Читать книгу Ich bin mein ganzes einziges irdisches Leben lang mit mir selbst zusammen - Thomas Becker - Страница 5

1. März 2021

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Der erste Eintrag ist ja immer der ambitionierteste.

Die ersten Seiten von Jetzt! tangieren sehr kurz Eckhart Tolles Vorgeschichte, die übrigens mit seiner Geburt 1948 in einem Nachbarort von Dortmund seinen Lauf nahm, sowie sein Leben vor seinen tiefgreifenden Erfahrungen, weswegen ich auch mich – mal wieder – gefragt habe, was eigentlich passiert ist, bevor ich meine ersten Schritte auf dem neuen oder auch: auf dem vermeintlich richtigen Pfad unternommen habe.

Mit Mitte, Ende Zwanzig entscheidet sich oft, ob oder wie man das Leben und seine Realität meistern möchte. In diesen Jahren kommt es häufig zu einem ersten oder ersten tiefgreifenden depressiven Schub, weil die aufkommenden Entscheidungsfragen – Job, Partner, Familie, Freiheit, Sicherheit – so schwer zu beantworten sein können. Jede Entscheidung hat Konsequenzen, die man vielleicht noch nicht bereit ist zu tragen. Vorbei die Zeiten, in denen man bei Regenwetter in seinem Bett liegen bleiben, Kakao trinken und Bücher lesen oder Game Boy spielen konnte. Die Welt wartet nicht – nicht einmal auf sich selbst. Sie hetzt ihrem immer voller werdenden Terminkalender hinterher. Nächster Termin: Termine im Kalender eintragen.

Dramatischerweise formulieren viele vermeintlich Verlorene einfach: »Ich habe keine Antwort«, statt zu sagen: »Ich habe noch keine Antwort.« Die inviduelle Erkenntnis und nicht zuletzt ihre Formulierung lassen keine Chance auf Veränderung oder Wachstum zu, blenden obendrein auch aus, wie viele andere in ihrem Alter nicht dazu in der Lage sind, sich diese wichtigen Fragen zu beantworten. Man glaubt, allein zu sein.

Es kommt mitunter sogar zu Suizidfällen oder -versuchen, weil sie mutmaßlich niemals eine Antwort auf die Fragen haben werden, und auch keine Hoffnung mehr schüren, Antworten zu bekommen. Doch manche unter uns machen eine grundlegende Verwandlung durch – sie gehören zu jenen Glücklichen, die nicht sich selbst, sondern etwas in sich selbst töten, töten müssen, um dann ihre eigene Wiedergeburt erleben zu können.

Akzeptanz ist hierfür eine der größten Fähigkeiten, die man entwickeln muss. Und damit ist nicht nur die Akzeptanz auf politischer oder ethischer Ebene gemeint, sondern zunächst die bloße Annahme dessen, was ist: Realität mit all ihren Menschlichkeiten, guten wie schlechten. Dies bedeutet auch, quasi nichts und niemandem zu widerstehen, sondern zunächst alles wortwörtlich zu akzeptieren, also: anzunehmen, zu empfangen, um gleichzeitig in die grundlegende vermeintliche Stille und Leere der Welt zu fallen und schließlich zwischen Allem zu sein, zwischen den Stühlen, die die Welt bedeuten. Dazwischen zu sein, auf Latein: Inter_esse.

So wie Eckhart Tolle eingangs in seinem Buch zu sagen, dass ich wenig Verwendung für meine Vergangenheit habe, ist in der Tat befreiend, aber auch schmerzlich wahr. In den letzten Wochen habe ich an einem Einblick in meine frühere Lebensgeschichte geschrieben. Das heißt, ich nutze die Vergangenheit, inszeniere sie und rücke hierzu die essenziellsten Momente meiner Jugendjahre ins Rampenlicht. Doch es wäre schlicht fatal, mich einfach nur in der Misere zu suhlen und als Opfer meiner Umwelt zu sehen.

