Читать книгу Ich bin mein ganzes einziges irdisches Leben lang mit mir selbst zusammen - Thomas Becker - Страница 4

28. Februar 2021

Оглавление

Da sitze ich nun in meiner Wohnarbeitsküche. Die zweite Woche in meiner neuen Bleibe neigt sich dem Ende zu. Trotz meiner finanziellen Reserven frage ich mich schon Monate vor dem Bankrott, wie ich aus meinen Hirngespinsten und schierer Faulheit gute Butter machen kann. Ehrliche Arbeit ist nicht mehr. Aber YouTuber will man auch nicht werden, oder?

Als jüngstes von fünf Kindern einer Arbeiterfamilie aus einer sächsischen Kleinstadt kommend, hat mich – mit einem mehrjährigen studentischen Zwischenhalt in Sachsen-Anhalt – vergebene Zuversicht in puncto Partnerschaft in Dortmund stranden lassen, wo ich über vier Jahre in einer WG in der Nordstadt untergekommen war und zunächst als Backereiverkäufer und Callcenter-Agent arbeitete: Mehr und weniger ehrliche Arbeit. Beides hat aber etwas von YouTube: Immer schön freundlich!

Und nun bin ich, meine ich, an einem sehr wichtigen Meilenstein angekommen: In eigenen vier Wänden und nun mit jenen Tätigkeiten konfrontiert, die das Kostüm meines Lebens darstellen können – gewebt aus dem Roten Faden meiner ersten dreißig Lebensjahre. Jetzt kommt es also drauf an, jetzt hast du doch, was du wolltest, Thomas! Warum tust du dich seit deinem Umzug so schwer? Was hält dich davon ab, durchzustarten?

Schmerz beiseite.

Das Schreiben und die Lebensberatung sind im Grunde schwer voneinander zu trennen. Ich könnte gar nicht glaubhaft als Lebensberater auftreten, wenn Stimme, Schreibe und Sprache nicht überzeugend, beziehungsweise nicht von sich und von einander überzeugt wären. Psychologie und Denken haben so viel mit Sprache zu tun, dass sie zurecht zu einer schieren Waffe verkommen, vollgeladen und entsichert. Ich habe Sie, werte Leser, also völlig in der Hand.

Passen Sie auf, ein Klassiker: Denken Sie bitte jetzt nicht an: einen blauen Elefanten...

Haben Sie an einen gedacht? Haben Sie versucht, nicht an einen blauen Elefanten zu denken? Es ist völlig egal. Hauptsache, es bewegt sich etwas. Einzelne Wörter können ein Strohfeuer auslösen. Warum liegt hier eigentlich Stroh? Gern geschehen – verdorbene Internetgeneration!

Die Literatur ist mein Weg, Ideen zur Lebensführung ins Gespräch oder Denken zu bringen. Und ich sage bewusst nicht: Sachliteratur. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich liebe Informationen! Zufälliger Artikel auf Wikipedia? Warum nicht?! Jedoch versteckt sich hinter so manchem vermeintlichen Wissen, hinter so mancher Lehre oder auch Konsens der Fachwelt die Gefahr, dass wir all das für bare Münze nehmen.

Münzen haben ja meistens zwei Seiten. Und so manche Münze erscheint schwerer und wertiger als andere. Doch der Anblick kann täuschen – und der Goldüberzug schneller von der Holzmünze abblättern als man denkt. Wer bringt diese Münzen in Umlauf, und warum? Und wessen Köpfe werden da eigentlich abgebildet? Nun ja, Zeit, dass wir unsere eigenen Goldesel werden, gewissermaßen.

Die folgenden Seiten sollen hierfür Pioniersarbeit leisten: Eine pseudopsychologische Auseinandersetzung mit mir selbst, in Form eines Tagebuchs, das als öffentliche Bühne fungieren soll. Ich laufe mitunter bestimmt Gefahr, Dinge von mir preiszugeben, die man von seinem potenziellen Lebensberater nicht hören will – aber genau darum soll es ja gehen: Um Grenzgänge.

