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ОглавлениеKein Tag wie jeder andere
Montag, 5. Mai. Ein schöner Tag, wie gestern Sonntagabend von Sandra Boner auf dem Dach der Fernsehstudios in Zürich bereits vorausgesagt. Die Pendlerzeitung hatte in ihrer heutigen Ausgabe den Bericht aus einer Sonntagzeitung vom Vortag aufgenommen, wonach in den letzten Jahren die Zahl der Vollzeitstellen in der zentralen Verwaltung der SBB von 737 auf 1500 gestiegen ist.
«Und womöglich sitzen diese Spezialisten, denen Kostenoptimierung und Prozesse über alles gehen, in diesem Regionalzug und belegen die Sitzplätze», ging es ihm durch den Kopf.
Es konnte denn auch nicht erstaunen, dass diese Umstände im RE 3154 entsprechend lautstark gewürdigt wurden. Pech hatte nämlich, wer an Werktagen um 07:08 Uhr in Münsingen die von Thun herkommende doppelstöckige Zugskomposition nach Bern-Hauptbahnhof nehmen musste, war doch meistens Stehen angesagt, auch heute.
Also geduldete er sich auf der Plattform zwischen den Türen ausserhalb der Abteile, mit vielen anderen Pendlern – unter anderem war da eine junge Frau mit ihrem Velo und einem schätzungsweise zweijährigen Meitli im Sitzli auf dem Gepäckträger – wie Sardinen in der Büchse. Zwei Jungverliebte indes liessen trotz der Menschenmenge nichts anbrennen und schmusten bis Bern-Hauptbahnhof hemmungslos miteinander, sehr zum Entsetzen (oder Neid?) der Reisenden.
Erstaunlicherweise war nichts darüber zu lesen, ob die Berner Polizei Neues zu ihren Ermittlungen im Fall des am letzten Freitag ausgebrannten Sportwagens im Berner Bremgartenwald mit zwei Toten zu vermelden hatte. Abgesehen davon: Es war in diesem Gschtungg1 schier unmöglich, Zeitung zu lesen, was sich ohnehin erübrigte, da die wichtigsten Themen sowieso mündlich besprochen wurden, vor allem die wieder einmal unnötige Heimniederlage der Berner Young Boys vom Vortag.
Komisch: Der ausgebrannte Sportwagen kam auch bei den Mitstehenden nicht zur Sprache, obwohl der Fall das ganze letzte Wochenende ein echtes Medienthema. Sogar «schweiz aktuell» berichtete am Freitagabend live vom Fundort im Bremgartenwald bei Bern.
Joseph Ritter, Chef Dezernat «Leib und Leben» – so hiess in Bern das Mordkommissariat der Kriminalabteilung der Kantonspolizei –, fragte sich insgeheim, weshalb er nicht einen früheren Zug mit weniger Pendlern genommen hatte. Und obwohl sich eigentlich der Rufname «Sepp» aufgedrängt hatte, war er seit seinem Eintritt bei der Kapo nur als «J.R.» bekannt, benannt nach John Ross Ewing aus der US-amerikanischen TV-Serie «Dallas» der Achtzigerjahre.
07:20 Uhr. Pünktlich traf der Zug im Hauptbahnhof Bern auf Gleis 4 ein. Auf der Rampe zur Unterführung im Bahnhof die übliche Menschenmasse. «Man könnte sich direkt auf den Stufen des Grand Station Terminals in Richtung Park Avenue oder der 42nd Street wähnen», erinnerte sich Ritter an seine Zeit in Manhattan zurück. Joseph Ritter arbeitete seit 2003 im sogenannten Ringhof, im Lorrainequartier, am Nordring, musste heute aber husch noch ein bestimmtes Dokument in Zusammenhang mit dem Sportwagen-Vorfall beim Kommando der Kantonspolizei am unteren Waisenhausplatz abholen.
