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Ein intelligentes Gewehr

Perron 2 im Bahnhof Münsingen, 05:35 Uhr. Regnerisch und kalt war es einen Tag später, am Dienstag, 6. Mai. Joseph Ritter und die wenigen Mitwartenden würden um diese Zeit keine Sitzplatzprobleme haben. Der Abteilungsleiter hatte ob der vielen Arbeit fast keine andere Wahl, als diesen frühen Zug zu nehmen, «mitten in der Nacht», wie es ihm während eines kräftigen Gähnens durch den Kopf ging.

Er hatte wohl nicht mehr als vier Stunden geschlafen, war gestern erst gegen Mitternacht nach Hause gekommen, den Kopf voller Wirrungen, wie üblich, wenn eine Aufklärung erst an ihrem Anfang stand, mit lauter Fragen ohne Antworten. Die Pendlerzeitung war heute noch nicht in den blauen Kästen beim Bahnhof, per Zufall lag die Berner Zeitung jedoch bereits um 05:30 Uhr in seinem Briefkasten. Im Zug versuchte er, sich mit Lesen abzulenken, um den Kopf frei zu bekommen.

Ritter merkte, dass er die Berichte gar nicht richtig lesen mochte, zu sehr hingen seine Gedanken den Ereignissen vom Vortag nach, so dass er die Zeitung nach nur einer Minute etwas zerstreut und irrtümlicherweise auf die Hutablage legte, worauf sie prompt von einem Mitreisenden aus dem Nachbarabteil mit einem «Darf ich? Danke vielmals, sehr nett» geschnappt wurde, noch bevor er überhaupt antworten konnte. «Sygseso»6, dachte er sich.

«So ein Zufall! Sie im Zug, um diese Zeit, Herr Ritter? Das muss bestimmt mit dem Toten in der Marktgasse und dem ausgebrannten Auto zusammenhängen», tönte es ihm entgegen, worauf der ihm unbekannte ungefähr 40-Jährige ungefragt vis-à-vis von Ritter Platz nahm. «Und? Wissen Sie bereits mehr, als in der Zeitung steht?» Ritter wunderte sich plötzlich über sich selber, denn den entsprechenden Bericht in der BZ hatte er glatt überblättert.

«Und was schreiben sie, in der Zeitung?»

«Dass in der Marktgasse offenbar ein Unschuldiger erschossen wurde. Ist das nicht schrecklich? Wo führt das noch hin, Herr Ritter?»

«Ich weiss es nicht», sagte Ritter zum Fragenden.

«Und was ist mit den beiden Toten im Ferrari? Wenn Sie mich fragen, dann …» «Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich habe Sie nicht gefragt … », entfuhr es Ritter wenig diplomatisch, weil inzwischen einige Leute zu ihm hinüberschauten und das Gespräch mehr oder minder auffällig belauschten. «Und bitte entschuldigen Sie mich, ich muss noch schnell etwas nachschauen.»

Sprachs, stand auf und lief auf die Plattform zu den Eingangstüren, um die App der Berner Zeitung auf seinem Smartphone anzuklicken, denn es war wirklich kein Nachteil, bereits am frühen Morgen zu wissen, was die Tageszeitungen zu berichten wussten.


Der «Ringhof», wo unter anderem auch die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Bern zu finden ist.

05:52 Uhr. In Bern angekommen, war er aufdatiert, samt den Online-Portalen der Boulevard- und Pendlermedien. Zusammengefasst: Es wurde zum Ereignis des Vortages spekuliert und Zeugen befragt, die aber nichts gesehen und schon gar keinen Schuss gehört hatten. Eine Zeitung lehnte sich sogar so weit zum Fenster hinaus, dass sie einen Zusammenhang mit dem Ferrari-Brand vermutete. Immerhin stand zum Schluss der Schlagzeile ein Fragezeichen, um den eigenen Bericht gleich selber wieder in Frage zu stellen. «Fastfood-Journalismus, einfach grandios …», murmelte Ritter vor sich hin.

