warte, ich hole Hilfe. Nur wo, nur wie, durchfährt es mich, als ich kopflos die Treppe hinunterrenne und die Haustüre aufreiße. Da steht doch tatsächlich ein Mann auf dem Vorplatz und betrachtet Ruths Ferienhaus. Er späht es nicht aus, ist nicht bestrebt, um jeden Preis einen Blick in einen der Innenräume zu erhaschen, sondern er steht ruhig da und lässt das gemauerte Gebäude auf sich wirken. Ich kann ihn gut verstehen, denn dieses Haus wirkt auf manche Passanten anziehend in seinen harmonischen Dimensionen und seinem zurückhaltendem Gelb. Und auch ich habe die Angewohnheit, auf Spaziergängen durch die Dörfer oft stehen zu bleiben, Häuser zu betrachten und sie auf mich wirken zu lassen.
Nun aber stürme ich aus diesem gelben Haus direkt auf den Mann zu, der ganz versunken scheint in seinem Anblick und mich überrascht, fast erschrocken anschaut, als ich rufe: Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir vielleicht helfen? Als er nicht antwortet, stelle ich ihm dieselbe Frage auf Italienisch und dabei wird mir klar, dass es sich bei ihm um den Mann handelt, der mir vorgestern beim Abendessen im Garten des Albergo aufgefallen war.
Guten Tag, sagt er nun, ich spreche Deutsch. Wie soll ich Ihnen denn helfen?
Guten Tag, sage auch ich nun, bitte entschuldigen Sie, ich bin Lisa Hauser, und eben ist ein älterer Mann hier im Haus gestürzt und ich schaffe es nicht allein, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Als der Fremde noch immer schweigt, erkläre ich: Wir sind im Urlaub, er und ich, eine Freundin hat uns dieses Haus für ein paar Tage überlassen, wir kennen niemanden hier. Nun lächelt der Fremde, streckt mir seine Hand entgegen und stellte sich vor: Erik Sanders, auch im Urlaub, ich logiere im Albergo, wir haben uns doch neulich dort gesehen, nicht?
Ich nicke, wahrscheinlich erröte ich. Er befinde sich auf einem morgendlichen Dorfrundgang, aber klar helfe er mir, fährt er fort und macht einen Schritt auf mich zu. Ich lächle diesen Erik Sanders erleichtert an, bedanke mich, bitte ihn, mir zu folgen und eile voraus, trete ins Haus, steige die Steintreppe hoch und gehe direkt ins Wohnzimmer, wo Stern noch immer am Boden liegt. Er hat sich auf den Rücken gedreht und versucht immer wieder, hochzukommen, mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber es gelingt ihm nicht.
Ich habe Hilfe geholt, sage ich zu ihm, und schon beugt sich dieser mir völlig unbekannte Helfer über ihn und fragt, wo er Schmerzen habe. Mein Bruder schweigt.
Wo tut es dir am meisten weh?, fasse ich nach. Stern schüttelt bloß den Kopf und streckt uns beide Hände entgegen. Dieser Sanders kniet nun neben meinem Bruder, ich tue es ihm auf der anderen Seite gleich, und er sagt zu Stern: Wir werden nun versuchen, Sie aufzurichten, um zu überprüfen, ob Sie sitzen können. Stern schaut mich ängstlich an, deutet aber ein Nicken an. Also fassen wir ihn vorsichtig unter und richten ihn mit ein wenig Hilfe seinerseits langsam auf. Das Sitzen klappt, aber er beginnt sofort heftig zu zittern. Sanders gibt mir einen fragenden Blick.
Keine Sorge, das sind seine Medikamente, die dieses Zittern auslösen, es ist nicht neu, erkläre ich und bin ungemein erleichtert, als Stern es ein wenig später mit unserer Unterstützung tatsächlich geschafft hat, aufzustehen und sich nun, rechts und links von uns gestützt, mit kleinen Schritten zum Sofa begibt, wo er sich, noch immer gestützt von uns, langsam und mit einem Ächzen niederlässt. Vorsichtig heben wir seine Beine an und lagern sie hoch.
Hast du Schmerzen?, frage ich.