Im Volksmund hiess das Gebäude noch immer «Polizeikaserne», zurückzuführen auf die Zeit, als Stadt- und Kantonspolizei bis vor wenigen Jahren getrennte Bereiche waren. Auf dem Weg dorthin kaufte sich Ritter wie üblich bei einem Take-away linkerhand seinen Becher mit einem heissen Kakaogetränk, lief am Restaurant Sous-Sol und der Bäckerei Eichenberger vorbei, anschliessend stieg er die Treppe zur Neuengasse hinauf, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Rolltreppe rechts von ihm unbeachtet lassend. Der Bahnhofplatz, am Ende der Treppen liegend, teilte die Welt in zwei Zonen: Links Burger King, rechts Gübelin mit einer Schmuck- und Uhrenauslage, die sich auch an der Park Avenue in New York gut machen würde.
Er lief die mit Berner und Schweizer Fahnen beflaggte Neuengasse entlang, wo ein grosser Coop-Sattelschlepper auf der linken Strassenseite das Warenhaus Ryfflihof mit neuer Ware belieferte. Auf halbem Weg bog Ritter nach links ins Ryffligässli ab, angeblich der kürzere Weg zur ehemaligen Polizeikaserne, da die Neuengasse auf ihrer zweiten Hälfte einen ganz leichten Rechtsknick zum Bärenplatz aufweist. Am Ende des Ryffligässlis zweigte er rechts in die Aarbergergasse ein, wo rechterhand unzählige 110-Liter-Abfallsäcke lagen, einige davon aufgeschlitzt, der Inhalt den Boden bedeckend.
Das Prozedere auf dem Kommando war eine kurze Sache, eine Routineangelegenheit: Hier C4-Briefumschlag, da Unterschrift für die Aushändigung. Ritter erwähnte zum Schluss noch die Sauerei in der Aarbergergasse. Anschliessend ging er zu Fuss – bei diesem schönen Wetter – links am Kunstmuseum Bern vorbei, zu einer Sonderausstellung zu Hodler, Segantini und Anker einladend. Gleich gegenüber lag das Amthaus, wo auch die Staatsanwaltschaft zu finden war. Ritter drehte kurz nach der Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse nach rechts auf die Lorrainebrücke ab, um 800 Meter später den Ringhof – unter anderem die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Bern – zu erreichen.
Mit einem inzwischen leeren Pappbecher, den er beim Eingang in einen Abfallbehälter entsorgte, betrat Ritter das Gebäude. «J.R., guete Tag», dieser Morgengruss wiederholte sich vom Eingang bis zu seinem Büro im ersten Stock einige Male. Joseph Ritter war bei seinen Kolleginnen und Kollegen beliebt, nicht zuletzt, weil der 55-Jährige seine zugeteilten Fälle immer pragmatisch anging, ohne übertriebenen Aktivismus.
Sein Büro teilte Ritter mit Stephan Moser, Regula Wälchli und Elias Brunner, mit drei Leuten, mit denen er bereits länger zusammenarbeitete. Der Raum selber war spartanisch eingerichtet, die vier Pulte mit ihren PCs und Telefonstationen standen jeweils zu zweit Kopf an Kopf; Ritter und Wälchli, Moser und Brunner. Ausser den Garderobenschränken und einer grossen mobilen Pinwand mit Stichworten zum jeweils aktuellen Fall – wie im Moment dem ausgebrannten Sportwagen im Bremgartenwald –, gab es im Zimmer bloss noch eine Kaffeemaschine und ein Radio, die beide auf einem kleinen Kühlschrank in der rechten Ecke des Zimmers standen.
«Hopp YB!», rief Stephan Moser nach der Begrüssung zur neuen Woche, ein echter YB-Fan, der hinter seinem Pult an der Wand ein inzwischen stark vergilbtes Poster von Jean-Marie Conz aufgehängt hatte, dem damaligen Captain, wie er 1986 noch im alten Wankdorf-Stadion zum letzten Mal für den Berner Traditionsclub den Meisterpokal in die Höhe stemmte.