Sagen wir, ich bin eigentlich Künstler und berate obendrein Menschen. Nur so nebenbei. Und nehmen wir einfach mal an, dass auch ich nur ein Mensch sein könnte, der zeigen möchte, wie man das mit dem Fragenstellen anstellen sollte: Indem er sich jeden Tag die Begeisterung für das Leben an sich, aber auch für sein eigenes Leben förmlich erfragt. Ich bin eher Künstler als Dienstleister – kleine Randnotiz fürs Finanzamt.

Solche Tagebücher verkaufen sich eigentlich erst dann, wenn der Autor schon berühmt oder schon tot ist. Wieso auch etwas über einen Menschen erfahren, der noch nichts vorzuweisen hat? Hm, damit Sie sich – oder damit du dich von meiner Überzeugung überzeugen lassen kannst? Und vielleicht bin ich ja der Benjamin Button der Literatur-Industrie und schreibe im Laufe der Zeit immer besser, der Abwechslung halber? Deswegen soll mir auch gestattet sein, Eckhart Tolles Hauptwerk Jetzt! als Gehhilfe zu benutzen, das maßgeblich meine Beratungsphilosophie beeinflusst.

*

[EDIT] SPOILER

Dennoch konnte ich in diesem Projektmonat nicht einmal mit Stringenz aufwarten. Kleine Vorschau: In der ersten Woche zog mich der Koffeinentzug körperlich und mental nach unten – was im Grunde sehr wichtig für den Schreibprozess werden würde. Es hat den notwendigen Abstieg, hinab zum Grunde des Brunnens veranlasst, der im Leben eines jeden Menschen nötig erscheint, um sich wie eine Figur in einem Murakami-Roman einfach hinzusetzen und leiden zu lernen.

Ab der zweiten Woche schrieb ich befreiter. Schrieb einfach, was mir gerade einfiel. Warum nicht eine kleine Thomas-Becker-Show, ein Retrospekt, der zeigt, wie wichtig und nötig mir Kunst als Symptom erscheint? Dass Kunst nicht nötig wäre, wenn wir stets ohne jede Angst vor Konsequenzen authentisch ausdrücken könnten? Und irgendwie wünschte ich mir, die Kunst, also vor allem die Musik, nicht so präsent werden zu lassen – als ich anfing, Gefühle – und diese im selben Moment wie automatisch in meinem Lieblingsmenschen wiederzuentdecken.

Zum Ende der zweiten Woche führte dies zu einem Gefühlsausbruch, den ich nicht mehr für mich behalten konnte. Und in der dritten Woche spürte ich die Konsequenzen meines schier ego-gesteuerten Verhaltens: Es schien, als hätte mich mein Ego wieder in der Hand, weil ich begann, so emotional abhängig wie schon lange nicht mehr zu werden. Es begann, die tiefe tiefe Freundschaft zu meinem Lieblingsmenschen zu vergiften – und dabei lagen die Dinge einfach nur unheimlich tragisch. Diese Woche hat es in puncto Tagebuchführung in sich – und noch viel weniger Verbindung mit der täglichen Lektüre von Eckhart Tolle als ohnehin – weil ich sehr schnell keine Kraft mehr für komplexe Reflexionen meiner Seelenlage übrighatte.

In Woche vier fand das Projekt dann seinen (verfrühten) Abschluss. Es sind Dinge passiert, die mich gebrochen, aber auch aufgebrochen haben. Letztlich hat das Projekttagebuch, wie schon gesagt, keinerlei Struktur mehr. Auch wenn Eckhart Tolles Ideen jeden Tag einkehrten – ich war seelisch oder mental nicht mehr in der Lage, dieses Projekt so durchzuführen oder abzuschließen, wie ich es beabsichtigt hatte. Aber natürlich stehe ich dahinter – und vielleicht erkennt der eine oder andere das Potenzial. An dieser Stelle jedenfalls nochmal ein direktes Dankeschön an Eckhart Tolle. Und Ihnen oder dir: Danke für die Aufmerksamkeit.

Ich bin mein ganzes einziges irdisches Leben lang mit mir selbst zusammen

Подняться наверх