Wie ist denn der Sturz passiert, fragt Sanders gleichzeitig. Sind Sie über einen Gegenstand gestolpert? Als mein Bruder nicht antwortet, wiederholt Sanders seine Frage nochmals lauter und deutlicher und schaut Stern dabei forschend und freundlich zugleich an. Wissen Sie noch, wie sich der Sturz zugetragen hat? Jetzt nickt Stern und sagt: Schwalbe. Standwaage, übersetze ich.
Standwaage?, wiederholt Sanders fragend. Ein winziges Lächeln zeigte sich auf Sterns Gesicht, als er bekräftigt: Genau, die Standwaage, meinetwegen, wir sagen Schwalbe dazu.
Ballettübungen sollten Sie vielleicht künftig besser unterlassen, meint Sanders und lacht auch ein wenig, ich pflichte ihm bei: Hast du gehört, Stern, lass die Standwaage künftig bleiben. Mit Kapriolen wie der Schwalbe ist nun leider definitiv Schluss. Stern schweigt wieder, er hält die Augen eine Weile lang geschlossen, fasst dann mit einer Hand an seinen Brustkorb rechts und äußert leise: Ein, zwei Rippen angeknackst, glaub, nicht schlimm. So ist das halt.
Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, sage ich zu Sanders, als ich ihn nach unten begleite. Ich biete ihm einen Kaffee an, aber er lehnt ab. Gerne ein anderes Mal, nun aber würde er lieber seinen Dorfspaziergang fortsetzen. So begleite ich ihn vor das Haus, wo wir noch eine Weile stehen bleiben.
Geben Sie Ihrem Vater ein Schmerzmittel, rät er, angeknackste Rippen können heftig wehtun. Ich schaue ihn forschend an.
Sind Sie Arzt? Er verneint.
Zwar habe er viele Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet, allerdings in der Verwaltung, aber er habe eine Zeit lang bei der Pflege seines eigenen Vaters mitgeholfen. Dieser sei auch mehrere Male gestürzt, sein letzter Sturz habe schießlich zur Überweisung in ein Pflegeheim geführt, wo er nach nicht einmal drei Wochen verstorben sei. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll zu Sanders Ausführungen, der noch immer neben mir steht. So schweigen wir, es ist nicht unangenehm, und schließlich fragt er:
Wie alt ist Ihr Ballettvater denn? Ich muss über diese neue Bezeichnung für Stern lachen. Stern sei dreiundachtzig, und er sei nicht mein Vater, sondern mein Bruder.
Stern? Ich nicke.
Genau, Stern, so heißt mein Bruder, der mir heute Vormittag die Standwaage vorführen wollte. Der Name ist ein Anagramm, füge ich an, als Sanders mich noch immer anschaut, und er enthält eine lange Geschichte. Ich beschließe, keine weiteren Erklärungen mehr abzugeben, und so streckt er mir die Hand entgegen. Ich nehme sie.
Haben Sie vielen, vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Sanders hält meine Hand ein klein wenig länger als üblich.
Sehr gerne geschehen, Lisa, wirklich, und passen Sie gut auf Ernst auf. Falls Sie Unterstützung brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden können. Ich nicke, dann lässt er meine Hand los, wendet sich ab, geht ein paar Schritte das Sträßchen hoch, dreht sich nochmals um und winkt mir zu, bevor er in der nächsten Kurve verschwindet.
Im Wohnzimmer ist Stern auf dem Sofa eingeschlafen. Ich befühle seine Hände, sie sind kühl, so decke ich ihn mit einer Tagesdecke zu, setze mich auf den Sessel gegenüber dem Sofa und betrachte ihn. Er muss meinen Blick gespürt haben, denn nach ein paar Momenten öffnet er die Augen schon wieder:
Hör auf, mich anzustarren.
Ja, in Ordnung, aber wie geht es dir?
Wie immer.
Versprichst du mir, nicht aufzustehen, bis ich wieder da bin? Ich habe etwas zu erledigen und muss dich für einen Moment allein lassen. Es dauert nicht lange.
Kein Problem. Stern versucht, sich auf die Seite zu drehen, stößt aber einen kleinen Fluch aus dabei und gibt das Unterfangen auf. Als ich vor dem Sofa stehen bleibe, fährt er mich an: Los, geh endlich, bin kein Kind, das du hüten musst, auch wenn ich auf die Schnauze gefallen bin.