Ritter nahm vor dem Hauptbahnhof auf Perron G den Bus in Richtung Nordring. Zufall war es nicht, dass auch schon Stephan Moser im Fahrzeug stand. «Gut geschlafen, J.R.?», fragte er seinen Chef mit einem verschmitzten Lächeln, worauf er ein Achselzucken als Antwort erhielt.

«Du?»

«Überhaupt nicht.»

«Ich schlage vor, dass wir uns im Büro einen Kaffee genehmigen und dann den gestrigen Nachmittag nochmals chronologisch durchgehen, einverstanden?»

«Klar doch, vor allem das mit dem Kaffee ist eine sehr gute Idee.»

Zehn Minuten später stand Ritter im Büro vor einer zweiten, noch leeren grossen Plexiglasscheibe, die dazu diente, das Wichtigste eines Falles aufzuschreiben oder anzuheften.

«Ist etwas von den Kollegen des KTD zu lesen, vom IRM?», wollte er von Stephan Moser wissen, als dieser seinen PC gestartet hatte.

«Negativ.»

Just in diesem Moment ging die Türe auf, Regula Wälchli und Elias Brunner kamen gleichzeitig zur Arbeit, im Wissen, dass heute Grosskampftag angesagt war, auch in Bezug auf die Medienanfragen, die aber zum Glück von den Kapo-Kommunikatoren abgefangen wurden, so dass sich das Team auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren konnte.

«Übrigens», kam plötzlich von Regula Wälchli, «es ist reiner Zufall, dass Elias und ich gleichzeitig ankommen, ihr braucht gar nichts zu vermuten …»

«Wir haben ja gar nichts gesagt», meinten die beiden anderen Herren beinahe synchron.

«Aber einander angeschaut habt ihr euch …»

Ritter begann mit der Zusammenfassung der Ereignisse vom Vortag. Der Schuss in der Marktgasse fiel um 12:11 oder 12:12 Uhr, Sekundenbruchteile bevor Arthur Aufdermauer – so hiess der Mann – gemäss Aussagen des Notarztes «mausetot» umfiel. Er habe nicht einmal mehr den Aufprall gespürt, derart präzis hätte das Geschoss in den Rücken das Herz getroffen.

«Ein Profi?», fragte Regula Wälchli in Richtung des Chefs.

«Durchaus möglich, muss aber nicht unbedingt sein, denn es gibt heute Technowaffen, die sich leicht handhaben lassen und extrem zielgenau sind.»

Das Geschoss hatte man nach längerem Suchen hinter einer Bauabschrankung gefunden und sofort zu ballistischen Untersuchungen an den KTD weitergeleitet. Wie sich herausstellte, war Aufdermauer selbständiger Finanzberater mit einem Büro am Bahnhofplatz 3, wohnhaft in Muri, an bester Adresse, an der Pourtalèsstrasse. Beides war auf seinen Visitenkarten ersichtlich, die er in seiner Brieftasche trug, welche von der Kugel beim Austritt noch leicht gestreift wurde.

Das Duo Wälchli /Brunner, von Ritter telefonisch aufgeboten, machte sich gestern nach diesen Erkenntnissen sofort zur Liegenschaft am Bahnhofplatz 3 auf. Dort hatten einige Notare und Anwälte ihre Büros, in unmittelbarer Nähe zu Cigarren Flury und vom Läckerli-Huus, deshalb wohl auch der nicht alltägliche Duft im Treppenhaus. Auffallend, unmittelbar links nach der Eingangstüre: Die uralten, aber seither wohl mehrmals renovierten Briefkästen, die locker 100 Jahre alt sein mochten. Wollte Aufdermauer in der Marktgasse zur Bank? Zum Mittagessen? Hatte er ein Rendezvous? Fragen über Fragen. Im Haus am Bahnhofplatz 3 konnte oder wollte niemand Näheres über Arthur Aufdermauer erzählen. Doch ja, man kannte ihn vom Sehen her, wusste, womit er beschäftigt war, schliesslich stand «Finanzberatungen» unter seinem Namen auf dem silbernen Schild zu seinem Büro im zweiten Stock, einstmals eine 21/2-Zimmer-Wohnung.

