Читать книгу Ich bin mein ganzes einziges irdisches Leben lang mit mir selbst zusammen - Thomas Becker - Страница 7

3. März 2021

Оглавление

Zu erkennen, dass man nicht seine Gedanken und auch nicht sein Denken ist: Dort ist die Stimme in meinem Kopf, und hier bin ich. Ich, also mein Selbst, wird Zeuge der Stimme im Kopf oder des Gedankens, der dem Verstand zuarbeitet. Wir beobachten also von außen, wie sich der Verstand als rechte Hand des Egos durch neue Gedanken und Probleme formt und ausfeilt.

Das zu erkennen, hilft ungemein, das schier unaufhörliche automatische Denken zu stoppen. Was bleibt, wenn das Denken nicht ist oder nicht passiert? Nicht-Denken, Nicht-Verstand, stattdessen Momente gesteigerter Aufmerksamkeit unserer Präsenz, unserer Existenz, was Ruhe und Frieden mit sich bringt. Eins mit sich und der Existenz sein.

Dies bedeutet nicht, dass man sich von der Welt zurückzieht, sondern eben das Gegenteil: Dass man sich erst in diesem quasi meditativen oder selbstlosen Zustand der Welt annähern und, wenn es sein muss, seinen praktischen Verstand anwenden kann, um weltliche Probleme zu lösen – um danach den praktischen Verstand wieder abzulegen wie ein Werkzeug.

Ein aufmerksames fokussiertes Vorgehen, ohne dabei an seine eigenen sogenannten Sorgen zu denken, wird andernorts, nämlich in der Forschung, als Flow beschrieben. Obwohl es dort eigentlich um das Erkennen jener Aktivitäten geht, die man gerne tut und die einen die Zeit, das Selbst und die Sorgen vergessen lassen – lässt sich dies auch probeweise auf das Im-Jetzt-Sein anwenden.

(1) Ist die Aufgabe, nicht zu denken, schaffbar? Ja, indem man sie trainiert.

(2) Verlangt das Nicht-Denken eine gewisse Konzentrationsfähigkeit ab? Ja, und man kann sie sich ebenfalls antrainieren.

(3) Sind deutliche Ziele des Nicht-Denkens erkennbar? Na ja, nicht unnütz zu denken.

(4) Gibt diese Aufgabe unmittelbares Feedback? Ja, das Ausbleiben von Gedanken(schleifen) und das Einkehren von Frieden und Ruhe.

(5) Kann man sich der Aufgabe mühelos hingeben? Das passiert automatisch oder sollte sogar so passieren!

(6) Hat man ein Gefühl von Kontrolle? Ja, aber auch hier sind Übung und Gewöhnung gefragt.

(7) Verschwinden die Selbstsorgen? Oh ja, mehr denn je!

(8) Verändert sich der Zeitablauf? Ja – die psychologische Zeit verschwindet sogar.

Das muss nicht heißen, beim Essen eines Apfels selbigen plötzlich wie ein Wahnsinniger oder wie auf LSD in seiner Hand zu bewegen, als wäre er ein Globus. Aber sich auf den Geschmack zu konzentrieren, auf den Bissen im Mund und schließlich auf den Weg in den Magen – sich der Sache gewahr werden, dass man einen Apfel isst. Einen Apfel. Einen Apfel, Mensch! Gut, langsam gleiten wir in den Wahnsinn ab! Aber wenigstens ohne LSD.

So in etwa sollte es sich aber auch mit den Stimmen beziehungsweise Gedanken im Kopf verhalten: Man nimmt sie zur Kenntnis, begrüßt sie symbolisch mit einem »Oh, hallo, ihr auch wieder hier?« und fügt vielleicht noch hinzu: »Wollte gar nicht stören, wollte mir hier nur paar Werkzeuge mitnehmen!«

Und dann verschwindet man besten wieder, ohne sich auf das Gesäusel und die Stammtischdiskussionen einzulassen. Jedoch ist es wie mit einer Sucht: Dass man sich, um Sorgen oder Einsamkeit zu verdrängen, lieber mit diesen Stimmen auseinandersetzt und sich zugunsten ihrer Ausreden einfallen lässt, um den Stammtisch nicht verlassen zu müssen. »Ausdauer ist wichtiger als Wahrheit«, sagte der trinkende und sich herum prügelnde Henry Chinaski in Barfly zum Thema Alkohol. Im Grunde dasselbe in Grün. Denn: Das Gegenteil von Verbundenheit ist: Sucht.

Mir fällt eine Situation eines Bekannten ein, von der er erzählte. Eines Tages habe er mal in seinem Zimmer gesessen – und dann irgendwann gemerkt, dass er nichts mehr zum Denken hätte. Und deshalb hätte er vor Panik angefangen, einfach schnell hintereinander im Kopf 1, 2, 3 zu zählen – oder zu denken? Hauptsache, ich denke irgendetwas – bevor ich mich, da ja nichts denkend, in Luft auflösen könnte!

