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Der Schuss

Um 11:10 Uhr traf das Quartett beim Sekretariat der Klubschule im zweiten Stock der Liegenschaft ein. «Der Kurs findet im Zimmer 211 statt», stand an der Infotafel zu lesen. Diese Schule an der Marktgasse war in ihrer Art ein Unikum, mit einem grossen Innenhof, den bei schönem Wetter nicht bloss Raucherinnen und Raucher für eine Pause benutzten. Auf der gleichen Etage war auch eine Turnhalle untergebracht, wo verschiedene Sportkurse unterrichtet wurden. Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Innenhof und eine Turnhalle mitten in der Innenstadt, bei diesen Bodenpreisen. Kein Wunder also, plante die Klubschule nach eigenen Angaben, ihre verschiedenen Standorte in Bern an einem einzigen Ort beim Hauptbahnhof zusammenzulegen.

Die vier Mannen liefen in Richtung Treppenhaus im zweiten Stock an zwei Eisenplastiken von Oscar Wiggli und Bernhard Luginbühl vorbei. Im Zimmer 211 wurden sie bereits von drei anderen Kursteilnehmern erwartet – und von Kursleiterin Barbara Schmid, hauptberuflich in der Nachrichtenredaktion bei Radio SRF an der Schwarztorstrasse in Bern beschäftigt, begrüsst. Seit einigen Jahren erteilte sie auch Medientraining.

«Hoppla, J.R., eine Frau, die zu allem auch noch attraktiv aussieht …», flüsterte Mario Egli vor dem Absitzen.

«Meine Herren, wenn wir diesen Kurs beendet haben, können Sie auf Augenhöhe selbst mit sehr kritischen Journalisten kommunizieren.»

Und in der Tat: Bereits in der ersten Stunde, die nach Programm bis 12:05 Uhr dauerte, ging es zur Sache.

Um 12:07 Uhr – ein Rollenspiel zwischen Barbara Schmid und Beat Lüthi dauerte etwas länger als vorgesehen – waren die vier Polizeibeamten bereits ein ganzes Stück schlauer, hatten sie doch eine Art Crashkurs mit der Mnemotechnik hinter sich, die sie aber bis zur nächsten Doppelstunde am kommenden Montag sowohl im Büro, als auch zu Hause weiter perfektionieren mussten. Die Begeisterung bei allen Teilnehmenden darüber war gross, denn mit einfachen Merkmalen der Mnemotechnik konnte man einen halbstündigen Vortrag scheinbar mühelos halten, in der freien Rede, ohne Spickzettel. Berühmte Zeitgenossen bedienen sich heute dieser Vortragstechnik mit Erfolg vor einer staunenden Zuhörerschaft, die sich jeweils wunderte, dass der Referent keine Notizen benötigt.

Mario Egli anerbot sich, den drei Kollegen und sich selber unten im Take-away Sandwichs zu posten, ein Vorschlag, den die drei Übrigen gerne annahmen. Derweil hielten sich Beat Lüthi, Thomas Jenni und Joseph Ritter in Erwartung der «Eingeklemmten» im vom Wind geschützten Innenhof auf, etwas abseits der ebenfalls anwesenden Raucher. Beat und Thomas waren mit ihren Smartphones beschäftigt, J. R. seinerseits beobachtete durch die grosse Scheibenfront das emsige Treiben in der Nähe des Sekretariats. Um diese Zeit waren jeweils besonders viele Leute auf der Fläche: Kursteilnehmende, die gestresst in Richtung Ausgang auf ein schnelles Mittagessen aus waren, andere, die die Mittagszeit für ihre Weiterbildung nutzten und zu den Kursräumen strömten, allerdings weit weniger gehetzt.

Joseph Ritter fielen einige Farbige auf, vielleicht auf dem Weg zu einem Deutsch- oder gar Berndeutsch-Kurs, kombinierte er. Sodann waren neun oder zehn Leute mit Musikinstrumenten unterm Arm in Richtung Ausgang zu sehen. Das war nicht schwer zu erraten, denn einige Koffer hatten die Form einer Gitarre, einer Geige oder eines Saxophons. Die Musikkurse wurden eigentlich als Individualstunden angeboten, weil das musikalische Niveau der Schüler jeweils sehr unterschiedlich war. Natürlich gab es Ausnahmen, wenn zum Beispiel mehrere Mitglieder einer Band gleichzeitig bestimmte Akkorde professionell aufeinander abstimmen wollten. Das schien heute der Fall zu sein. Ritter beobachtete auch eine kleine Gruppe von jungen Erwachsenen, die auf Klappstühlen die halbschalige Eisenplastik von Bernhard Luginbühl auf Papier skizzierten.