Wenn man schreibend sein jüngeres (oder altes?) Ich beobachtet, sieht man sich eventuell aus der Perspektive einer dritten Person oder Kamera. Die Chance besteht, die Vergangenheit neu zu bewerten, sich buchstäblich mehr oder weniger Verantwortung für die eigenen Handlungen zuzuschreiben. Soll heißen, dass viele Formen der Literatur, etwa die Autobiographie oder das Tagebuch, Plattformen für kreative Psychologie sein sollten, statt darauf bedacht zu sein, sich selbst oder anderen in erster Linie einen tollen Text abzuliefern. Letzteres sollte auch niedrigere Priorität genießen – sonst wird auch der größte Erfolg eines Buches beispielsweise keinesfalls dazu beitragen, das Loch im eigenen Herzen zu stopfen. (Edit: Ich spreche aus Erfahrung.)

Natürlich bin ich dankbar für meine Vergangenheit: Für die Erlebnisse und die schweren Zeiten, die ich offenbar durchmachen musste, um Momente der Erleuchtung oder Befreiung zu erfahren. Ich bin weder religiös, noch vertrete ich explizit eine bestimmte Philosophie oder Lehre – oder die Marke eines Taro-Karten-Herstellers. Ich unterschreibe schlicht – und hier buchstäblich – Eckhart Tolles Ansicht, dass Erleuchtung, also ihre Erfahrung, völlig frei von Sprache, System und Interpretation ist. Und auch Worte sind nur Wegweiser, Trittsteine, ein Wink mit dem Zaunspfahl – doch im besten Fall auch Medium einer Schönheit, die die Menschen anspricht oder die ihnen vertraut erscheint und Hoffnung spendet.

Meine persönliche Wiedergeburt vollzog sich Anfang Juli 2013. Im Herbst 2011 ließ mich das quasi abrupte und unaufhaltsame Ende meiner damaligen Partnerschaft in ein tiefes Loch stürzen. Denn ich hatte fernab dieser Partnerschaft nichts, identifizierte mich gewissermaßen nur über diese Beziehung, legte Zukunftsoptionen nach selbiger aus. Hauptsache, wir sind zusammen, nicht wahr? Also hatte ich, allein dastehend, quasi nichts mehr und begann deshalb, fast krampfhaft nach etwas in der Außenwelt zu suchen, das mich besänftigte, das das wieder klaffende Loch im Herzen stopfen konnte: Ich probierte neue Ernährungsweisen aus, wollte ökologischer leben, wollte pathetische und heldenhafte Kunst machen, beschäftigte mich mit Verschwörungstheorien, brach blindlings viele alte Brücken und Verbindungen ab, stürzte mich in sinnlose Arbeit und Überlegungen, zog mich äußerlich wie innerlich zurück – ohne wirklich voranzukommen.

Es gab keine Veränderung, die groß genug war und mich aus der Komfortzone holte.

Im Grunde hatte also nichts funktioniert. Schon im Frühjahr 2013 entschied ich mich dazu, alles auf das Minimum zu reduzieren, lebte von Ersparnissen und vor allem ohne jede Verpflichtung in den Tag hinein, aber unglücklich und unruhig. Mit demselben Mangel an Zuversicht war ich Monate später, ohne Wohnung, ohne Krankenversicherung und mit genau 80 Cent in der Tasche, auf sehr kurze Wanderschaft gegangen: Mein sogenannter Plan war es, zunächst nochmal einen meiner letzten Freunde zu besuchen, bevor ich mich den anstehenden Herbst und Winter über vielleicht in Südspanien durchschlagen würde, wo ich auf die Hilfe von Bekannten spekulierte. Eventuell. Aber von Überzeugung konnte nicht die Rede sein.

Auch von Selbstmordabsichten kann ich nicht sprechen, auch wenn ich damals viele Phantasien hegte oder schlicht: in meine Tagträume einkehren ließ. Ihr würdet mich alle übelst vermissen, weil ich so ein geiler Typ bin! Vielleicht aber noch viel schlimmer, weil ehrlicher: Ich selbst war mir schlicht und ergreifend gleichgültig geworden. Ich wollte mich treiben lassen und nicht mehr selbst über meine Zukunft bestimmen. Mein Selbst schien nicht für diese Welt gemacht zu sein, und deswegen wollte ich wohl die Welt darüber entscheiden lassen, was sie in Zukunft mit mir anfängt.

