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Bern, die USA und Korea

Joseph Ritter war ein echter Berner Bub – oder, wie man in Bern sagt, «e Bärner Giu» –, wurde 1960 im Lindenhofspital geboren, im Länggassquartier. Und in der «Länggyge» in der Paulus-Kirche getauft, unmittelbar neben Chocolat Tobler gelegen, «dr Toblere» (die erst 1985 nach Brünnen gezügelt wurde, dem neuen Stadtteil im Westen Berns), so dass es in der Kirche ab und zu eher nach Toblerone als nach Weihrauch roch. Die Ritters wohnten an der Gesellschaftsstrasse, Vater Emanuel war bei der Schoggifabrik angestellt, als Buchhalter, wie sich der Berufsstand früher nannte. Er wusste als einer der letzten Tobler-Veteranen Bescheid, weshalb die dreieckige Schoggi so hiess, weshalb sie die noch heute prägenden Farben auf dem Wickel hatte und – vor allem! – woher die dreieckige Form stammte, nämlich ausgesprochen nicht vom Matterhorn. Aber das war sowieso eine ganz andere Geschichte und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Mutter Therese arbeitete Teilzeit bei Coop an der Muesmattstrasse, keine 50 Meter von der Schokoladenfabrik entfernt. Die Schulen waren für Einzelkind Seppli in wenigen Minuten zu Fuss erreichbar, so auch die Sekundarschule Hochfeld. Nach der Konfirmation 1976, wiederum in der Paulus-Kirche (wo es damals noch eine kleine schwarze Puppe gab, die nach Einwurf eines Geldstücks artig nickte und sich so wortlos beim edlen Spender bedankte), trat er eine Stelle als kaufmännischer Lehrling in einem Berner Sportgeschäft an der Schwanengasse in Bern an, ging zweimal in der Woche in die Berufsschule an der Effingerstrasse, Luftlinie nur knapp zwei Kilometer von der elterlichen Wohnung entfernt.

«Joe», wie er von den Gleichaltrigen jetzt gerufen wurde, gefiel seine dreijährige Lehrzeit im Sportgeschäft so sehr, dass er sozusagen freiwillige Überstunden leistete, vor allem in der eigentlichen Sportabteilung, im Untergeschoss des Geschäftes. Ihn interessierte einfach alles, was mit Sport zu tun hatte, sieht man von der Konfektion ab, aber die lag im Erdgeschoss ohnehin fest in Frauenhand. Die Fitnessgeräte hatten es ihm besonders angetan; vom Bali-Gerät alias Expander über Rudergeräte bis hin zum Hometrainer, wobei diese Trainingsmaschinen von der Konstruktion und Qualität her nicht mit jenen von heute zu vergleichen waren. Er selber trainierte vor und nach der Arbeit mit Vorführmodellen, so dass er im Laufe der Zeit eine Topfigur entwickelte. Vor allem am Samstagabend in der Berner «Tanzdiele» im Mattequartier wusste er im engen T-Shirt und ebensolchen Jeans seine Proportionen ins rechte Licht zu rücken.

Nach Beendigung seiner Ausbildung 1979 blieb Ritter bis zum Beginn der Rekrutenschule noch knapp ein Jahr im Berner Sportgeschäft, jetzt einzig als Verkaufsberater, vor allem im Bereich der Fitnessgeräte. Mit dem Kaufmännischen hatte er nichts mehr am Hut. Im Februar 1980 rückte er in die Grenadier-Rekrutenschule nach Losone im Tessin ein, eine der damals härteren militärischen Ausbildungen, die er mit Bravour bestand, ohne aber, dass er zum Unteroffizier «weitermachen» musste, was wiederum ganz in seinem Sinne war.

Joe Ritter, 195 cm gross und damals 95 Kilo schwer (selbst heute wog er noch unter 100 Kilo), bewarb sich noch während der RS beim damals führenden Berner Fitnessclub als Instruktor und bekam die Stelle. Während den nächsten zwei Jahren lernte er eine Menge dazu, nicht bloss in Bezug auf Bodybuilding – der Club war dafür in der ganzen Schweiz bekannt –, sondern auch in Zusammenhang mit Aufbaupräparaten, die er bislang nur vom Hörensagen kannte. Auch wenn diese Pillen und Spritzen – bekannt als anabole Steroide wie Chlenbuterol oder Stanozolol, einst bei der bildhübschen DDR-Sprinterin Kathrin Krabbe und dem Kanadier Ben Johnson nachgewiesen – im Club nicht verkauft wurden: Erhältlich waren sie in einschlägigen Kreisen ausserhalb des Clubs allemal. Ritter seinerseits vertraute eher auf Eier, Fisch und Steaks als Muskelaufbaumittel, womit er aber bei Bodybuilder-Contests keine grosse Chance gehabt hätte. Aber das war sowieso nicht sein Ziel.