Dabei sind wir eben nicht unser Denken, sondern gehen buchstäblich zwangsweise mit unseren Erfahrungen um, sprich mit den persönlichen und kulturellen Konditionierungen, die das gesellschaftliche Leben eben mit sich bringen. Aus diesen Aspekten, und nicht zuletzt aus den Fremdbewertungen dieser Konditionierungen, bildet sich ein falsches Selbst heraus oder eine Art Kostüm, ohne dass wir eigentlich sein könnten beziehungsweise schon sind.

Doch statt einfach nackt zu sein und es als natürlich hinzunehmen, dass wir nackt sind, wollen wir am liebsten nicht mehr heraus aus dem Kostüm – nein, denn wir lieben den schweren Stoff, das Kratzen, den Gestank und das Preisschild, das wir nicht abmachen wollen, weil es doch bestimmt Eindruck macht! Und geteiltes Leid ist halbes Leid! Dabei ist es egal, ob die Stimmen von draußen kommen oder von drinnen. Hauptsache es wird bewertet, und Hauptsache, wir sind den Bewertungen schutzlos ausgeliefert. Denn die größte Angst besteht darin, gar nicht erst irgendwie bewertet zu werden, keine Schublade abzubekommen.

Wenn wir das Sein einfach in jedem einzelnen Moment wahr- und dankbar annähmen, würden wir auch keinen Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft verschwenden – wir befänden uns einfach im Flow. Stattdessen betrachten wir auch ganz praktische Probleme der Gegenwart durch die Linse der Vergangenheit oder stellen uns vor, wie dieser oder jener Ausgang der Situation sich auf unsere Zukunft auswirken könnte – also auf unser zukünftiges Ego. Soll heißen: Wir könnten eine Meinungsverschiedenheit oder bloße Unklarheit mit praktischem Verstand zugunsten aller Beteiligter lösen – aber greifen auf Erfahrungen aus der Vergangenheit zurück, die zwar nichts mit der aktuellen Situation zu tun haben, aber – auch weil das Gehirn eine faule Socke ist – bereits verwendete Verhaltensmuster parat halten, selbst wenn diese Muster nichts als Leid gebracht haben!

Das Ego hängt also auch stark mit unseren Gewohnheitsschleifen zusammen. Wir sind es gewohnt, unser Ego zu sein – deswegen bewegen sich mal so ganz unkonventionelle, sprich praktisch-rationale Herangehensweisen schon außerhalb unserer Komfortzone, die aber keine Komfortzone ist, keine sein kann, weil die Identifikation mit unserem Ego, also unseren Konditionierungen, Sklaverei bedeutet. Also merke: Die Gedanken (miss)brauchen Bewusstsein – aber das Bewusstsein braucht nicht unbedingt einen Gedanken.

Andernfalls verweilen wir in den alten Mustern, die daraus bestehen, uns mit anderen zu vergleichen, moralisch und teils widersprüchlich zu urteilen, selbst fundierte und sachlich geäußerte Kritik schlicht und ergreifend persönlich zu nehmen. Selbst in der Wissenschaft kommt es zur Kissenschlacht, wenn sich irgendwo ein kleines Ego befindet, das Theorien ins Rampenlicht drücken oder gar bewiesen haben möchte – egal, worüber sich das Ego definiert: Lebensstandard, Ansehen, Karriere. Es tut wirklich nichts Praktisches zur Sache.

Gesetzt der Fall, dass sich mit Denken, Fühlen und Handeln ziemlich gut erklären lässt, wie das Reaktionsmodell des Menschen funktioniert, bewirken bestimmte Gedanken beziehungsweise die Sorgen, die nicht abebben wollen, entsprechend Gefühle oder auch Emotionen, die sich im Körper bemerkbar machen. Oft sogar sind wir nicht mehr empfänglich für die Emotionen, weil wir abstumpfen, und finden uns nach Jahren des heraufbeschworenen, aber gleichzeitig heruntergeschluckten Kummers – willkommen zum Feld der Psychosomatik: – beispielsweise mit einem Herzleiden wieder.

Empfindungen wie zum Beispiel Ärger, der kraft der Gedankenschleifen unseres Egos oder unseres sogenannten Verstandes in unserer Seelensuppe köchelt, schwappen sogar nachweislich über: Ärger und Aggressionen ziehen Aggressionen anderer Menschen an und erzeugen – et voilà, noch mehr Aggressionen. Deshalb ist es auch wichtig, körperliche Empfindungen und Auffälligkeiten zum Anlass zu nehmen, zu fragen, wie das eigene Denken, die eigene Einstellung zur Welt, zu dieser (schlechten) Körperbalance geführt haben könnten.