Er sei zum Glück nicht auf die Schnauze, sondern irgendwie auf die Flanke gefallen, präzisiere ich, was ihm zwar nun wehtue, aber nicht vorzustellen wäre, wenn er sich das Gesicht verletzt und die Zähne eingeschlagen hätte. Er macht bloß eine wegwerfende Handbewegung, und mir fällt ein, dass ich ihm noch kein Schmerzmittel verabreicht habe. Schnell gehe ich in mein Schlafzimmer nebenan und hole aus meiner Handtasche eine Packung Novalgin, die ich immer bei mir habe, um gegen Kopfwehattacken gerüstet zu sein. Flüchtig überfliege ich den Beipackzettel, ich kenne Sterns Medikamentenmix nicht im Detail. Maria hat mir seine gefüllte Medikamentenbox überreicht und mich gebeten, den daraus hervorgehenden Verabreichungsplan genau einzuhalten, was ich bis jetzt befolgt habe. Ich drücke ein Novalgin aus dem Blister, hole in der Küche ein Glas mit etwas Wasser und gehe nochmals zu Stern ins Wohnzimmer.
Das hier hilft gegen die Schmerzen, sage ich und zeige ihm die Tablette. Er macht den Mund auf, ich lege ihm das Medikament auf die Zunge, reiche ihm das Glas und er führt es unter heftigem Zittern zum Mund, verschüttet einen Teil des Inhalts, es gelingt ihm aber, in seiner halbliegenden Position die Tablette zu schlucken, man merkt, darin ist er geübt.
Schlaf ein wenig, sage ich.
Mache ich.
Ich gehe nun.
Ist in Ordnung.
Ich verlasse das Haus und eile die paar Minuten zum Albergo, inständig hoffend, Sanders dort nicht anzutreffen. Ich betrete die Lobby, beim Empfang sind zwei ältere Damen im Gespräch mit einer freundlichen Rezeptionistin. Mir bleibt Zeit, sie zu betrachten. Sie ist dezent geschminkt, das dunkle Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trägt einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse, den Blazer hat sie über den Stuhl gehängt, Strümpfe und Schuhe kann ich erst sehen, als ich an den Desk trete, nachdem die beiden Damen sich verabschiedet haben. Schuhe und Strümpfe sind dunkel und elegant und machen den Auftritt der jungen Frau perfekt oder fast perfekt. Im Hotel, in dem ich bis vor Kurzem gearbeitet habe, wäre es für eine Rezeptionistin undenkbar, ihren Blazer nicht zu tragen.
Wie kann ich Ihnen helfen?, fragt Anna Moretti, so heißt sie, das entnehme ich dem Namensschild auf dem Desk. Sie spricht Italienisch mit mir, wechselt dann aber zu Deutsch und versteht mein Anliegen sofort. Sie reicht mir die Weinkarte und sagt: Herr Sanders bewohnt Zimmer 17.
Die Wahl fällt mir leicht: Eine Flasche Le Volte, ein Rotwein, den nicht nur ich, sondern auch viele unserer Hotelgäste stets geschätzt haben. Eine Karte, um Sanders einen Gruß zu hinterlassen, habe ich nicht. Anna Moretti löst auch dieses Problem und reicht mir eine Ansichtskarte des Hotels im Sommerflor und einen Stift. Schnell schreibe ich auf die Rückseite: Lieber Erik Sanders, danke nochmals sehr herzlich für Ihre Hilfe. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt und schicke Ihnen viele freundliche Grüße, Lisa Hauser. Einen Moment lang überlege ich, meine Handynummer auf der Karte zu hinterlassen, aber tue es dann doch nicht. Anna Moretti reicht mir sogar einen Briefumschlag, und während ich die Karte hineinstecke und auf die Vorderseite in Großbuchstaben Für Erik Sanders, Zimmer 17 schreibe, klingelte sie bereits nach einem Zimmermädchen.
