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Maximilian Graf von Neippenberg. Immer noch Montag, 29. Januar.

In Hinterkappelen kamen Stephan Moser und Elias Brunner unter dem Motto für Berner «Nume nid gschprängt, aber geng e chly hü…» voran, was aber überhaupt nichts mit den Akteuren als vielmehr mit den Vorschriften zu tun hatte. Daran hatten sich auch unsere beiden Gesetzeshüter zu halten, wenn auch widerwillig, was sie jedoch niemandem zu verstehen gaben.

Die Liegenschaftsverwaltung für den Kappelenring 7 hatte den Kantonspolizisten Frau Silvia Zimmermann als erste Kontaktperson angegeben, die für jenes Haus zuständige Hauswartin. Sekunden nach ihrem Läuten hörten die beiden Beamten diese durch die geschlossene Türe hindurch «Ig bi am choche!» sagen, besser gesagt rufen. Entsprechend begeistert kam sie mit einem Tuch daher, ihre Hände abputzend, damit die beiden Herren nach der Begrüssung nicht Spuren von Tomatensauce zu beseitigen hatten.

«Frau Zimmermann? Ich bin Stephan Moser von der Kantonspolizei Bern, das hier ist mein Kollege Elias Brunner.» Beide zeigten Silvia Zimmermann ihre Dienstausweise.

«Ich weiss.»

«Und wie das? Sind Sie bei der NSA?», schmunzelte Moser.

«Sie werden es kaum glauben, Herr Moser, aber bei der Liegenschaftsverwaltung haben sie ein Telefon. Ich auch. Sie möchten also zu Herrn Becker?»

«Genau, wir möchten uns bei ihm umsehen.»

«Und weshalb läuten Sie nicht ganz einfach bei ihm? Meines Wissens ist er nicht gehörlos.»

«Haben wir sehr wohl, Frau Zimmermann, nur hat niemand geöffnet», präzisierte Brunner.

«Warten Sie husch, ich nehme nur die Pfanne vom Herd und komme dann mit Ihnen rüber.» Sprach’s und drehte den Beamten ihren Rücken zu.

«1:0. Die isch o nid uf e Gring gheit», stellte Moser flüsternd zu Brunner fest.

Wenige Minuten später marschierten die drei in Richtung Kappelenring 7. Silvia Zimmermann kannte Stephan Moser vom Sehen her, wusste, wer er war, auch wenn er auf der anderen Seite des Kappelenrings wohnte, mit einer Südländerin, soweit sie sich erinnern konnte. Ihre Kenntnisse behielt sie allerdings für sich, die Polizei musste ja auch nicht immer über alles Wissen der Bürger im Bilde sein. Wenige Minuten später hatten sie den Wohnblock mit der Nummer 7 erreicht. Beckers Wohnung lag im Parterre, weshalb man auf die Benutzung des Lifts verzichten konnte. Auch nach dem dritten Läuten öffnete niemand.

«Frau Zimmermann, wir müssen in die Wohnung, den Beschluss erwarten wir per SMS in den nächsten Minuten, ich werde ihn Ihnen sofort zeigen.» «Ist Gefahr in Verzug?», fragte Silvia Zimmermann fachkundig, was die beiden Herren staunen liess. «Gefahr im Verzug» erlaubt es den Ermittlern, auch ohne richterlichen Beschluss gewisse Ermittlungen vorzunehmen, wenn die Zeit drängt und /oder Verdunkelungsgefahr besteht, zum Beispiel bei Hausdurchsuchungen.

«Nun, ich denke nicht, nein, Frau Zimmermann, keine Gefahr in Verzug.» «Also kein rambomässiges Eintreten der Türe. Auch recht. Ich organisiere Ihnen den Schlüsseldienst. Sie haben Glück: Hänni wohnt im Kappelenring, sein Auto habe ich vorhin vor dem Block stehen sehen. Bis er kommt, werden Sie bestimmt auch den Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft erhalten haben, womit dann alles seine Richtigkeit hätte, nicht wahr, Herr Moser?»

«Durchaus, durchaus, Frau Zimmermann… Das ist auch ganz in unserem Sinn.»