Apropos Körperbalance: Heute ist der erste Tag ohne Koffein. Und dieses Mal gehe ich die Sache mit einer anderen Theorie an. Beim letzten Mal hatte ich wieder angefangen, Kaffee zu trinken, weil ich dachte, ich müsste ein Ungleichgewicht in meinem Körper ausgleichen, sprich ich dass ich vielleicht organisch bedingte leichte Depressionen hätte. Mithilfe von Kaffee als anerkanntes Antidepressivum, da durch seinen Konsum Adrenalin und Dopamin ausgeschüttet werden, wollte ich einem Mangel entgegenkommen. Vielleicht aber dem falschen!

Dieses Mal versuche ich es, wie schon gestern angedeutet, damit, meinen Serotonin- und Tryptophanspiegel auf Vordermann zu bringen, in Verbindung mit mineralstoffreicher Nahrung, die ebenfalls gut für die Nerven ist. Viel Serotonin, viel Schlaf. Viel Schlaf, viel Energie, was wiederum Koffein unnötig macht – und der ja vielleicht nicht gut von meinem Körper abgebaut wird? Einfach genetisches Pech?

Ich werde es also nochmal ausprobieren, ohne mich dabei in wissenschaftlicher Lektüre zu verlieren. Stattdessen soll mir mein Körper sagen, wie sich die Dinge beziehungsweise die Lebensmittel anfühlen. Gestern Abend beispielsweise habe ich mich bettschwerer gefühlt als sonst. Vielleicht war es auch nur Einbildung. Mit der Sexualität verhält es sich ähnlich. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es keinesfalls schädlich ist, keinen Sex zu haben. Auch Selbstbefriedigung ist nicht nötig. Nicht wenige Hundertjährige sagen, dass Enthaltsamkeit, aber vor allem: gute soziale Beziehungen psychische und körperliche Gesundheit und Langlebigkeit versprechen.

Hauptsache, ich bin mit mir im Reinen. Auch wenn ich sagen muss, dass ich öfter schwerer mit körperlicher Einsamkeit zu kämpfen habe. Seit über vier Jahren bin ich nun Single, hatte seit der letzten Beziehung auch keine Intimitäten mit einer Frau. Ich weiß nicht einmal, ob ich in den letzten Jahren eine Beziehung gebraucht hätte – und ob ich jetzt eine wollte oder gar bräuchte.

Nach dem Ende meiner letzten Beziehung kämpfte ich stark mit mir selbst, schon allein beruflich. Schließlich gab ich die Idee auf, Freier Journalist zu werden, und fand wenige Wochen später eine Anstellung als Bäckereiverkäufer. Die insgesamt vier Jahre – ich habe zwischenzeitlich ja auch in einem Callcenter gearbeitet – waren eine unheimliche bereichernde Erfahrung, auch wenn es hinter der Brottheke zuletzt einfach undankbar geworden war. Aber das Arbeiten im Team, das Haushalten mit dem ersten eigenen Lohn und dem Strukturieren des neuen Single-Alltags ließ viele konstruktive Fragen offen.

Als ich dann ein wenig gefestigter war, hatte ich auch wieder Zeit und Energie, um mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Und dies tue ich offenbar sehr gerne! Jedenfalls kehrte ich ein Stück weit zu meinem alten Hobby, dem Videospielen, zurück, weil ich es mir gönnen konnte. Ich trainierte sogar ein Jahr lang für die Tetris-Europameisterschaft 2018, machte neue Bekanntschaften – mit WG-Mitbewohnern, Nachbarn, Zimmergenossen in Kopenhagen, wo das Tetris-Turnier stattfand, und Kollegen in der Heilpraktikerschule – und erkannte eben, dass es einen Weg gibt, meinen speziellen Zugang zur menschlichen und zu meiner eigenen Welt zum Wohle aller zu nutzen.

Nun scheint sich der Versuch, auch das Schreiben maßgeblich in meinen neuen Alltag als Selbständiger einzubinden, regelrecht aufzudrängen, weil ich (noch!) Zeit und Geld habe und experimentieren kann oder muss, solange keine effektive öffentliche Präsenz möglich ist. Soll heißen, ich befinde mich noch immer in einer Phase der Selbstfindung, wobei die meisten Außenstehenden sagen würden: Du hast doch schon fast alles gefunden, Thomas.

Aber es geht eben um die rationale Auseinandersetzung mit Realismen wie dem Buchmarkt, beispielsweise. Wie vermarkte ich meine Selbstbetrachtungen, wie viel Geld kann ich für etwas verlangen, was im Grunde eigentlich eine Art Tagebuch ist? Wie kann ich den modernen Markt, der e-books und self-publishing im Selbstverlag ermöglicht, für mich nutzen? Und: Sollte ich, darf ich?