Parallel zu seiner unregelmässigen Arbeitszeit im Fitnessclub liess er sich bei einer bekannten Security-Firma seriös als Bodyguard ausbilden, mit allem, was dazu gehörte: Von der Selbstverteidigung bis hin zum Gebrauch einer Schusswaffe, letzteres unter Ägide der Polizei. Nach weit über einem Jahr der Ausbildung bewarb er sich – aufgrund einer Zeitungsannonce – bei der US-Botschaft in Bern im Bereich der Security. Nachdem man ihn auf der Embassy durch und durch auf Herz und Nieren gecheckt hatte, samt Auszug aus dem Zentralen Strafregister (wo kein Eintrag über ihn vorhanden war), bekam Joseph Ritter den Job. Von jetzt an war er offiziell Joe. Das war 1983.

Joe Ritter wohnte damals am Schöneggweg 34 in Bern, von der US-Botschaft an der Jubiläumsstrasse und dem Tierpark Dählhölzli nicht weit entfernt, in einer 21/2-Zimmer-Dachwohnung, die er nur mit seinem Tigerkater Baloo teilte. Zwar hatte er durchaus weibliche Bekannte, bei deren erstem Anblick Baloo jeweils zu fauchen beliebte, aber keine feste Freundin. Im November 1984, nach der Wiederwahl von Ronald Reagan als US-Präsident, erhielt Joe Ritter noch auf der Wahlparty an der Jubiläumsstrasse vom Verteidigungsattaché aufgrund seiner beruflichen Qualifikationen eine Stelle angeboten, die er nie und nimmer ausschlagen konnte: Nichts Geringeres als das Pentagon sollte fortan die Adresse seiner Arbeitgeberin sein.

Im Sommer 1985 hatte Joe Ritter seine Habseligkeiten gepackt, sein Englisch in Intensivkursen auf Vordermann gebracht, die Wohnung gekündigt und den Flug mit TWA via New York nach Washington D.C. gebucht. One way. Ohne Baloo, der ins Asyl zu seinen Eltern in der Berner Länggasse ging.

Über seine Zeit in Washington war von Joe Ritter nicht sehr viel zu erfahren, weil er zu absolutem Schweigen über seine Tätigkeit im Pentagon verpflichtet wurde, nicht zuletzt weil kein US-Staatsbürger. Immerhin wusste man von ihm, dass er die ersten paar Wochen im Erstklasshotel Mayflower wohnen durfte, in unmittelbarer Nähe zum White House, wenn auch natürlich nicht gerade in der Presidential Suite. Später fand er ein Appartement im Vorort Crystal City, am Potomac River. Mit dem Auto fuhr er auf dem Jefferson-Davis-Highway in 15 bis 20 Minuten ins Pentagon, sofern nicht Staus angesagt waren, wie fast jeden Tag zu den bekannten Rushhours.

Im Pentagon lernte er unter anderem Cheryl Simpson kennen, eine 29-jährige Anwältin aus New York, die praktisch am gleichen Tag wie Ritter ihre Stelle im Verteidigungsministerium antrat. Ihr Vater, ein bekannter Banker mit eigener Vermögensverwaltung und über 500 Mitarbeitenden in Manhattan, wollte ihr «noch Praxis ausserhalb der Bankenwelt und ausserhalb der Wall Street» verschaffen, wie sie jeweils mit einem Lachen verriet. «Aber ich vermute viel eher, dass Dad bewusst eine Distanz zu Gary DiMaggio und mir schaffen wollte, mein Freund passte ihm irgendwie nicht ins Konzept.» Cheryl verstand das nicht, zumal Gary ein entfernter Verwandter von Joe DiMaggio war, einer Baseball-Ikone der New York Yankees, der einmal kurz mit Marylin Monroe verheiratet gewesen war und sogar im Song «Mrs. Robinson» von Simon & Garfunkel vorkam.

Tatsache war, dass Cheryl nach einem Jahr weniger über Baseball und die Börse sprach als vielmehr von «Börn» und «Toblerone», wobei sie zu Beginn die drei letzten Buchstaben als «one» aussprach, weil doch die berühmteste Schoggi auf der Welt. Das musste Joe Ritter unbedingt seinem Vater erzählen. Und noch viel mehr über eine gewisse Cheryl Simpson.

Nach fünf Jahren Washington verliessen Cheryl und Joe Ritter-Simpson 1990 das Zentrum der politischen und militärischen Macht. Cheryls Vater hatte dieses Mal nichts gegen den Freund seiner Tochter einzuwenden, weshalb die beiden im Vorjahr geheiratet hatten. Mehr noch: Ed Simpson hatte seinem Schwiegersohn die Führung des Departements «Security» in seiner Firma an der Board Street angeboten, in unmittelbarer Nähe der NYSE, der Börse an der Wall Street, und – was für eine Ironie des Zufalls! – auch nahe des Lincoln-Highways nordwärts, der nach einigen Meilen in den Joe-DiMaggio-Highway mündete. Ritter erzählte immer davon, wie sehr er die Zeit vor allem in New York mochte, das Haus mit Cheryl in Syosset auf Long Island, das Beach House in Bayville. Auch die jeweilige Feier des Nationalfeiertages durch den Schweizer Klub in New York auf Mount Kisco – als «Berg» aber lediglich 100 Meter über Meer gelegen …– war jedes Jahr ein Erlebnis. Nicht zuletzt, um von den Ereignissen aus der Schweiz zu erfahren, da zu jener Zeit die Smartphones noch ihrer Erfindung harrten.