«Es geht nicht mehr lange, lieber Steff, da beginnt eine neue Saison mit neuen Hoffnungen – und die stirbt bekanntlich zuletzt», sagte Ritter.
Regula Wälchli und Elias Brunner konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn diese Durchhalteparolen jährten sich bereits zum x-ten Mal.
Moser war eine Art «Büro-Kalb», immer zu einem Spässchen oder zu einem Bonmot aufgelegt. Er war ungefähr 180 cm gross, sportlich-schlank und lebte seit Längerem in einer festen Beziehung in Hinterkappelen bei Bern mit der Spanierin Dolores zusammen, einer ausgesprochen sportlichen und attraktiven Erscheinung. Trotz seiner erst 36 Altersjahre hatte Moser bereits eine Halbglatze, weshalb er seine Haare bei seinem Coiffeur jeweils extrem kurz schneiden liess, fast typisch für einen Kriminalisten. Bei der Kantonspolizei Bern war er seit seiner Ausbildung.
«Gutes Wochenende gehabt?», fragte Ritter in die Runde, wobei die Frage unisono bejaht wurde, sah man vom Standpunkt aus gelbschwarzer Sicht ab, den Klubfarben von YB.
«Ich habe dich gestern aus der Ferne an der BEA2 gesehen, im Gespräch mit Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Gehörst du eigentlich zur Cervelatprominenz?», wollte Regula Wälchli vom Chef wissen. Wälchli arbeitete, nach der Polizeischule 2006 und nach einigen Jahren bei der mobilen und stationierten Polizei – letztere waren die eigentlichen Generalisten im Polizeikorps –, seit zwei Jahren beim Dezernat «Leib und Leben». Sie erhielt nur ein kurzes Kopfschütteln als Antwort, man konnte dieses im weitesten Sinne durchaus als verständnislos bezeichnen.
Dieses Poster von YB-Captain Jean-Marie Conz 1986 bei der Übergabe des Meisterbechers hing hinter dem Arbeitsplatz von Stephan Moser an der Wand.
«Wieso sind die Papierkörbe nicht geleert worden?», wollte der Chef wissen. Wälchli hob die rechte Hand, mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben: «Sparmassnahmen, das Putzpersonal kommt bloss noch Dienstag und Donnerstag.» Elias Brunner setzte noch einen drauf: «Der Kommandant meinte, wir könnten das notfalls selber machen.»
«Klar doch, ganz sicher», entgegnete Ritter leicht echauffiert. «Wir könnten ja aber auch gleich alle vertraulichen Papiere jeden Abend einfach aufs Trottoir stellen, damit jeweils ein Journalist das alles abholen und sichten kann. Montag ‹Berner Zeitung BZ›, Dienstag ‹Der Bund›, Mittwoch ‹Blick am Abend›, Donnerstag ‹20 Minuten›, Freitag das Regionaljournal von SRF 1 und am Samstag der ‹SonntagsBlick›.»
Er hängte seine rot-schwarze Jack-Wolfskin-Jacke über die Stuhllehne und überflog rasch die Anordnung der Unterlagen auf dem Pult, um festzustellen, ob sich seit Sonntagmittag etwas verändert hatte, bevor er zur BEA aufgebrochen war. Das schien nicht der Fall zu sein.
«Gits öppis Nöis?», wollte J.R. wissen, wobei das Team genau wusste, worauf sich diese Frage bezog.
«Nein, so wie es scheint, nicht», meinte Wälchli, «auch das IRM3 tut sich mit den verlangten Ergebnissen schwer.»
Dabei stand die Journaille wie Bluthunde vor der Eingangstüre, denn die «Gruppe Ritter» war seit Freitag samt Wochenendarbeit daran, einen Aufsehen erregenden Fall zu untersuchen, der eben nicht nur von den Berner Medien – das Berner Medienhaus der Espace-Media-Gruppe lag nur unweit des Ringhofs entfernt – hautnah verfolgt und mit Spekulationen angereichert wurde.