Ja, Thomas, solltest du, denn du kannst es doch.

Danke, imaginäres Gegenüber – dann arbeite ich jetzt an einem gesunden Schlaf, um mehr Energie für das Schreiben zu haben! (Wie oft habe ich das eigentlich schon erwähnt?) Und dann sitzt man regelmäßig an solchen Texten, die eigentlich nicht viel sind, aber den Arbeitsalltag ausmachen, fernab dessen ich mich aber auch nur wenig mit Weltlichkeit beschäftige beziehungsweise dass ich über selbige einfach nicht reden muss. Und mal ganz ehrlich: Worüber lohnt es sich zu reden?

Das Interessanteste an den Menschen: Die Probleme, die Krisen, die zum Überdenken und Neuerfinden ermutigen, heraustreiben können aus der Komfortzone. Doch stattdessen bleibt es für viele beim bequemen Käfig mit den goldenen Gitterstäben...

… das echte Leben halt, wovon die Kindheit wie ein Kinotrailer ist, der nicht hält, was er verspricht. Außerhalb des Märchenwaldes, abgetrennt vom Fernsehgarten, da wo Erklärungsbedarf gedeckt ist vom Dahergesagten. Wo sie kerzengerade dastehen beim Pärchenabend, auf Reserve fahren und nicht mehr erwarten. Wo sie in die Ferne planen, ab dem Vierten auf den Ersten warten, und ab dem 40sten auf die ersten Herzinfarkte. Wo verzerrte Wahrnehmung verpflichtend ist, wo alles, was du sagst, klingt, als ob du in ein Kissen sprichst. (Prezident, »Halb so wild«)

Habe ich als angehender Schriftsteller oder: Sozialer Schreibarbeiter eine Verpflichtung dazu, Leute auf irgendetwas Bestimmtes aufmerksam zu machen? Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami etwa, dessen neuesten Kurzgeschichtenband Erste Person Singular ich heute beendet habe, hält es weiterhin mit seinen poetischen Andeutungen, während beispielsweise Freiheit von Jonathan Franzen ausgesprochen realistisch zur Sprache bringt, was politisch und wirtschaftlich verkehrt läuft. Ich hingegen möchte eigentlich nur mit gutem Beispiel vorangehen und Mut zur Selbstveränderung beweisen – und es jetzt einfach nur auch mal aufschreiben.

Wie schon erwähnt, befand ich mich nach dem Ende meiner ersten Beziehung in einer großen Ahnungslosigkeit. Nein, eigentlich bestand sie schon länger, nur war die Beziehung wahrscheinlich dann so etwas wie der Strohhalm, an den ich mich klammern konnte. Jedenfalls war ich ja auf der Suche nach Ersatz – nach einer neuen Ersatzreligion, für die ich die alten widerspruchschwanger über den Haufen warf. Anti-Alkoholismus, Veganismus, Verschwörungstheorien, Jahre später dann konnte man mich Bier trinkend und Fleisch essend bewundern – einige Monate lang sogar mit einer Kippe im Maul –, während ich mich nun über Verschwörungstheoretiker lustig gemacht habe.

Im Herzen bin ich vielleicht noch immer Verschwörungstheoretiker, wobei ich vielleicht nur die selbe Grundskepsis mit der Anhängerschaft teile: Die Dinge laufen ziemlich geregelt aus dem Ruder, weil sich Menschen nicht auf das Wesentliche besinnen können. Corona schien zeitweise eine Chance, eine potentiell konstruktive Störung zu sein, aber mittlerweile möchte man doch bitte wieder die Gastronomie ganz öffnen – wobei mir persönlich der Nutzen dieser Branche nicht ganz klar wird.

Dazu fehlt es mir einfach an Geselligkeit und kulturellem Gespür oder dergleichen. Warum kocht und isst man nicht einfach zuhause? Klar ist Convenience nur ein Begriff auf einem Kontinuum. Ich muss mich selbst sogar sehr schuldig dafür sprechen, ab und an Kartoffeln zu kaufen, die aber schon ein anderer für mich in dünne Scheiben geschnitten, in eine Fritteuse geworfen und gesalzen hat. Warum nicht einfach alles selbst anbauen? Ja, warum nicht einfach von selbst mit sich ins Reine kommen, statt Seelenverwandtschaft in Büchern etc. zu suchen oder einen Berater oder Psychologen zu konsultieren? Schachmatt! Doch keine Sorge: Ich bin billig!

Ich bin mein ganzes einziges irdisches Leben lang mit mir selbst zusammen

Подняться наверх