Anfang Juli kam ich also stinkend und schmerzgeplagt – und nachdem ich schließlich per Anhalter gereist bin – bei meinem Kumpel in Brandenburg an. Ich blieb für einige Tage, um ihm Gesellschaft zu leisten. Während er, wie immer, die Morgenstunden nutzte, um an seiner Selbständigkeit als Unternehmer zu arbeiten, ging ich eines Tages hinaus und spazierte zunächst durch den Plattenbaukomplex, bis ich mich spontan dazu entschied, meine letzten 80 Cent für zwei Tafeln Discounter-Schokolade auszugeben. Mit einer dieser Tafeln setzte ich mich auf einen kleinen Felsen und aß vielleicht die Hälfte davon völlig besinnungslos, ohne Genuss. Und vielleicht wurde ich mir der Besinnungslosigkeit wiederum bewusst, als ich zur Sonne hinauf schaute und mir plötzlich wie aus dem Nichts klar wurde:

Es ist alles okay. Alles wird gut.

Dann nahm ich mein mitgenommenes Schreibzeug zur Hand und notierte mir unter anderem ungefähr folgenden Satz: »Nimm Hilfe an, du verdienst sie.«

Das Licht der Sonne schien in diesem Moment mehr zu sein als warme helle Wellen. Das Licht eines Gasballs, der irgendwann – oder vielleicht auch nie – entstand und schließlich mutmaßlich all die biologischen Vorgänge auf der Erde, also in jenen chemischen Verbindungen in Gang gesetzt hat, die im heruntergekommenen Sternenstaub schlummerten.

Mit der Sonne steht und fällt alles. Sie macht uns bewusst, dass diese Welt nur durch chemische Körper hindurch zu erleben ist. Zudem eine Welt, die laut moderner physikalischer Theorien quasi zu 99 Prozent aus Leere besteht und von der wir eigentlich nur die Illusionen wahrzunehmen scheinen, die die Teilchen der Teilchen der Teilchen verursachen, die das restliche Hundertstel ausmachen. Es gibt hier buchstäblich nichts zu verstehen. Es gibt hier nichts zu sehen, bitte gehen Sie weiter!

Keine zwei Monate später jedenfalls wohnte ich dann mit der Familie meiner Schwester zusammen, entschied mich dafür, studieren zu gehen, und hatte die Aussicht auf drei geregelte Jahre, die ich großteils sogar mit einer neuen Beziehungspartnerin bestritt. Mein Soundtrack im Spätsommer 2013: I Couldn't Care Less von Leslie Clio. Es könnte mich nicht weniger kümmern. Was genau? Meine Vergangenheit vielleicht. Stattdessen begann ich zu staunen wie die Kinder meiner Schwester – die jüngsten waren damals im Vorschulalter – und mir in immer mehr Momenten zu denken: »Okay, es wäre krass, wenn das hier alles vorbestimmt ist. Aber es wäre auch krass, wenn das alles hier nicht vorbestimmt ist!«

Ich konnte nur gewinnen, wenn ich mich auf die Welt einließ – die selbst wiederum nichts dafür konnte, wie sie war.

Ich kann trotzdem nicht genau sagen, was sich seit dem Moment auf diesem kleinen Felsen vor einem brandenburgischen Plattenbau in mir oder an meiner Wahrnehmung geändert hat. Vielleicht habe ich Frieden gefunden oder erste Anflüge erfahren. Vielleicht habe ich mich mit der Realität versöhnt, vielleicht habe ich erkannt, dass die Welt sich nicht gegen mich verschworen hat, sondern dass sie ein Stückwerk vieler Wesen ist, die lediglich ihre mehr oder weniger natürlichen und kultürlichen Programme abspulen. Wer beispielsweise Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari gelesen hat, wird zu der Theorie kommen: Unsere Entwicklung ist eine einzige Abfolge von Reaktionen auf die Umwelt – die wir wiederum selbst gestalten, nämlich mit Reaktionen auf eine Vielzahl von Einflüssen, innerlich wie äußerlich. Und so weiter und so fort.