Während die Hauswartin mit ihrem Handy die Nummer des Schlüsseldienstes wählte und sich einige Schritte entfernte, schauten sich die beiden Kriminalisten belustigt an. Jeder dachte wohl das Gleiche: «Schade, haben wir es nicht immer mit solchen Leuten zu tun.» Silvia Zimmermann hatte sich übrigens nicht getäuscht: Sie kündigte den «Türöffner», wie sie den Mann nannte, «in fünf bis zehn Minuten» an.

«Frau Zimmermann, was können Sie uns über Karl-Heinz Becker sagen?» «Nicht viel, ich kenne ihn ja nicht. Wohnt seit ungefähr einem Jahr hier. Und eines weiss ich noch, Herr Moser: Er fährt zurzeit einen blauen Nissan Skyline GTR, Jahrgang 2002. Steht in der Einstellhalle, Platz 202, kann man sich gut merken.»

«Hoppla. Eine Legende von einem Auto. Sie kennen sich damit aus?» «Eher mein Mann Daniel, aber dann und wann bekomme ich etwas an Wissen ab… Übrigens, mir ist, Becker habe sich im Laufe der Zeit irgendwie verändert, vom Aussehen her, aber ich kann mich auch täuschen.»

«Ich bleibe hier stehen, zumindest so lange, bis der Durchsuchungsbeschluss kommt», fügte Zimmermann an, was Minuten später der Fall war, praktisch gleichzeitig mit Erscheinen des «Türöffners» Hänni, der sich als Profi erweis. Nach lediglich gefühlten 20 Sekunden war die Türe offen, kein Schlüssel steckte von innen. Was die vier Leute zu sehen bekamen, verschlug ihnen die Sprache und vor allem den Atem.

Ein eindeutiger Geruch von Verwesung schlug ihnen entgegen, der automatisch dazu führte, dass Hänni und Silvia Zimmermann zwei Schritte zurücktraten und ihre Hände vor Mund und Nase hielten, beide mit der entsetzten Frage, was denn hier los sei. Brunner und Moser hingegen wussten aus Erfahrung sofort, dass sie eine Leiche vorfinden würden. Sie baten Herrn Hänni und Frau Zimmermann, sich von der Türe zu entfernen.

Vorsichtig betraten die Ermittler die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, wo sie wenige Augenblicke später hinter einer Türe einen Toten sahen, der nicht erst seit heute am Boden lag, inmitten eines einzigen Durcheinanders. Moser ging direkt auf zwei Fenster im Wohnzimmer zu, um sie zu öffnen. Ohne miteinander zu sprechen, wussten sie, was zu tun war. Keine halbe Stunde später glich der Kappelenring 7 einer belagerten Festung. Vor dem Haus standen mehrere Autos der Blaulichtorganisationen, aber auch zivile Fahrzeuge. Der Zugang zum Gebäude war abgesperrt, hinter den rotweissen Kunststoffbändern drängten sich die Schaulustigen. Das Parterre mit drei weiteren Wohnungen wurde isoliert, zumal niemand auf das Läuten reagierte, was vermuten liess, dass alle Parteien bei der Arbeit oder in den Ferien waren. Der Zugang zum Lift blieb frei.

Da sich der Gestank bis zum Eintreffen der Spezialisten dank den jetzt offenen Fenstern im Wohnzimmer leicht verflüchtigt hatte, konnten alle ihre Arbeit aufnehmen. Veronika Schuler, nach nur wenigen Stunden Schlaf, kniete mit einer Assistentin neben der Leiche, um sie oberflächlich zu untersuchen, Eugen Binggeli und Georges Kellerhals waren auf Spurensuche, Stephan Moser versuchte, Mieter auf den übrigen Etagen zu möglichen Beobachtungen zu befragen, Elias Brunner wiederum sprach mit Herrn Hänni und Silvia Zimmermann, fragte sie, ob sie eine spezielle Betreuung benötigen würden, was diese verneinten. Beide verliessen kurz danach den Kappelenring 7 mit der Zusage, mit niemandem im Detail über das Gesehene zu sprechen. Minuten später traf auch Gabriela Künzi vom Mediendienst der Kantonspolizei Bern ein. Regula Wälchli erhielt von Joseph Ritter den Auftrag, von Magglingen aus direkt nach Hinterkappelen zu fahren, um ihre beiden Kollegen zu unterstützen.