«Du, ist das normal, dass eine Putzfrau über Mittag hier ist?», wollte Regula Wälchli von ihrem Kollegen wissen.

«Komisch, dass eine Frau das einen Mann fragt. Wie soll ich das wissen, ich sehe unsere gute Fee ja auch kaum mehr, im Büro.»

«Wie du weisst, hat das vor allem damit zu tun, dass sie immer seltener kommt, im Vergleich zu früher. Sparmassnahmen.»

Regula Wälchli ging auf die zierliche Frau mit asiatischen Gesichtszügen und schwarzen kurzen Haaren im Hausgang zu, zeigte ihr den Dienstausweis. «Guten Tag, ich heisse Regula Wälchli. Das dort ist mein Kollege Brunner von der Kantonspolizei Bern. Dürfen wir Sie etwas fragen?»

«Ich nichts wissen, nichts helfen können.»

«Vielleicht schon, Frau ehhh …»

«Bitte wie?»

«Wie heissen Sie, Frau …?»

«Mühlethaler.»

An die verdutzten Gesichter hatte sich Ampong Mühlethaler längst gewöhnt, wenn man sie nach ihrem Familiennamen fragte, sie, die ursprünglich aus Chiang Mai in Thailand kam.


Arthur Aufdermauer hatte sein Büro am Bahnhofplatz 3 in Bern.

«Frau Mühlethaler, putzen Sie auch im Büro von Herrn Aufdermauer?

«Ich nichts wissen, fragen Hauswart.»

«Und wo finden wir den Hauswart?»

«Wohnen ganz oben, kleine Mansarde unter Dach.»

Zur gleichen Zeit des Vortages waren die Spezialisten des KTD hinter aufgestellten Sichtschutzabdeckungen an der Arbeit. Jeder wusste, was er zu tun hatte, der Arzt hatte inzwischen offiziell den Tod des Opfers bestätigt, wenig später wurde der leblose Körper in einen Metallsarg gelegt und zur Obduktion ins IRM weggefahren. Auch zwei Verantwortliche der Medienstelle der Kantonspolizei waren vor Ort, um die Kommunikation mit den Journalisten sicherzustellen. Aus Erfahrung wussten sie, dass es keinen Sinn machte, jedem «Journi» individuell Auskunft zu geben, weshalb die Medienschaffenden für 15:30 Uhr in die ehemalige Polizeikaserne am unterem Waisenhausplatz gebeten wurden.

Nach und nach löste sich die Menschenmenge auf, gegen 17:00 Uhr, als der Verkehr wieder freigegeben worden war, hätte man meinen können, es wäre an diesem Tag vor der Geschäftsstelle der Bank an der Marktgasse gar nichts Aussergewöhnliches passiert.

«Mir ist, ich hätte diesen Aufdermauer schon irgendwo einmal gesehen, aber vermutlich irre ich mich wieder einmal und verwechsle ihn», bemerkte Ritter beim Betrachten der Polizeifotos des Opfers, die jedoch nicht als offizielles Passfoto getaugt hätten.

«Hast du eventuell einige Millionen gebunkert, von denen wir nichts wissen, und die du Aufdermauer zur Verwaltung überlassen hast?», fragte Moser, in der Hoffnung, die Diskussion etwas aufzulockern. Allerdings mit wenig Erfolg. «Fassen wir zusammen, was wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt von ihm?»

Eine Minute, nachdem sie sich gestern von Frau Mühlethaler verabschiedet und die zum Schluss immer enger und steiler werdende Wendeltreppe beinahe wie Alpinisten hinaufgeklettert waren, standen Wälchli und Brunner vor der Mansarde von Hanspeter Schneider. Dieser Name war jedenfalls auf einer kleinen Plakette zu lesen. Sie klingelten, Schneider öffnete die Türe, nachdem Regula Wälchli das Läuten wiederholt hatte. Der Hauswart roch stark nach Alkohol, sah verwahrlost aus, unrasiert.

