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Tübingen 1984
ОглавлениеThomas Deuschle
Traumkreuze
Eine spektakuläre Erkenntnis
droht die Weltordnung auf den Kopf zu stellen.
Das Orbinat,
eine geheimnisvolle Organisation,
versucht die Veröffentlichung zu verhindern.
Köpfe rollen.
Hermann Berger, der 44-jährige Anatomie-Professor an der Tübinger Universität, schwang den Reisigbesen in großem Bogen, um den Gehweg vor seinem Haus vom spätherbstlichen Laub zu befreien. Wastl, sein Rauhaardackel, ging rückwärts vor dem Besen her und versuchte jedes Mal hineinzubeißen, wenn er vorbeistrich. Er kommentierte es stets mit grimmigem Knurren. Beide, Herr und Hund, hatten großen Spaß an der abendlichen Tätigkeit.
Ein ganz in Schwarz gekleideter junger Mann stand unvermittelt vor der Gartentür seines schönen Hauses in einem Tübinger Vorort. Wastl schaute kurz irritiert, um gleich darauf mit eingezogenem Schwanz und winselnd im Garten zu verschwinden.
„Komisch“, sagte Hermann zu dem Fremden, „sonst kläfft er Fremde an oder aber er freut sich. Dass er flüchtet, kenne ich nicht an ihm.“
Der Fremde hatte einen edlen mediterranen Gesichtsschnitt. Er schaute dem Hund nach, ohne besondere Mimik, ohne Kommentar. Er wusste, dass Hunde Angst vor ihm haben.
„Darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“, fragte er Hermann freundlich.
„Bitte schön! Gehen wir ins Haus“, antwortete Hermann. „Ich kann ohnehin nicht weiterfegen, denn dies können wir beide nur im Team.“
„Danke, dass Sie mir Ihre Zeit schenken. Wir werden aber nicht lange brauchen. Auch bin ich sehr in Eile. Es geht hier. Sie dürfen sogleich weiterfegen.“
Hierbei schmunzelte der Fremde. Dann kam er mit ernster Miene rasch zur Sache:
„Sie sind unserer Organisation bekannt als eine der Koryphäen in Sachen Anatomie“, hob er an. Hermann fühlte sich geschmeichelt, obwohl er von seinem guten Ruf wohl wusste.
„Um welche Organisation handelt es sich denn? Um eine akademische?“
„Nein, das Orbinat ist am besten als klerikale Organisation zu umschreiben. Daher haben wir unseren Sitz in Vatikanstadt.“
Er sprach, dies fiel Hermann nun auf, mit leicht italienischem Akzent.
„Das Orbinat arbeitet ausschließlich an der Erforschung eines Phänomens, und wir haben das Mandat dafür von verschiedenen Weltkirchen erhalten.“
„Und Sie meinen, ich könnte Ihnen dabei helfen? Ein Phänomen, sagten Sie? Hat es mit dem menschlichen Körper zu tun?“
„Es handelt sich um ein Phänomen, das wissenschaftlich noch nicht restlos erforscht ist. Es gibt Menschen, die eine ganz außergewöhnliche Begabung haben. Eine Begabung allerdings, die der Menschheit sehr gefährlich werden könnte. Wir wissen noch zu wenig.“
„Ist es psychischer Natur? Ich bin weder Psychologe noch Mediziner. Ich bin ein Biologe, der sich mit der menschlichen Anatomie beschäftigt und angehende Ärzte schult. Sind Sie sicher, dass Sie an der richtigen Tür angeklopft haben?“
„Ganz sicher“, sagte der Schwarze. „Wir bemühen uns derzeit aber nicht nur um Sie als Partner, sondern wir möchten auch eine Reihe anderer Wissenschaftler mit ins Boot setzen. Die Anatomie ist für uns jedoch ein sehr wichtiges Element. Wir brauchen mehr Informationen darüber, wie ein Mensch funktioniert. Bis ins kleinste Detail. Und, keine Sorge, wir möchten nicht, dass Sie mitforschen. Das Orbinat möchte Sie und die anderen nur mit den Menschen mit diesem Phänomen bekannt machen. Es ist bislang völlig unveröffentlicht.“ Mit diesen Worten fasste er sich in die Innentasche seines Anzugs und zückte einen Umschlag. „Natürlich möchten wir Ihre Dienste nicht umsonst in Anspruch nehmen. Unsere Organisation ist mit einem guten Budget ausgestattet.“ Er übergab den Umschlag Hermann. „Außerdem haben wir den Termin, eine Art Workshop, auf die Winterferien der Universitäten gelegt. Wir würden uns freuen, Sie nach Weihnachten im Vatikan begrüßen zu dürfen.“
„Ist es verbunden mit einer Audienz beim Heiligen Vater?“, fragte Hermann amüsiert. Er war noch nicht bereit, das Ganze ernst zu nehmen.