Aufgrund der Umstände war rasch klar, dass die auf 14.00 Uhr angesetzte grosse Informationsrunde sich auf ein besseres Tête-à-tête reduzieren würde, ein eher kurzes, mit Joseph Ritter, Staatsanwalt Max Knüsel, Kapokommandant Christian Grossenbacher und Ursula Meister vom Mediendienst. Der Dezernatsleiter Leib und Leben wurde unmittelbar vor der Sitzung von seinen Leuten über den neuesten Stand der Dinge in Hinterkappelen informiert. Als Erster verliess der Staatsanwalt der Runde, mit seinem inzwischen bekannten «Ritter, halten Sie mich auf dem Laufenden», was dazu führte, dass sich Ritter und Meister belustigt zuzwinkerten.

«Christian, kannst du das grösste ungelöste Rätsel der Menschheit lösen?», wollte Joseph Ritter vom Polizeikommandanten wissen.

«Wenn du mir das zutraust, gerne.»

«Wer ist dieser Max Knüsel eigentlich, ich meine, privat?»

«Ihr seid doch die Ermittler… Aber ich helfe gerne auf die Sprünge. Er wohnt zusammen mit Laika in Stettlen.»

«Er ist verheiratet?»

«Nein, Laika ist seine Hündin, er nennt sie nach der ersten Hündin im Weltall. Meines Wissens ist er geschieden und hat keine Kinder. Ich selber weiss auch nicht viel über ihn. Fährt anscheinend einen Oldtimer, wenn er nicht gerade mit dem ÖV unterwegs ist. Aber wieso die Frage?»

«Einfach so. Denn obwohl wir schon jahrelang mit ihm zusammenarbeiten, wissen wir wenig über ihn. Aber stimmt, zur Verlobungsfeier von Regula und Elias ist er allein gekommen. Auch ohne Laika.»


Hinterkappelen am frühen Morgen im Februar.

«J. R., der Mann ist ein Workaholic, jede Wette, dass er einmal Generalprokurator wird. Mehr kann ich beim besten Willen nicht sagen.»

«Immerhin. Danke, Christian», sagte Ritter, worauf sich der Polizeichef ebenfalls verabschiedete.

Die folgenden Minuten benutzten Joseph Ritter und Ursula Meister, um die Kommunikation für den späteren Nachmittag zu besprechen. Ursprünglich war ja vorgesehen, eine Medieninformation durchzuführen. An dieser hielt Ursula Meister nach wie vor fest, auch angesichts der neuesten Entwicklung. Sie erklärte ihren Entscheid damit, dass die Informationen somit gezielt kanalisiert werden konnten. Denn: Zwar waren die beiden Gewaltverbrechen innerhalb nur weniger Tage praktisch am gleichen Ort ungewöhnlich, den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Elchin Guseinow, dem Kotzbrocken, und Karl-Heinz Becker kannte indes niemand, mit Ausnahme der Ermittler und Spezialisten. Für Ursula Meister, auf dem Sprung zu ihrer Kollegin Gabriela Künzi nach Hinterkappelen, schien klar, dass die Journalisten selber einen vermuteten Zusammenhang zwischen den beiden Fällen konstruieren würden.

«Gabriela und ich schaffen die Sache allein, J. R., du brauchst nicht zwingend dabei zu sein.»

«Ursula, zum einen hatte ich noch nie Grund, an eurer Kompetenz zu zweifeln, zum anderen danke ich dir, dass ich im Büro bleiben kann. Ich will via Fedpol, eventuell auch via Bundesanwaltschaft, herauszufinden versuchen, was es mit der Niederlassung von Becker auf sich hat. Eine komische Sache.»