Und dies erkannte ich auch bei mir. Und dass es mir deswegen niemand übel nehmen wird, wenn ich mir, mit großem Gefühl der Dankbarkeit, einfach jenes Stückchen vom Kuchen nehme, das im Grunde jedem zuteil wird oder werden sollte. Alles Leben, alles Überleben hat unweigerlich mit (mehr oder weniger abstraker) Aggression zu tun, sprich wir leben immer und überall auf Kosten irgendeines anderen Wesens.

Meine Strategie in einer Nussschale: Ich nehme mir, was ich brauche, identifiziere mich immer weniger mit meinen Lebensumständen und stelle mir mehr und mehr konstruktive Fragen über meine Umwelt, statt über sie zu urteilen. Es geht immer darum, echte Dialoge zu fördern. Ich führe deshalb – fernab der Beratung meiner Klienten – auch quasi täglich Selbstgespräche, sowie Interviews mit mir selbst zu bestimmten Themen oder Ansichten, um mir selbst darüber im Klaren zu werden, woher meine Ideen kommen.

Während Eckhart Tolle sich nach seiner Erleuchtung für einige Monate in einem sonderbaren Zustand befand, habe ich eher nach und nach lernen müssen, mich auch mit dem Rest der Welt konstruktiver auseinanderzusetzen. Mein Studium der Sozialwissenschaften hat dazu nur einen kleinen Teil beigetragen, aber wiederum auch dazu, sich einer Sache mit mehr Struktur und mit mehr Forschermentalität anzunehmen.

Statt zu sagen: »Oh Scheiße!«, heißt es stattdessen immer öfter: »Oh – interessant!«

Seit über sieben Jahren nähere ich mich immer mehr dieser Haltung zur Welt. Und mehr denn je sehe ich eine Gelegenheit darin, die Geschichte meines Werdens mit dem ästhetischen Potenzial meines vermeintlichen Talents, beziehungsweise meiner Affinität zur Schönheit und Vielfältigkeit von Sprache zu kombinieren. Für den verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Herrndorf beispielsweise hätten Form und Klang eines Textes schon immer über dem eigentlichen Inhalt gestanden. Ich bin also Trittsteinmetz, und allein das Schreiben ist mir viel wichtiger als der Text, der dabei herauskommt. Ich bin mir sicher, dass Sie spüren werden, was ich meine.

Natürlich möchte ich meine Zukunft und meine Welt aber mitgestalten. Deswegen ist es mir ein Anliegen, mit meiner eigenen kraftvollen Schrei(b)stimme die Umwelt dazu zu bewegen, sich ihrer Gedanken anzunehmen und diese akzeptieren zu lernen. Wir, werte Leser, werden uns in den nächsten Tagen – einhergehend mit der Lektüre von Eckhart Tolles Hauptwerk – in Richtung jener Stille bewegen, die eigentlich immer präsent ist, aber die wir nicht hören können oder nicht hören wollen. Wir verbinden nämlich Stille mit einer gewissen Form von Tod, und verrichten dabei eigentlich Sklavenarbeit unter der vermeintlichen Schirmherrschaft unseres lärmenden Verstandes, der möchte, was wir wollen sollen. Nämlich Drama.

Ich möchte auf den folgenden Seiten aber nicht nur wiederholen, was Sie alles bei Eckhart Tolle lesen können, sondern dieses Tagebuch auch mit eigenen Gedanken füllen, neue eigene Rote Fäden spinnen und durch angesprochene persönliche Probleme verdeutlichen, wie hilfreich es ist, Situationen und Gedanken (1) zu erkennen, (2) anzuerkennen, (3) zu erforschen und (4) sich nicht mit diesen zu identifizieren (Edit: Diese Aufzählung wird Ihnen noch oft begegnen, o Mann!). Ich bin dabei genauso ein Katalysator oder Multiplikator so wie Eckhart Tolle selbst nur ein Vertreter dieser Form der Weltaneignung ist. Wobei jeder noch so ausgefeilte Satz, jedes noch so eindrückliche Gleichnis hinter dem unmittelbaren Eindruck zurückstehen wird.