Fakt war: In der Nacht auf Freitag, 2. Mai, hatte Franz Gottschling aus Paderborn (D) um 00:33 Uhr der Polizei per Handy gemeldet, dass beim Glasbrunnen ein Auto brenne. Er war mit dem Velo auf der ehemaligen Formel-1-Rennstrecke im Bremgartenwald im Norden Berns in Richtung Eymatt am Wohlensee unterwegs. Im TCS-Camping hatte er einen Wohnwagen stehen, verbrachte dort fast immer seine Ferien. Um 00:34 Uhr wurde die Berufsfeuerwehr der Stadt Bern alarmiert. Und tatsächlich: Direkt oberhalb des Glasbrunnens – in dessen Wasser gewisse Bernerinnen und Berner noch immer eine übernatürliche Kraftquelle vermuteten – brannte ein Sportwagen. Trotz sofortigem Einsatz mit Löschschaum konnte die Feuerwehr, die dank ihres Stützpunktes am Rand des Bremgartenwalds bereits vier Minuten nach dem Alarm eintraf, das vollständige Ausbrennen des Autos nicht mehr verhindern. Es handelte sich bei der Brandruine ohne Kontrollschilder um einen Ferrari 360 Modena, den ein Boulevard-Journalist sogleich und mit denkbar wenig Taktgefühl in «Todena» umgetauft hatte. Dass es sich um einen 360er-Ferrari gehandelt hatte, war bei diesem Wrack selbst für Autofans nicht sofort erkennbar, man hätte das Chassis auf den ersten Blick mit dem Vorgängermodell Ferrari 355 oder einem heutigen Jaguar XKR verwechseln können.
Die Ferrari- und Maserati-Garage in Hinterkappelen.
Im Innenraum des ursprünglich gelben Sportwagens befanden sich zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen, wobei es sich beim Toten auf dem Fahrersitz um den Halter des Autos handelte. Diese Klärung war dem IRM noch im Laufe des Freitagnachmittags aufgrund auswertbarer DNA-Spuren im Hause des Opfers relativ schnell gelungen. Der entscheidende Tipp dazu kam noch am frühen Morgen von der nur knapp einen Kilometer Luftlinie entfernten, in Hinterkappelen gelegenen Ferrari- und Maserati-Garage von Josef Németh.
Dank der Chassisnummer konnte Németh die Identität des Fahrers feststellen, denn sehr viele gelbe 360-Modena fuhren in und um Bern nicht umher. Im Weiteren standen dem einst über 200 000 Franken teuren Schlitten ohnehin noch die genauen Untersuchungen durch den Kriminaltechnischen Dienst (KTD) bevor. Die Leute des KTD waren noch in der Nacht samt dem Staatsanwalt zur Stelle, hatten den Fundort hell beleuchtet und grossräumig abgesperrt. Der Ferrari seinerseits war inzwischen mit einem grossen Sichtschutzzelt vor den Augen Neugieriger abgedeckt.
«Wenn es ein gelber 360er-Modena ist – oder sollte man nicht viel eher war sagen? –, dann kann es sich beim Besitzer eigentlich nur um Thomas Kowalski handeln», stellte Josef Németh im Unwissen um die näheren Tatumstände bei der Befragung durch Elias Brunner am frühen Freitagmorgen fest. «Warten Sie schnell, ich hole die Unterlagen», sagte er und verschwand für ungefähr drei Minuten aus dem Blickfeld des Kriminalbeamten.
Bedeuteten drei Minuten Wartezeit bei einer Befragung im Normalfall eine kleine Ewigkeit – bei der man fast versucht war, eine Vermisstenanzeige aufzugeben –, so waren es für den Autofan an diesem Tag gefühlte 30 Sekunden, denn nur zu gerne hätte Brunner sich im Showroom die dort ausgestellten Ferrari und Maserati länger angesehen. Und im Übrigen musste er schmunzeln wegen der Bemerkung «Warten Sie schnell», denn wie sollte das in der Praxis gehen, schnell … warten? Aber diese Frage hatte vor langer Zeit schon einmal ein Berner Kabarettist italienischer Abstammung öffentlich gestellt.