«J. R., man muss keine Prophetin sein, um zu wissen, was bei uns ablaufen wird: Die Elektronischen und die Boulevardblätter werden in erster Linie selber zu recherchieren versuchen und mit Nachbarn sprechen, weil von uns nebst den bekannten Fakten zur Auffindung der beiden Leichen nur ein ‹Wir ermitteln in alle Richtungen› kommen wird. Die Vertreter der Tagespresse hingegen haben ein paar Stunden mehr Zeit, ich bin selber gespannt, was da alles zu hören, zu sehen und zu lesen sein wird.»

Eine Viertelstunde später musste sich Ursula Meister regelrecht eine Gasse durch eine Menschentraube vor dem Kappelenring 7 bahnen. Und per Zufall hörte sie im Vorbeigehen Wortfetzen einer Frau, die mit einem Journalisten von «20 Minuten» sprach, den sie kurz grüsste, ohne stehen zu bleiben und ihm somit die Illusion nahm, dass sie selber mit ihm reden würde. «Mein Mann beobachtet Vögel…, der Polizei heute Morgen gesagt….» Ganz klar: Frau Rindlisbacher hatte ein offensichtliches Mitteilungsbedürfnis. Ob ihr Mann Lukas davon wusste? Wie auch immer: Damit musste man rechnen. Immerhin war es von Vorteil zu wissen, welche Fragen an der Medieninformation gestellt werden konnten.

Minuten später standen die beiden Kommunikationsspezialistinnen vor der Wohnung «Becker», wo man im Innern die Leute bei ihrer Arbeit sah. Noch immer drang ein wenig appetitlicher Geruch aus der Wohnung, weshalb alle, inzwischen auch die Kollegen Brunner und Moser, die bekannten weissen Überzüge trugen, samt Gesichtsmasken, denn man wusste nie, was für Infektionsherde sich um oder in einer Leiche versteckten. In diesem Moment gesellte sich Elias Brunner zu den beiden Frauen.

«Mon Dieu! War das ein Gestank!»

«Elias… war?»

«Ja, denn wie es jetzt noch stinkt, das ist kein Vergleich zu vorher. Die Assistentin von Veronika musste sich sogar übergeben, eher ungewöhnlich in der Rechtsmedizin, aber die Gute ist ja noch nicht sehr lange dabei… Ich erspare euch Details.»

«Ist der Tote dieser Karl-Heinz Becker?»

«Eine heikle Frage. So, wie er da liegt, kann man der Hauswartin keine Identifizierung zumuten. Iutschiin und Schöre suchen in diesem Durcheinander gezielt nach einem Foto des Mannes, damit sie einen provisorischen Abgleich vornehmen können, um sicher zu sein, dass er unsere Leiche ist, dann erst bitten wir Frau Zimmermann um eine erste Einschätzung.»

«Und Veronika, was sagt sie zu den Todesumständen?»

«Liiiiiiiiiiiiiebe Ursula, was wird sie schon gross sagen wollen? Einmal nur darfst du raten.»

«Weitere Informationen nach der Autopsie.»

«Volltreffer. Immerhin schränkt sie die Tatzeit schon einmal ein, mit Einbezug der hohen Zimmertemperatur. Mindestens vier, höchstens sechs Tage. Was heisst, dass…»

«…was heisst, dass der KB für die Tat nicht in Frage kommen kann», schaltete sich Gabriela Künzi in Richtung Elias Brunner dazwischen.

«An deinem messerscharfen Verstand werden wir uns noch einmal alle schneiden, Gabriela. Genau das heisst es», liess sich Elias Brunner verlauten.

Die Ermittler gingen nämlich davon aus, dass die übereinstimmenden Beobachtungen von Lukas Rindlisbacher und Herrn Kim sowie die Aussagen von Veronika Schuler und des KTD den Schluss zuliessen, dass KB am späten Abend des 21. Januar zu Tode kam. In diesem Moment traten Stephan Moser und Eugen Binggeli vor die Türe, auch, um tief durchatmen zu können. Binggeli hielt dabei ein Foto in der Hand, das drei Personen zeigte: Eine Frau um die Dreissig, einen Mann, etwa 50 bis 55 Jahre alt, und den vermuteten Toten, Karl-Heinz Becker, oder wie auch immer. Die Aufnahme war auf der Rückseite mit «Im letzten Sommer» beschrieben und zeigte die drei Personen auf einem Schiff vor der St. Petersinsel im Bielersee, die bekanntlich nur noch eine Halbinsel ist. Das Foto fand Binggeli unter der Matratze versteckt.