Die Fahrt zur Arbeit mit dem Auto dauerte je nach Verkehr auf dem Jericho Turnpike zwischen einer und eineinhalb Stunden, was Joe nie langweilig vorkam, da auch Cheryl bei ihrem Vater arbeitete und ihm somit als Beifahrerin Gesellschaft leistete. Das alles war für Joe ein Glücksfall, mit einem Traumberuf, da Ed Simpson ihm all die Jahre sämtliche Freiheiten gewährte.

An einigen Wochenenden gabs bei den Ritters Gartenfeste an der Preston Lane 34 in Syosset, B-B-Q, einige wenige Male, so erinnerte sich Ritter, auch mit sechs Schweizern, die ebenfalls bei der Vermögensberatung von Ed Simpson arbeiteten. Mit Julius Abgottspon, einem Walliser aus Naters, einem früheren Mitglied der Schweizer Garde im Vatikan, mit Jean-Pierre Froidevaux, einem Sensetaler, wie er im Buche stand, vereinzelt mit dem Berner Turi Imobersteg, mit Gian Reutteler und seinem gleichnamigen Cousin, dessen Vorname allerdings auf Carlo lautete. Und mit der Walliserin Murielle Devanthéry. Alle sechs hatten früher bei verschiedenen Schweizer Banken in New York gearbeitet, waren im Laufe der Zeit, einer nach dem anderen, weil man sich ja kannte, zu Ed Simpson gewechselt. Vor allem Froidevaux war ein Ass, hatte eine glänzende Karriere vor sich. Ihn kümmerte es wenig, dass ihn seine Kollegen ständig mit dem Ausdruck «Foie de veau» frotzelten, mit Kalbsleber.

Im Herbst 1999 – Cheryl und Joe waren kinderlos geblieben – flogen die beiden aus Anlass ihres zehnjährigen Hochzeittages nach Hawaii in die Ferien, um zum Schluss Freunde in San Francisco zu besuchen. Aus den anfänglichen Traumferien auf Maui und Kawai wurde schliesslich ein Albtraum, am vorletzten Tag in San Francisco, als die beiden in der Nähe der Lombard Street unvermittelt in eine Schiesserei zwischen rivalisierenden Banden gerieten. Cheryl wurde dabei ohne Vorwarnung plötzlich von zwei Vermummten aus dem stehenden Auto gerissen und als Geisel genommen, ohne dass Joe das auch nur ansatzweise hätte verhindern können. Sekunden danach sank sie zu Boden, von einem Querschläger getroffen, nur Augenblicke später waren Sirenen zu hören.

Die folgenden Tage nach dem Tod seiner Frau müssen für Joseph Ritter der blanke Horror gewesen sein. Er geriet derart aus dem Tritt, dass er nur vier Wochen später die USA verliess, um bei der Schweizer Delegation bei der Waffenstillstands-Überwachungskommission NNSC im Niemandsland von Panmunjom am 38. Breitengrad zwischen Nord- und Südkorea einen Cousin zu besuchen und sein Trauma zu verarbeiten.

Das Wellblechhütten-Camp der Schweden und Schweizer als Vertreter von neutralen Staaten auf der Südseite der Demarkationslinie (Tschechen und Polen waren, als ehemals kommunistische «Bruderstaaten», auf der Nordseite zu finden) war alles andere als eine Wohlfühloase, inmitten einer verlassenen Umgebung, zum Teil mit Minenfeldern bespickt.

Die Schweizer Delegationsmitglieder – und auch ihr Leiter, mit der Bezeichnung eines Generalmajors und einer grossartigen Fantasieuniform, die jedem echten Schweizer General zu Ehren gereicht hätte – konnten deshalb an Wochenenden jeweils ins 55 Kilometer entfernte Seoul flüchten und dort im US-Camp «Yongsan» übernachten.

Ritter blieb danach unerwarteterweise ganze drei Jahre in Südkorea, weil er – als früherer Ehemann einer US-Bürgerin – beim amerikanischen Truppenkommando in Seoul auf einer Luftwaffenbasis der US Air Force USAF eine Kaderstelle als Ausbildner im Bereich der Security angeboten bekommen hatte. Ende 2002 schliesslich kehrte Ritter in die Schweiz zurück, nach Bern. Sozusagen als Quereinsteiger – aber durchaus mit den notwendigen und verlangten Voraussetzungen – trat er Anfang 2003 eine Stelle beim Kriminaltechnischen Dienst KTD der Kantonspolizei Bern an.

Mit seinen Schwiegereltern stand er immer noch in Kontakt, regelmässig.

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