Ausweg oder Falle? Lesen Sie einfach mit dem Herzen.

Im besten Fall sollen derlei Schriften nicht für bare Münze, sondern als Gesprächsstoff genommen werden – die Inhalte gleichermaßen wie deren Autoren oder wiederum: deren Haltungen. Warum ich alles daran setze, eher ein beratender Schriftsteller zu sein als ein schreibender Berater. Warum ich dafür durchaus bereit wäre, finanzielle Risiken einzugehen und vielleicht am Ende des Jahres pleite und gescheitert dazustehen.

Was also in diesem Moment ansteht: Meine Ängste und Gedanken zu beleuchten und mir zu verdeutlichen, was an ihnen falsch ist. Also nicht falsch im Sinne von schlecht, sondern in jenem Sinne, dass diese Ängste und Gedanken nicht ich sind. Eigentlich. Dass sie nicht zu mir gehören, sondern nur Teil meiner Lebenssituation sind. Ich greife an dieser Stelle etwas vor und verwirre Sie sicherlich. Aber es wird sich hoffentlich, in erster Linie für mich selbst, herausstellen, warum ich mir trotz meiner großen Selbstsicherheit immer noch viel zu viele Gedanken um den Rest der Welt und dessen Reaktionen auf mein Tun mache.

Das liegt vielleicht in der Natur eines Schriftstellers. Aber deswegen ja diese Pioniersarbeit – der Versuch, eine Art Neo-Schriftsteller oder schreibender Vermittler zu werden, schreibend zwischen den Stühlen zu stehen.

Soziale Schreibarbeit.

*

Mich einen Schriftsteller zu schimpfen, scheint aus meiner Sicht immer noch oder bisher etwas vermessen – gewesen. Die Gretchenfrage für mich: Muss ich zunächst vorgeben, einer zu sein, um einer zu werden? Oder muss ich zunächst beweisen, dass ich einer sein könnte?

Diese Überlegung, also Überlegen per se ist bereits Teil meines Problems. Es kommt ohnehin darauf an, was ich tue. Heute Vormittag schrieb ich über zweitausend Wörter. Und wenn ich dieses Mindestpensum aufrecht erhalte, werde ich jeden einzelnen Tag den selbst auferlegten Titel des Schriftstellers verteidigen, nicht wahr? Ich werde einfach das tun, was mir am natürlichsten erscheint. Und auch morgen werde ich so tun, als wäre ich Schriftsteller.

Fake it till you make it.

Gegenüber der Gesellschaft habe ich gewissermaßen eine Verpflichtung, nämlich jene, mich genau so gut mit meinen Fähigkeiten einzubringen wie jeder andere, der in einem vermeintlich trivialen Job arbeitet. Was wären wir ach so feinfühligen oder ach so extravaganten Künstler ohne die Sicherheit spendende Bürokratie und Infrastruktur? Oder was wäre das meditative Flanieren durch die Innenstadt ohne die Möglichkeit, eine öffentliche saubere Toilette aufzusuchen oder vorher den Nachwuchs im Kindergarten abzugeben? Mehr Beispiele muss ich an dieser Stelle nicht liefern. Als ehemaliger Bäckereiverkäufer habe ich obendrein verstehen gelernt, was es heißt, dieses gesellschaftliche Spiel mitzuspielen und mitzutragen.

Denk daran: Wir leben immer auf Kosten anderer.

Auf der anderen Seite sind es mitunter oft, respektive fast nur Künstlerpersönlichkeiten, die sich selbst erarbeitet oder bearbeitet haben und diese Ergebnisse zudem scharfsinnig oder zumindest interessant artikulieren können – im besten Fall bitte, ohne den Humor zu verlieren! Vor allem jeweils x-mal angesehene Interviewvideos sind es, die mich in so manch einsamen Stunden begleitet haben, weil ich unter vielen anderen Menschen selten jemanden antreffe, der wirklich unkonventionell denkt oder für eine Idee einen Großteil seiner oder ihrer (inneren) Sicherheit aufs Spiel setzt und dabei – okay, vielleicht nur für die mediale Außenwelt, trauriger Clown und so! – noch einen charismatischen Witz reißen kann.