«Was Veronika uns noch verraten hat», sagte Binggeli, «ist, dass der Mann offenbar verschiedene Gesichtsoperationen hatte, was durchaus zu den nebulösen Umständen seiner Niederlassung via Fedpol passen könnte. Zeugenschutzprogramm.»

«Das Chaos in der Wohnung, Stephan: Raubüberfall?»

«Gabriela, schwer zu sagen, denn im ganzen Durcheinander liegen schon Sachen herum, die sich zu klauen gelohnt hätte. Weg sind auf den ersten Blick alle elektronischen Geräte. Ich denke, dass ein Rückschluss erst möglich sein wird, wenn uns die genaue Todesursache vorliegt. Ich beneide Veronika nicht, mit ihrem 26-Stunden-Tagesprogramm. Übrigens: Das Fenster im Schlafzimmer wurde eingeschlagen, möglich, dass der Mörder vom Garten in die Wohnung gelangt ist. Abklärungen laufen noch.» «Gabriela, kannst du uns einen Gefallen tun, damit wir keinen Kleiderwechsel vornehmen müssen?», meldete sich Stephan Moser zu Wort. «Klar doch.»

«Auf Parkplatz 202 müsste ein Nissan Skyline stehen. Kannst du das husch checken?»

«Der Wagen von Becker?»

«Autsch! Jetzt habe ich mich geschnitten…»

«Jaja, scho guet, Elias … Komm, Ursula, suchen wir Parkplatz 202.»

Gerade, als die beiden Mediensprecherinnen sich in den Untergrund begaben, erschien Regula Wälchli kurz vor 15.00 Uhr auf der Bildfläche, bestens im Bild, was in den letzten drei Stunden in Hinterkappelen passiert war. Binggeli bat Wälchli, Silvia Zimmermann das Foto zu zeigen, verbunden mit der Frage, ob sie im einen der abgebildeten Herren Karl-Heinz Becker erkenne. Regula Wälchli schaute sich das Bild genauer an.

«Iutschiin, du meinst den Mann rechts?»

«Ja, genau, Veronika scheint sich fast sicher, dass das der Tote in der Wohnung ist.»

«Und wer der Typ links ist, das willst du nicht wissen?»

«Ich denke nicht, dass Frau Zimmermann das weiss, aber frag sie trotzdem mal.»

«Es geht einfacher: Frag mich.»

«Was? Frag mich?»

«Der Herr links, der seinen Arm schützend um die Frau in der Mitte legt, das ist Maximilian Baron von Neippenberg.»

Nach dieser Feststellung waren auch Stephan Moser und Elias Brunner ganz Ohr. Regula Wälchli zeigte sich erstaunt, dass keiner der vier Anwesenden – Moser, Brunner, Binggeli und Kellerhals – Maximilian Baron von Neippenberg kannten, zumindest von den Abbildungen in den Klatsch- und Hochglanzmagazinen her. Dem Schönheitschirurgen – korrekt: dem Facharzt für plastische Chirurgie – gehörten zwei Kliniken für die vornehmlich Reichen und Schönen, oder schön Erhaltenen, wobei der letzte Ausdruck individuelle Interpretationssache schien.

Stephan Moser kam in dieser Situation seinem Ruf als Bürokalb nach: «‹Wie alt sind Sie denn, gnädige Frau?›, will der Schönheitschirurg von seiner neuen Patientin wissen. ‹Ich gehe auf die 60 zu.› – ‹Und aus welcher Richtung?›»

«Sehr schön Stephan, sehr schön. Aber vielleicht verrät uns meine Verlobte noch ein paar pikante Details zu diesem Baron.»