Augenblicke später klingelte das Handy von Joseph Ritter, laut Digitalanzeige war der Anrufer Mario Egli. Komisch und typisch zugleich, dachte sich Ritter, hatte Mario bereits vergessen, wer welches Sandwich wollte?

«Hier unten liegt ein Toter!»

In den nächsten 60 Sekunden ging alles blitzschnell, weil die drei Herren praktisch gleichzeitig mit zwei uniformierten Beamten auf Patrouille am Tatort eintrafen. Dort jagte Mario Egli mit lauter Stimme bereits anwesende Gaffer zur Seite. Sanitätspolizei und Notarzt trafen wenig später ein.

Sofort wurde die nähere Umgebung des Opfers mit rot-weissen Absperrbändern abgesteckt, derweil sich die Leute der unmittelbar danach eingetroffenen Sanitätspolizei mit dem Defibrillator über den Mann beugten.

«Bitte treten Sie zurück, machen Sie der Polizei und den Rettungskräften Platz!», rief Ritter routinemässig in die Menge.

Derweil regelten drei weitere herbeigeeilte Uniformierte vorläufig den Verkehr, denn das Opfer lag nur gerade einen Meter von den Tramschienen entfernt, direkt vor einer Filiale der Credit Suisse. Minuten später wurde die Einsatzzentrale von Bernmobil – der Betreiberin von Trams und Bussen in der Stadt Bern – darüber informiert, dass die Marktgasse in beiden Richtungen sofort für jeden Durchgangsverkehr zu sperren sei, die ordentlichen Bus- und Tramkurse umzuleiten, respektive ab / von Zytglogge wieder aufzunehmen. Dieser Unterbruch sollte schliesslich über vier Stunden dauern.

Das Tohuwabohu rund um den Tatort war total, nicht zuletzt, weil die Redaktionsräume einer Boulevardzeitung an der Zeughausgasse ganz in der Nähe lagen und ein Fotoredaktor, vermutlich von einem Passanten benachrichtigt, blitzartig vor Ort auftauchte. Dies zusammen mit unzähligen Möchtegern-Reportern, die mit ihren Handys Fotos schiessen wollten, wohl in der Annahme, bei Pendler- oder Onlinezeitungen das grosse Geld mit einem Leserfoto zu machen.

«Hat jemand etwas gesehen, etwas bemerkt?», rief Ritter in die Runde, ohne äusserlich auch nur ein minimes Anzeichen von Nervosität zu zeigen. «Dann melden Sie sich bitte bei meinen Kollegen oder mir.»

Es mochten knapp fünf Minuten vergangen sein, seit die Polizei und der Arzt vor Ort waren. Inzwischen sickerte jedoch durch, dass der Mann erschossen worden war, denn die Sanitäter hatten mit ihren Wiederbelebungsversuchen nach einem Gespräch mit dem Arzt aufgehört und den Mann mit einem weissen Tuch bedeckt. Die Szene erinnerte Ritter auf einmal an ein Ereignis in San Francisco. Er wurde blass.

«Hat jemand etwas beobachtet, kann jemand eine Zeugenaussage machen? Bitte melden Sie sich bei mir oder einem meiner Kollegen, wir sind für jede Beobachtung dankbar», wiederholte er, sich ans Publikum richtend.

Ritter schaute sich um, sah plötzlich einen ungefähr 50-jährigen Mann vor den Lauben5 auf dem Trottoir stehen, der abwesend vor sich hinstarrte. Er ging auf ihn zu, fragte nach seinem Namen, erhielt aber keine Antwort, weshalb er die Frage wiederholte.

«Man, man, man hat den Falschen getroffen. Mich. Will. Man. Umbringen. Ich werde erpresst. Das, das da, das war ein Fehlschuss, man hat den Falschen getroffen …», stammelte der Mann, brach zusammen und musste vor Ort ärztlich betreut werden.

Nach einigen Minuten kam er zwar wieder zu Bewusstsein, war aber nicht mehr ansprechbar, zeigte auch keine Reaktionen, weshalb er von den Leuten der Sanitätspolizei ins Inselspital gebracht wurde, zu weiteren Untersuchungen.

5 Arkaden in der Berner Altstadt.

Fehlschuss

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