«Ja? Was ist?»

Wälchli und Brunner stellten sich vor und fragten nach den Schlüsseln zum Büro von Arthur Aufdermauer.

«Wozu das? Was wollen Sie? Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?»

«Herr Schneider, den brauchen wir in diesem Fall nicht, wir wollen uns nur schnell umsehen, wir rühren nichts an, alles andere wird dann von unseren Kollegen vom KTD erledigt», antwortete Elias Brunner, im Wissen, dass dieses Vorgehen nicht ganz dem Lehrbuch entsprach.

Widerwillig nahm Schneider die Schlüssel zum Büro im zweiten Stock vom Schlüsselbrett, stopfte sich das Hemd in die Hose und schloss – den Polizisten den Rücken zukehrend – die Türe ab. «Ein Wunder, wenn der mit seinem Pegelstand heil hier runterkommt», flüsterte Brunner seiner Kollegin zu. Das war aber der Fall – möglicherweise schlicht eine Frage der Übung.

«Da, bitte schön, schauen Sie sich um, ich bleibe aber hier, passe auf, dass Sie nichts anrühren oder sogar abtransportieren. Sonst erzähle ich das dem Aufdermauer, wenn er wieder kommt. Wo ist er übrigens?»

«Er wurde aufgehalten, kommt heute nicht mehr ins Büro. Was können Sie über ihn sagen?», fragte Brunner.

«Nicht viel, er ist ein angenehmer Typ, verursacht keinen Stress, obwohl zwischendurch aufbrausend, vor allem in letzter Zeit. Ich habe keine Ahnung, was er genau macht. Mit Finanzen oder sowas. Aber einmal, da …», sagte Schneider, brach den Satz jedoch abrupt ab.

«Aber einmal, was passierte da?», hakte Brunner nach.

«Da war ein Riesenkrach, ich habe nicht genau zugehört, worum es ging …»

Vielleicht konnte sich Schneider ganz einfach seines Alkoholkonsums wegen nicht genauer erinnern, dachte sich der Kriminalbeamte.

«Und wann war das, Herr Schneider?», wollte Wälchli wissen.

«Weiss nicht mehr, vielleicht vor zwei Monaten, draussen war es jedenfalls kalt, daran erinnere ich mich.»

Nach diesen nicht unbedingt ergiebigen Auskünften am Bahnhofplatz 3 machten sich Regula Wälchli und Elias Brunner in Richtung Muri auf, an die Pourtalèsstrasse, wo Aufdermauer in der Nähe von vielen bekannten Berner Persönlichkeiten wohnte. Sein freistehendes Haus hatten sie schnell gefunden, sie wagten auch den Versuch, an der Haustüre zu klingeln, wo jedoch niemand öffnete. Ohne Durchsuchungsbeschluss mussten sie sich darauf beschränken, Nachbarn zur Person von Arthur Aufdermauer zu befragen. Dazu mussten sie allerdings Farbe bekennen und nach dem Vorzeigen ihrer Ausweise auch den Grund ihres Interesses angeben.

Aufdermauer lebte seit 2004 im Haus, das er von einem ehemaligen Schweizer Botschafter in London erworben hatte, als dieser in die nahe gelegene Altersresidenz ElfenauPark umsiedelte. Die Nachbarn beschrieben Aufdermauer als «unauffällig» und «zurückgezogen». Welche Geschäfte er genau tätigte, war unklar, allerdings schien er damit Erfolg zu haben. Aussagen zufolge standen in seiner Doppelgarage ein Jaguar Type E sowie ein Maserati Biturbo Coupé, beides ältere Fahrzeuge, die bei Liebhabern hoch im Kurs standen. Vor dem Haus war sein BMW zu sehen, sein Alltagsauto.