Regula Wälchli konnte aus dem Vollen schöpfen, obwohl sie angeblich nie die entsprechende «Fachpresse» las. Maximilian Baron von Neippenberg – niemand wusste so genau, ob er wirklich so hiess oder sich den Namen beim Titelhändler Konsul Weyer erkauft hatte –, besass zwei Schönheitskliniken, beide mit dem Namen «Venus – Clinique de Beauté», eine in Berlingen in der Nähe von Steckborn am Bodensee, die andere oberhalb von Twann, nahe bei Prägelz – französisch: Prêles –, ganz in der Nähe der Twannbachschlucht, wo Friedrich Dürrenmatt einst den schrägen Kommissär Hans Bärlach aus Bern den mysteriösen Mord an seinem fähigsten Polizeibeamten Ulrich Schmid aufklären liess. Baron von Neippenberg – sein persönliches Logo, edel auf seinem weissen Kittel aufgestickt, las sich als BvN – zeigte sich gerne als Mann von Welt, am liebsten mit bekannten Grössen aus dem Showbiz und der Politik. Überlegung: «Deren Glanz färbt auch auf mich ab.» Die Klinik an der Route de Prêles befand sich in einem ehemaligen Herrschaftshaus mit grossem Park samt altem Baumbestand. Die Aussicht auf den Bielersee war atemberaubend. Besonders auffällig, so Regula Wälchli: BvN liess sich oft mit teuren Autos abbilden, auch mit Oldtimern. Viele ähnliche Modelle seiner Kundschaft verschiedener Hersteller standen jeweils vor der Klinik, ein Hinweis darauf, dass seine Behandlungen preislich vermutlich nicht ganz der M-Budget-Linie entsprachen.

«Ich zähle mal eins und eins zusammen», überlegte Moser laut, «wenn unser Toter Karl-Heinz Becker ist und verschiedene kosmetische Gesichtsoperationen hinter sich hatte, dann passt das doch bestens mit der beruflichen Tätigkeit des Barons zusammen.»

«Schade, habe ich das nicht vorher gewusst, sonst hätte ich von Magglingen aus direkt nach Prêles fahren können», konstatierte die Frau im Team, während sie auf ihre Uhr schaute und die Herren fragte, ob sie nochmals losfahren solle.

«Nein, Teuerste, dem Baron kannst du morgen einen Besuch abstatten, so er denn nicht in Mostindien ist. Heute müssen wir versuchen, hier mit so vielen Nachbarn wie möglich zu reden, damit wir morgen früh das weitere Vorgehen mit J. R. absprechen können.»

«Gut so, mein edler Ritter und Beschützer, aber nach meinem Kontakt mit dieser Frau Zimmermann rufe ich schnell in der Clinique in Prêles an, in der Hoffnung, Durchlaucht sei morgen dort.»

«Von mir aus kannst du ihn auch ‹Durchlocht› nennen, ihn einfach nicht als ‹Baron von Merkwürden› oder ‹Your Madness› ansprechen», bemerkte Stephan Moser abschliessend.

Gabriela Künzi und Ursula Meister waren inzwischen fündig geworden, zumindest was PP 202 betraf, der Skyline GTR jedoch war weit und breit nicht zu sehen, auch auf anderen Abstellplätzen der Einstellhalle nicht. Stephan Moser erkundigte sich deshalb bei den Kollegen vom KTD, ob sie im Chaos irgendwelche Schlüssel gefunden hätten, die möglicherweise zum Kultauto passten. «Nein, bis jetzt jedenfalls nicht», rief Schöre Kellerhals aus der Ferne des Wohnzimmers. Wo aber war der Skyline?

Nur einige Minuten später kehrte auch Regula Wälchli zum Tatort zurück mit der Mitteilung, dass Frau Zimmermann den Mann rechts auf dem Foto als Karl-Heinz Becker erkannt hatte, wobei er auf der Aufnahme «im Gesicht anders» aussehe als vor zwei Wochen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen habe. Beim zweiten Mann und der Frau hingegen habe sie den Kopf geschüttelt. Derweil sich die beiden Medienreferentinnen in Richtung Innenstadt zur Pressekonferenz verabschiedeten, wurde der Tote von Spezialisten in einen Kunststoffsack gelegt und in einem Metallbehälter weggetragen. Veronika Schuler und ihre Assistentin, letztere noch immer bleich, folgten den beiden Männern, die wenig später zum IRM abfuhren, die beiden Rechtsmedizinerinnen hinterher.