Deswegen ist es auch meine Verpflichtung (Edit: Du Vollidiot!), nicht nur als Vorbild, sondern auch ein Stück weit als öffentliches Vorbild dazustehen – ohne mich dabei auf irgendeine Konkurrenz zu berufen. Ich tue das für die Menschen, und nicht für die Zunft. Ich bin zufällig auch nur Schriftsteller. Ich habe kaum Interesse an literarischem Handwerk oder an Gesprächen über selbiges. In erster Linie ist es eben eine Art, durch die ich mir zusätzliches täglich Brot verdienen möchte. Es ist soziale Schreibarbeit, weswegen ich auch davon sprechen sollte, morgens nicht einfach nur zu schreiben, sondern zu arbeiten: Dass Schreiben auch in der Außendarstellung als eine Arbeit anerkannt wird, die weitaus unromantischer und unbequemer ist, als man denken mag.

Schonmal täglich 2000 Wörter geschrieben und Wochen oder Monate später gut die Hälfte dieser Wörter wieder über den Jordan geschickt, weil sie den Ton des begonnenen Romans nicht getroffen haben? Warum tun wir das eigentlich unserem Rücken und unseren Blutgefäßen an?

Heute habe ich damit angefangen, meine Notizbücher stets bei mir zu tragen und jeden noch so kleinen Gedanken aufzuschreiben. Heute spazierte ich durch die Stadt und machte mir im Grunde jenen Gedanken(wust), der mich zu diesem Tagebuchprojekt verleitet hat: Was, wenn mich das, was mich glücklich macht, unglücklich macht? Welche Ängste begleiten mich?

Vermutlich ist es das Gefühl, leicht desorganisiert zu sein oder eben nicht genug (Gutes) am Tag zu schreiben. Eigentlich weiß ich um den Prozesscharakter eines nahezu jeden Erstentwurfs. Doch vor allem die mich schon seit Monaten begleitende Müdigkeit verringert mein Arbeitspensum. Und dieser Umstand – die Erkenntnis, zu müde zu sein, um aus drei Stunden auch gern fünf oder sechs Stunden Arbeit am Tag zu machen – treibt mich in die Sorgen hinein, die mir meine Vorstellung von einem erfüllten Alltag gehörig eintrüben.

Sorgen machen müde. Müdigkeit bringt Sorgen.

Seien wir doch mal konsequent, Herr Becker: Wenn du müde bist, vergiss es einfach. Erkenne die Müdigkeit, erkenne sie an, beschreibe sie ohne Vorurteil und identifiziere dich nicht mit ihr oder den Konsequenzen. Ergo: Wenn du ständig müde bist, überlege, was du für deinen Körper tun kannst. Ursachenforschung: Der alte Bäckerei-Rhythmus? Oder Nährstoffmangel? Zu spät noch am Computer gesessen? Oder vielleicht einfach die Unfähigkeit, einen halb genutzten Tag einfach mal als halb genutzten Tag zu akzeptieren?

Seit Gestern begleitet mich ein Ausspruch aus dem Alten Testament: Was du auch tust, denke an dein Ende, dann wirst du nie etwas Böses tun. Heute habe ich zudem in einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami gelesen: Stell dir vor, dein Leben ist mit 34 Jahren zu Ende. Solche Dinge passieren, und dennoch will ich am Ende, das lieber später kommen darf als früher, nicht sagen müssen: Ich habe nie so richtig probiert, Schriftsteller zu werden. Das Leben ist schön – von einfach war nie die Rede. Und vor allem ist eines nicht einfach: ein simples Leben.

Ich bin mein ganzes einziges irdisches Leben lang mit mir selbst zusammen

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