„Wie gesagt, das Orbinat ist keine Einrichtung der katholischen Kirche. Vatikanstadt ist jedoch durch seine Neutralität der ideale Ort für unsere Aktivitäten. Wir haben dort eine Art Bleiberecht.“ Hermann öffnete schmunzelnd den Umschlag. Und machte große Augen. Er enthielt ein Erste-Klasse-Flugticket nach Rom, zusammen mit einem weiteren Umschlag mit 7.000 Dollar in bar. Hermanns Schmunzeln erfror.
Der Schwarzgekleidete redete ruhig weiter:
„Es ist lediglich eine Anzahlung, weitere 21.000 Dollar werden nach Teilnahme an dem Projekt folgen. Einige Tage wird es schon dauern, denn es ist eine recht komplexe Geschichte. Sie werden erstaunt sein, wenn Sie alles erfahren haben. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass Sie aufgrund ihrer Kompetenz moralisch fast verpflichtet sind, hierbei mitzuarbeiten. Ich versichere Ihnen, nach Veröffentlichung unserer Arbeit werden Sie in der ganzen Fachwelt noch bekannter sein und in der Bevölkerung berühmt. Wenn wir veröffentlichen – Sie entscheiden mit.“
„Sie werden mir vorab doch sicherlich mehr Informationen zukommen lassen? Ich kann doch nicht einfach so ins Blaue nach Rom fahren?“
„Nein, das ganze Projekt unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Wie sonst ist es zu erklären, dass Sie und die Welt noch nie etwas davon gehört haben?“
„Darf ich wenigstens Ihren Namen erfahren? Und bekomme ich Ihre Kontaktdaten?“
„Auch hier muss Ihnen ‚Bruder Vinzenz‘ ausreichen. Ich selbst kenne nicht einmal den profanen Namen meines Chefs. Sie erkennen Mitglieder unserer Organisation im Übrigen an dieser Anstecknadel am Revers.“ Dabei deutete er auf eine kleine, violett emaillierte, quer liegende Acht. „Wir selbst nennen uns Prediger. Dies muss als Information zunächst ausreichen. In Rom erfahren Sie alles.“
„Das Zeichen für Unendlichkeit“, murmelte Hermann, und während er noch auf das Emblem starrte, nahm er des Predigers kräftigen Händedruck zum Abschied entgegen.
„Sie brauchen sich nicht vorzubereiten“, sagte dieser beim Weggehen. „Alles, was Sie dazu beitragen können, haben Sie im Kopf. Ich werde Sie dann am römischen Flughafen erwarten.“ Hermann wollte noch etwas sagen, öffnete seinen Mund, der Fremde zeigte sich jedoch nicht bereit, sich nochmals umzudrehen, und ging zügigen Schritts davon. Wohl eine Minute staunte Hermann ihm nach, schüttelte den Kopf. Wastl watschelte vorsichtig zur Gartentür und witterte dem Fremden nach. Danach ermahnte er Hermann bellend, die Arbeit auf dem Gehweg noch zu beenden. Hermann hielt immer noch den Besen in der Hand. In der anderen den Umschlag mit dem das Schicksal bestimmenden Inhalt. Hermann wusste, dass er diese Reise ins Ungewisse antreten würde. Seit jeher waren ihm die Breaks an Feiertagen lästig, er freute sich auf eine abenteuerliche Abwechslung. Seine Familie würde Verständnis zeigen und 28.000 Dollar waren ein beachtliches Nebeneinkommen.