«Da ist er wohl mit dem ‹Worb-Bähnli› zur Arbeit in die Stadt gefahren», kombinierte Brunner.

«Eine sehr scharfsinnige Überlegung, Herr Kollege, Respekt!», bekam er als abschliessende Antwort. Mehr war an diesem Nachmittag über Aufdermauer nicht in Erfahrung zu bringen.

Inzwischen war es 08:30 Uhr geworden, an diesem Dienstag, 6. Mai. Der Kommandant der Kantonspolizei hatte angeordnet, dass das Team Ritter für seine weiteren Ermittlungen, da in beiden Fällen – Ferrari und Fehlschuss – Tötungsdelikte vorlagen, durch zwei weitere Kollegen aus dem Bereich «Leib und Leben» verstärkt wurde. Mit Peter Kläy (32) und Markus Werren (49). Fünf Minuten später standen sechs Leute vor den beiden Plexiglaswänden, die eine mit «Bremgartenwald» angeschrieben, die andere mit «Marktgasse».

Die Aufgabenverteilung ging schnell über die Bühne: Ritter wollte mit Peter Kläy den ungefähr 50-jährigen Mann namens Martin Bigler befragen, der gestern in unmittelbarer Nähe des Opfers stand und behauptete, man habe eigentlich ihn ermorden wollen. Eine Vernehmung war laut dem Arzt vor Ort nicht möglich, da der Mann unter einem schweren Schock stand, nicht ansprechbar war und deshalb zur weiteren Beobachtung hospitalisiert werden musste. Man stellte Ritter einen Besuch im Inselspital für heute Vormittag in Aussicht. Brunner / Wälchli ihrerseits hatten den Auftrag, im Büro und im Haus Aufdermauer nach möglichen Hinweisen einer ebenso möglichen Tat zu suchen, dieses Mal mit Durchsuchungsbeschluss, obwohl es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um einen Fehlschuss gehandelt hatte.

Stephan Moser und Markus Werren wiederum durften auf Spurensuche in Zusammenhang mit dem ausgebrannten Ferrari gehen. Was für ein Umfeld hatte Thomas «TomCat» Kowalski? Vor allem aber: Wer war das zweite Opfer? Nicht bloss die Staatsanwaltschaft wartete auf Erkenntnisse und Antworten – auch die Medienschaffenden.

Joseph Ritter hatte um 09:30 Uhr einen Termin beim Staatsanwalt. Er schätzte Max Knüsel zwar als Menschen, nicht aber unbedingt als Staatsdiener, der mit banalen Fragen wie «Im Moment kumulieren sich die Fälle, nicht wahr? Ritter, haben Sie an dieses gedacht? An jenes?» jeweils mehr an den Nerven zerrte als zur Aufklärung eines Falles beitrug. Nun gut, das war wohl seine Aufgabe. Und an ihm gab es kein Vorbeikommen. Zudem war Knüsel darauf erpicht, dass die Polizei ihre Arbeit klar innerhalb der Legalität verrichtete, was in bestimmten Einzelfällen nicht so ganz einfach zu befolgen war, wollte man an gewisse Fakten oder entscheidende Aussagen herankommen. «Tanz auf dem Vulkan» hiess das nicht nur bei den Leuten von «Leib und Leben,» und alle wussten, dass dieses Vorgehen in Ausnahmefällen Konsequenzen nach sich ziehen konnte.

Deshalb existierte der «Tanz auf dem Vulkan» offiziell nicht, schriftlich schon gar nicht.

Zehn Minuten bevor sich Ritter zum Staatsanwalt aufmachen wollte, kam Stephan Moser mit News vom KTD.

«Steff, mach es nicht so spannend. Was haben die Kollegen herausgefunden?» «Aus den Untersuchungen des IRM geht hervor, dass der Schusskanal, also der Eintritts- und Austrittswinkel des Geschosses …» – in diesem Moment wurde Moser von Regula Wälchli unterbrochen.