Németh konnte seine Vermutung anhand der mitgebrachten Papiere bestätigen. Beim Käufer handelte es sich tatsächlich um Thomas Kowalski. Dieser Name war Brunner nicht unbekannt. Kowalski hatte seine beste Zeit als Milieu-König von Bern zwar längst hinter sich, aber «TomCat», wie er im Milieu noch immer genannt wurde – in Anlehnung an das Kampfflugzeug der US-Navy «F-14 Tomcat» –, war noch immer eine graue Eminenz in der Bundesstadt, wobei niemand so genau wusste, womit er seinen Lebenswandel heute finanzierte.
Tatsache war, dass nicht nur in Bern einigen Nachtklubs das Wasser bis zum Hals stand, weil immer weniger Herren bereit waren, sich für eine bis zu 1 000 Franken teure Champagnerflasche von nur vordergründig trinkwilligen Damen anmachen und im Séparée mit Fingerspitzengefühl zwischen den Beinen aufgeilen zu lassen. Auch diese Branche war eines der vielen Opfer des Internets geworden, weil Kontakte zu Escortservices und offen deklarierten Prostituierten längst direkt stattfanden, ohne sogenannte Vermittlungsgebühren durch Zuhälter.
«Thomas Kowalski hat den gelben Ferrari 360 Modena am 8. November im vorletzten Jahr gekauft, aus erster Hand.»
«Aus erster Hand, was heisst das?», wollte Brunner wissen.
Németh schmunzelte.
«Nun, bei einem VW Golf würden wir davon reden, dass es eine Occasion war, bei unseren Marken aber spricht man von ‹aus erster Hand›, nicht einmal ‹second hand› wird einem Ferrari oder einem Maserati gerecht.»
«Und wer war demzufolge, nun, wie sagt man, der Neuwagenbesitzer?»
«Ein Industrieller aus der Ostschweiz, der den 360er für seine Freundin gekauft hatte. Als die Beziehung nach einigen heftigen Streitereien, so erzählte er mir, zerbrach, wollte der Mann den Ferrari so schnell als möglich loswerden.»
«Ein Ostschweizer, der nach Hinterkappelen fährt, um seinen Wagen verkaufen zu lassen? Ist das nicht ein bisschen merkwürdig?»
«Wissen Sie, Herr Brunner, Diskretion ist das Nonplusultra in unserer Branche, deshalb werde ich Ihnen den Namen des Verkäufers auch nicht nennen, weil wohl völlig irrelevant.»
Womit Németh im Grunde genommen recht hatte, es aber ausser Acht liess, dass man den vorherigen Halter beim Strassenverkehrsamt in Erfahrung hätte bringen können. Nach diesen Worten verabschiedete man sich.
Unklar blieb bis dato die Identität der zweiten Person, wodurch die Spekulationen bei den Journalisten bereits am Freitagnachmittag via Online-Newsportale ins Kraut zu schiessen begannen («Abrechnung im Milieu oder Beziehungsdelikt?»), weil es sich beim Opfer auf dem Beifahrersitz um eine Frau handelte und der Name des Toten auf dem Fahrersitz bereits durchgesickert war. Die Todesumstände beider Opfer indes blieben im Unklaren. Der Fahrer wurde durch einen vermutlich aufgesetzten Schuss auf Herzhöhe umgebracht, das Fenster auf seiner Seite war offen. Die weibliche Leiche wiederum, und einzig dies stand bis zum Montag, 5. Mai, nach Ermittlungen im IRM fest, hatte keinen Rauch in der Lunge. Die Frau starb offensichtlich an den Folgen eines Schlages auf den Hinterkopf. An weiteren Erkenntnissen arbeitete das IRM noch. «Mit Hochdruck», wie es jeweils hiess.
«Gibt es keine Vermisstenanzeige, die uns weiterbringen könnte?», wollte Ritter von seinem Team wissen.