Wieder im Haus, schleiche ich mich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Stern scheint nun tief zu schlafen, jedenfalls erwacht er nicht, obwohl die Bodendielen knarren. Endlich habe ich Zeit, zu überlegen, was nun geschehen soll. Aus der Küche hole ich einen Kaffee, gehe damit nach unten in den Portico, wo die Mittagswärme noch immer angenehm einfällt. Nur erscheint anstelle eines konkreten Plans für die nächsten Tage unvermittelt Sanders Gesicht vor meinem inneren Auge. Ob er mittlerweile zurück ist im Hotel? Ob er Rotwein, alkoholische Getränke überhaupt mag? Ich glaube, dank meiner jahrzehntelangen Tätigkeit in der Hotellerie ein Gefühl für Menschen, für ihr Trinkverhalten und ihre Vorlieben entwickelt zu haben, aber möglicherweise liege ich bei Sanders vollkommen falsch. Egal, dann kann er ja den Wein stehen lassen oder ihn verschenken, an die junge Rezeptionistin Anna zum Beispiel, aber ich vermute, dass er nicht der Typ ist für solche Aktionen, die sehr oft anders motiviert sind. Wie viele einsame Männer sind mir begegnet während meiner Zeit hinter den Empfangsdesks, wie viele haben mich auf einen späten Drink einladen wollen, haben gewartet und gewartet, bis die Kollegen in der Bar, diskret zwar, aber unmissverständlich, mit dem Aufräumen begonnen haben? Ich bin nie mitgegangen auf ein Zimmer, kein einziges Mal, und es ist mir nie schwergefallen, professionell zu bleiben und solche Angebote freundlich und bestimmt zugleich abzulehnen.
August und Oktober 1938
Auf einem verschwommenen Schwarzweißbild im Kleinformat und mit gezackten Rändern steht Filomena unter einem Nussbaum auf dem Vorplatz des Wirtshauses mit einem Säugling im Arm. Ob mit Ernst oder mit Walter weiß niemand mehr. Auf einem Familienbild sitzen Filomena und Franz auf zwei Stühlen im Freien, in ihrem Rücken eine kräftige, stark belaubte Hecke, über ihren Köpfen die Drähte einer fix montierten Vorrichtung zum Wäsche aufhängen. Franz hält ein blondes Bübchen auf den Knien. Ernst. Es ist ein Sonntag im Sommer 1938. Ernst ist hell gekleidet, trägt eine kurze Hose, ein Kurzarmleibchen und ist barfuß. Er blickt ganz heiter in die Welt. Franz trägt ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte, ein schwarzes Gilet zu einer dunklen Hose, seine Schuhe sieht man nicht, weil sich seine und auch Filomenas Füße im Schatten befinden. Sein dichtes, dunkles Haar etwas wild, die großen Ohren gut sichtbar. Er lächelt. Neben ihm sitzt Filomena, den Säugling Walter im Arm. Sein Kopf ruht auf ihrer rechten Schulter und ist zur Hecke hin gedreht. Er trägt ein helles Mützchen, ein wollenes Babyjäckchen und ist in ein Umtuch gehüllt. Vielleicht schläft er, das Bild ist nicht sehr deutlich. Filomena trägt ein Blümchenkleid, darüber eine gestreifte Halbschürze. Ihr gekräuseltes Haar hat sie zu bändigen versucht, man erkennt die Andeutung eines Seitenscheitels. Sie lächelt nicht, sie schaut nicht auf den Säugling, ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, sie ist noch keine neunundzwanzig Jahre alt, wirkt aber früh gealtert.
Auf dem zweiten Familienbild ist Herbst, man sieht es an den wärmeren Kleidern der Kinder. Die Familie steht mitten auf einer nicht geteerten Straße, im Rücken ein großes Wohnhaus mit einer Scheune. Filomena hat Walter auf dem Arm. Er ist gewachsen, sein Kopf muss nicht mehr gestützt werden. Gekleidet in warme, gestrickte Babysachen und Wollsöckchen schaut er direkt in die Kamera. Filomena trägt ein wadenlanges, dunkles Kleid, hochgeschlossen mit langen Ärmeln, dazu dunkle Strümpfe und dunkle Schuhe. Wieder ihr ernster Blick. Hinter ihr ragt der Holzmast einer Stromleitung in die Höhe. Franz steht links von ihr, er trägt dieselben Kleider wie auf dem ersten Bild, nur eine andere Krawatte. Auf seinem Arm hält er Ernst, und zwar so hoch, dass sich ihre Köpfe ganz nahe sind. Beide lächeln. Filomena ist rundlich und wirkt neben dem hageren Mann kleiner, als sie wohl war.
Zweimal Bilder einer Familie, deren Zeit schon bald abgelaufen sein wird.