Während die drei Ermittler sich auf die Suche nach möglichst auskunftsfreudigen Nachbarn machten, blieben Eugen Binggeli und Georges Kellerhals in der Wohnung zurück, die vom Geruch und der Temperatur her nur langsam wieder annehmbare Aufenthaltsbedingungen bot. Das Durcheinander war nach wie vor total.

Am frühen Abend erreichte Elias Brunner – der seinerseits seinen Chef auf dem Laufenden hielt – der Bescheid von Georges Kellerhals, dass man auf Anhieb noch keine tatrelevanten Spuren habe sicherstellen können und die Arbeit jetzt bewusst bis zum Zeitpunkt der Ergebnisse aus dem IRM unterbreche, um abhängig von den Todesumständen gezielt suchen zu können. Zweifel bestanden auch in Zusammenhang mit dem eingeschlagenen Fenster im Schlafzimmer, waren doch im Rasen keinerlei Fussabdrücke feststellbar. Wie aber waren der oder die Täter in die Wohnung gekommen?

Einen Durchbruch bei den Ermittlungen gab es nach den Befragungen der Nachbarn nicht wirklich. Niemand kannte Karl-Heinz Becker näher, zumal er erst seit knapp einem Jahr im Kappelenring gewohnt hatte. Becker sei ein «Einzelgänger» gewesen, meinte einer, «wenig gesehen worden». Eine Frau wiederum, deren Gatte in einer Garage arbeitete, wunderte sich zusammen mit ihrem Mann, dass sich «so einer» den Nissan Skyline und andere Autos habe leisten können, mit denen er öfter «in der unmittelbaren Nachbarschaft Beifall heischend» herumgefahren sei, sogar zur nahegelegenen Migros, so einer sei doch «krank».

Es liess sich auch nicht herausfinden, womit der «Tüütsche» sein Geld verdient hatte. Das sei bestimmt «ein Zuhälter», bei seinem Aussehen und den «Schlitten», die er gefahren habe, mutmassten die Nachbarn. Alles in allem: Fehlanzeige. Brunner hoffte daher auf neue Erkenntnisse durch Joseph Ritter bei der Fedpol.

Regula Wälchli ihrerseits hatte die Assistentin von BvN erreicht und ein Rendezvous für den nächsten Tag um 8.00 Uhr vereinbaren können, allerdings nur für eine halbe Stunde, nachher sei «Herr Baron von Neippenberg» unabkömmlich, ein Termin folge dem anderen. Laut Aussagen der Assistentin sei es ungewöhnlich, dass der Baron so kurzfristig einen Rendezvous-Termin bestätige, für die Polizei jedoch «mache er gerne eine Ausnahme», was Regula Wälchli ihrer Gesprächspartnerin gegenüber beinahe überschwänglich zu würdigen wusste, total widerwillig zwar, aber ohne, dass man es aus ihrer Stimmlage hätte heraushören können. Insgeheim fragte sie sich nämlich, ob BvN nicht stinknormal auf den Namen Jakob Rüdisühli getauft worden war, bei diesem Gschiiss um seine Person. Aber diese Frage stand nun wirklich nicht zuoberst auf ihrer To-do-Liste. Weil sie nicht allein nach Prêles fahren wollte, bat sie Stephan Moser, sie zu begleiten. Mit anderen Worten: Joseph Ritter musste sich zumindest bis schätzungsweise 9.30 Uhr mit Elias Brunner begnügen.

Nachdem er alle Informationen von seinen «Aussenstationen» beisammen hatte und das IRM versprochen hatte, nach einer weiteren Nachtübung bis 10.00 Uhr erste Resultate zu liefern, war für Joseph Ritter der Ablauf des Dienstags, 30. Januar klar:

8.0 00 Uhr Sichtung Medien.

9.30 Uhr Teamtreff, Vorbereitungen auf die grosse Inforunde.

15.0 00 Uhr weiteres Vorgehen und Aufgabenzuteilungen.