Kopfschütteln allenthalben.
«Haben wir bereits nähere Informationen, wo der Fahrer den Donnerstag und die Nacht auf den Freitag verbracht, was er gemacht hat?»
«Wir sind weiter im Stadium der Befragungen, allerdings noch ohne konkrete Hinweise, es scheint eine Mauer des Schweigens zu geben», stellte Regula Wälchli fest.
«Und weshalb das?», fragte Ritter leicht gereizt nach.
Eine Art Schützenhilfe für seine Kollegin kam von Stephan Moser: «Kowalski scheint ein Einzelgänger gewesen zu sein, zumindest in letzter Zeit, nicht einmal von einer möglichen Freundin oder Begleiterin wollten die bisher Befragten etwas wissen.»
«Haben die Leute Angst vor möglichen Aussagen?», fragte Ritter und dachte unvermittelt daran, dass, wer in Sizilien gegen die örtliche Mafia aussagt, selten das Pensionsalter erreicht: «Gibt es eine Art bernische Omertà?»
«Nein, das glaube ich nicht, ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl. Du etwa, Regula?»
«Nein, auch nicht. Oops! J.R., es ist gleich 09:45 Uhr.»
Was nichts anderes hiess, als dass die Staatsanwaltschaft im Amthaus an der Hodlerstrasse 7 – vom Ringhof aus bequem in zehn Minuten zu Fuss erreichbar – um 10:00 Uhr Neuigkeiten zum Fall erwartete, die es jedoch nicht gab. Max Knüsel war ein Staatsanwalt der alten Schule, so, wie man sich einen Staatsanwalt vorstellt: Mitte 50, unauffällig gekleidet, eine Art kleiner Machiavelli, seiner Macht bewusst. Von ihm hiess es, er habe einen rabenschwarzen Humor, den er aber im beruflichen Alltag nicht allzu oft aufblitzen liess.
Joseph Ritter war froh, dass die Sitzung beim Staatsanwalt bereits um 10:50 Uhr zu Ende war, denn um 11:15 Uhr begann in der Klubschule an der Marktgasse der von einer halbstündigen Mittagspause unterbrochene zweistündige Kurs «Redetraining und Rhetorik», zu dem er und drei weitere Dezernatsleiter vom Kommandanten der Kantonspolizei angemeldet worden war, weil man den Medienvertretern gegenüber nicht selbstsicher genug auftreten konnte, denn von Zeit zu Zeit musste auch Joseph Ritter als Spezialist vor die Journalistinnen und Journalisten treten, wobei das normale Tagesgeschäft professionell von den Mitarbeitenden der Medienstelle der Kapo Bern erledigt wurde.
Punkt 11:00 Uhr trafen sich Beat Lüthi, Thomas Jenni und Mario Egli mit Joseph seph Ritter wie abgemacht vor der Haupttüre des Amthauses. Auf dem Fussweg in die Innenstadt – am immer noch umstrittenen Brunnen von Meret Oppenheim vor dem Polizeikommando am Waisenhausplatz vorbei – drehte sich das Gespräch logischerweise rund um den «Todena», wie Lüthi den Ferrari Modena bezeichnete, den zur Todesfalle gewordenen Sportwagen.
«Muesch itz nid o no aafa, mit däm ‹Todena›, Beätu!»4
«Habt ihr noch keine verwertbaren Aussagen, auch rund um TomCat Kowalski nicht?», wollte Jenni wissen.
«Bis jetzt nicht, nein, aber wir arbeiten daran.» Zum Glück liess sich keiner seiner drei Kollegen zu einem «Sicher mit Hochdruck» verleiten.
1 Gedränge.
2 Grosse Frühlings-Publikumsmesse in Bern.
3 IRM ist die Abkürzung für das Institut für Rechtsmedizin an der Bühlstrasse im Berner Länggassquartier
4 Jetzt musst du aber nicht auch noch mit dem «Todena» beginnen, Beat!