«Danke, Stephan, wir wissen, was ein Schusskanal ist …»

«… der Schusskanal darauf schliessen lässt, dass Aufdermauer von der gegenüberliegenden Seite der Marktgasse von hinten erschossen wurde, vermutlich aus dem dritten oder vierten Stock, wahrscheinlich Marktgasse-Nummern zwischen 46 und 52», beendete Moser seine Ausführungen, ohne sich von der Zwischenbemerkung seiner Kollegin beirren zu lassen.

Der KTD identifizierte das Geschoss zudem als «Spezialmunition des US-Herstellers Barnes Inc.», was auf ein neuartiges Hightech-Gewehr schliessen liess.

«Und das heisst?», fragte Regula Wälchli.

Joseph Ritter wusste über diese neue Waffe Bescheid, er hatte kürzlich in einem Fachmagazin darüber gelesen. «Die sogenannte Smart Rifle ist etwas ganz Neues. Gut aufpassen.»

Staunen – einmal mehr – über den Chef.

Die «Smart Rifle AR», ein «intelligentes» Gewehr, war in Zusammenarbeit mit Spezialisten von Kampftruppen und Sondereinheiten entwickelt worden und seit Kurzem in den USA auch legal im Fachhandel erhältlich. Das Besondere an diesem Scharfschützengewehr des Herstellers Trackingpoint aus Austin / Texas: Damit mutierten selbst Laien ohne grosse Ausbildung zu Scharfschützen. Möglich wurde dies durch die elektronische Zielerfassung der Hightech-Waffe, gesteuert über ein integriertes Linux-Betriebssystem. Hatte der Schütze sein Zielobjekt erst einmal erfasst, wie im Fall des Anvisierten in der Marktgasse, fixierte er es per Knopfdruck, womit eine rote Lasermarkierung fest mit dem anvisierten Ziel verbunden war, auch wenn es sich bewegte.

Bei nur leicht geöffnetem Fenster war der Lauf – mit einem speziellen Schalldämpfer versehen – fast nicht zu sehen. Schon gar nicht um 12:12 Uhr, weil die Angestellten aus den gegenüberliegenden Büros und Dienstleistungsbetrieben oberhalb der Modehäuser Wartmann und Ciolina sowie der Credit Suisse bei diesem schönen Wetter praktisch allesamt draussen in der Mittagspause oder mit Privatem beschäftigt waren. Einzig der richtige Augenblick zum Abdrücken musste noch gewählt werden und selbst dabei half das Gewehr seinem Träger: Je näher ein Schütze der Lasermarkierung mit dem Fadenkreuz kam, desto leichter liess sich der Abzug betätigen. Vorausgesetzt, der Schütze hatte sich beim Anvisieren des Ziels nicht täuschen lassen und den Falschen anvisiert.

Ritter nahm Mosers Bemerkung wieder auf: «Marktgasse 46 bis 52? Dort liegt ja auch die Klubschule, an der Marktgasse 46, wo wir zum Zeitpunkt des Mordes sassen, Lüthi, Jenni, Egli und ich.»

«Ganz ruhig, J. R., es kommen ja laut KTD auch die Nummern 48, 50 und 52 in Frage, du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen …», versuchte Wälchli den Boss zu beruhigen.

«Dennoch ergeht an dich und Elias ein neuer Befehl: Bevor ihr im Büro und im Haus Aufdermauer auf Spurensuche geht, checkt ihr mal die dritten und vierten Stockwerke der Häuser 46–52. Überprüft jedes Fenster, respektive erkundigt euch, ob gewisse Zimmer und /oder Räume gestern zur Tatzeit unbesetzt waren.»

Es schien, dass das Duo Wälchli / Brunner die stattliche Anzahl möglicher Fenster, von wo aus möglicherweise geschossen wurde, vor ihrem geistigen Auge sah, jedenfalls wirkten ihre Mienen nicht gerade heiter.

6 So sei es halt.

Fehlschuss

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