Mit einer SMS teilte er dies seinen Leuten mit und dankte ihnen für die auch an diesem Tag geleistete Arbeit.

Kurz zuvor besuchten an die 20 Medienschaffende die Pressekonferenz der Kantonspolizei Bern. Ursula Meister und Gabriela Künzi waren darauf optimal vorbereitet, sah man von der Tatsache ab, dass die offizielle Medienmitteilung erst zum Schluss abgegeben und verschickt werden konnte, «aus Zeitgründen, weil wir erst vor wenigen Minuten aus Hinterkappelen zurückgekehrt sind und unsere Kollegen dementsprechend erst vor wenigen Minuten briefen konnten», wie Gabriela Künzi sagte. Nach dieser kurzen Einführung kamen die beiden Mediensprecherinnen sofort zur Sache und gaben Details vor allem in Zusammenhang mit dem neuerlichen Tötungsdelikt in Hinterkappelen bekannt. Nach Abschluss dieser Ausführungen folgten die obligaten Fragen der Anwesenden, wobei es eine kurze Runde war, denn erstens gab es relativ wenig zu sagen und zweitens wollte praktisch kein Medienschaffender, dass andere coram publico die eigenen Gedankengänge mitbekam. Solche Fragen wurden unter vier Augen und Ohren nach Abschluss einer Inforunde gestellt.

«Peter Brechbühl von ‹Express Online›: Es besteht ja ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den beiden Tötungsdelikten. Was wissen Sie? Ich tippe Ihre Antwort gleich online in unsere onlinenews.ch, damit unsere Leserinnen und Leser sofort Bescheid wissen.» Mit diesen Aussagen sorgte Brechbühl bei den übrigen Teilnehmenden für Kopfschütteln, obwohl man ihn nicht wirklich ernst nehmen konnte, denn zu oft hatten sich seine angeblichen «exklusiven Informationen» als grandiose elektronische Zeitungsenten herausgestellt.

«Herr Brechbühl», übernahm Gabriela Künzi den Lead, «wenn Sie sich bereits derart sicher sind: Lassen Sie uns nach der Konferenz an Ihren Erkenntnissen teilhaben? Wir sind offenbar noch nicht auf Ihrem Wissensstand.» Darob schmunzelten verschiedene Journalisten, und eine Anwesende liess sich sogar zu einem «Bravo!» hinreissen, worauf wiederum Brechbühl sichtlich schmollte.

«Herold vom ‹Blick›: Können Sie den Tatabend vom 21. Januar in Bezug auf diesen Elchin Guseinow bestätigen?»

«Bestätigen nicht, aber es gibt übereinstimmende Aussagen, die uns das vermuten lassen. Zwei Personen haben unabhängig voneinander Beobachtungen gemacht.»

«Was für Beobachtungen?»

«Herr Brechbühl, wir informieren Sie sofort, wenn wir Fakten zusammengetragen haben, keine noch ungesicherten Angaben.»

«Jürg Spori, ‹Berner Zeitung›: Lässt sich der Zeitpunkt des zweiten Verbrechens in Hinterkappelen bereits eingrenzen?»

«Nein, dazu erwarten wir aber morgen oder übermorgen Erkenntnisse aus dem IRM.»

«Gleich eine Anschlussfrage: Hat sich die Botschaft Uralistans in Bern in die Sache eingeschaltet?» Künzi und Meister schauten sich kurz an. Die Antwort kam wiederum von Gabriela Künzi.

«Unsere Ermittlungen gehen im Moment in alle Richtungen, Herr Spori, mehr möchten wir dazu nicht sagen», sagte sie und liess damit alles offen, namentlich die Frage, ob bereits ein Kontakt mit der Botschaft stattgefunden hatte.

Es folgten noch einige Alibifragen, die darauf hindeuteten, dass nicht alle Medienschaffenden gleichermassen aufmerksam die Ausführungen während der Information verfolgt hatten. Praktisch gleichzeitig mit dem Ende der Veranstaltung wurde auch das offizielle Communiqué verteilt respektive an abwesende Redaktionen gemailt und online gestellt.

Wohlensee

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