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Porto Velho
ОглавлениеPorto Velho, Aeroporto, 23:30 Uhr. Die Sommersonne war längst hinter dem Horizont verschwunden, doch immer noch lag brütende Hitze über dem Rollfeld. Die verbliebenen neun der ehemals elf Wissenschaftler saßen in der sehr betagten Caravelle und warteten. Alle werden in Rio de Janeiro Anschlussflüge buchen müssen, um wieder nach Hause zu gelangen.
Die Maschine war bis zum Überlauf vollgetankt, denn die etwa 2.600 Flugkilometer bis nach Rio lagen nur unwesentlich unterhalb der Reichweite. Das Flugzeug gehörte keiner Fluglinie an. Zumindest war außer einem blauen Streifen nichts am Rumpf der Maschine erkennbar, was auf eine Airline hätte schließen lassen. Unmittelbar nach dem Boarding hatte sich die riesige Lade, die am Hinterteil der silbrig glänzenden Maschine als Gangway diente, geschlossen.
„Ich bin noch nie über das Arschloch in einen Flieger eingestiegen“, hatte einer der Männer beim Zusteigen mit gepresstem Humor von sich gegeben, das Lachen der anderen war jedoch eher verhalten.
Nachdem die integrierte Gangway verriegelt war, konnten von außen kaum noch Geräusche wahrgenommen werden. Die Männer fanden sich hermetisch abgeschirmt.
Die neun waren die einzigen Fluggäste. Die Freude auf die Heimkehr paarte sich mit einem widerlichen Gefühl der Angst. Seltsame Dinge hatten sich in den letzten Tagen ereignet. Sie lagen als schwere Last auf den Gemütern der Wissenschaftler. Verdrängungsmechanismen funktionierten nicht, jeder war mit seinen Gedanken ausschließlich mit dem Ablauf des Projektes beschäftigt, das einen so ungewöhnlichen und bedrohlichen Ausgang genommen hatte.
Alle setzten sich erstaunlicherweise eng zusammen, ganz nach vorne, hinter das offene, noch unbesetzte Cockpit. Jeder Einzelne hätte zwei nebeneinander befindliche Sitze wählen dürfen, um komfortabel schlafen zu können. An Schlaf dachte noch niemand, obwohl alle recht erschöpft waren. Diese komische Angst versetzte sie in eine Unruhe, alle waren hellwach, keiner jedoch ließ sich etwas anmerken oder sprach es gar aus. Nur Hermann Berger entschied sich für einen Platz weit hinten im Flieger. Er hatte, wie alle anderen auch, den Koffer mit in die Kabine genommen. Platz gab es ja genug. Die beiden unattraktiven Stewardessen, beide in schlichtem Blau gekleidet, saßen teilnahmslos in der Mitte der Maschine, eine links und eine rechts vom Gang, und wechselten nur selten einige leise Sätze in Portugiesisch.
Kaum einer der Wissenschaftler sprach. Sie waren völlig ausgepowert, zu viel musste die Gruppe in der Zeit des Aufenthalts verarbeiten. Von den Wissenschaftlern fehlten zwei. Die beiden hatten sich kollektiv das Leben genommen. Mit einem Jagdgewehr. Sie hatten sich zu diesem Zweck in der Waffenkammer des Klosters getroffen. Das Kloster ohne Schlösser und Schlüssel – da sieht man mal. Die restlichen neun Männer hätten möglicherweise von diesem Vorfall nichts mitbekommen, hätte sich nicht einer der Selbstmörder zuvor beim Nachtmahl Hermann vage mitgeteilt. Und natürlich waren die Schüsse zu hören, in kurzem Abstand fielen zwei Stück. Das war letzte Woche Dienstag. Danach wollte jeder nur noch nach Hause. Sicherlich hätte der eine oder andere versucht, auf eigene Faust das Kloster zu verlassen, aber hinter der massiven, mit Stacheldraht bewehrten Mauer, welche die Klosteranlage fest umschloss, gab es nur Dschungel, Sümpfe und Kautschukbäume. Natürlich gäbe es auch wilde Tiere und giftige Ottern zuhauf, die einen Marsch in die nächste Urbanisation lebensgefährlich werden ließen, wie die Prediger mit drohendem Blick immer sagten. Keiner wollte mehr an diesem Projekt teilhaben. Bruder Paul gab daher den Auftrag, die Rückreise für alle Teilnehmer zu organisieren.
Die zwei Leichen waren vermutlich mit an Bord. Vermutlich – denn gesehen hat die Toten keiner. Der Anblick wäre auch unsäglich gewesen.
Vor den grün lackierten Waffenschränken hatten sie sich in den Mund geschossen. Mit einer Winchester 308, einer Jagdwaffe. Zuvor hatten sie noch den Lauf mit Wasser gefüllt. Die Hirne der Selbstmörder hatten sich in der grauen und fensterlosen Waffenkammer verteilt. Die zwei wollten definitiv gehen. Wer wohl den ersten Schuss abgab? War es der Priester aus Belgien oder war es der Arzt aus Budapest?
Ebendieser Arzt hatte sich Hermann mitgeteilt und seinen Suizid angekündigt. Hermann hatte nicht versucht, ihn davon abzuhalten. Vor einer Woche noch hätte er es wohl mit allen Überredungskünsten versucht, aber jetzt, als er alles wusste, kam es ihm nicht in den Sinn. Alle gaben sich in Gedanken irgendwie der Zeit nach dem Tod hin. Aus neuer Perspektive. Die Männer der Gruppe wussten genau, was die beiden in den Freitod getrieben hatte. Die Aussicht auf eine herrliche Zeit nach dem Leben. Beide hatten nichts auf der Welt zu verlieren gehabt: Der Priester litt unheilbar an Krebs, der Arzt hatte seine geliebte Frau durch einen Unfall verloren und wollte zu ihr. Die zwei zogen daher den schnellen Freitod vor. Und es war so einfach gewesen, da die Waffenkammer offen stand.
Die Teilnehmer hatten in den letzten Wochen Unfassbares verarbeiten müssen. Etwas, das die Weltordnung auf den Kopf stellen wird.
Es waren sich alle sicher: Die Welt wird schon in wenigen Tagen eine völlig andere sein. Wenn neun hoch anerkannte Wissenschaftler weltweit mit revolutionär neuen Erkenntnissen über ein Leben nach dem Tod an die Öffentlichkeit gehen, bleibt dies nicht ungehört. Die Welt wird die Ergebnisse erfahren − und alles wird sich verändern! Alles!
Über eines waren sich die Wissenschaftler jedoch ebenfalls einig: Nach Veröffentlichung der Erkenntnisse wird die Anzahl der Selbstmörder weltweit nach oben schnellen. Eine Todessehnsucht wird insbesondere jene treiben, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, oder eben jene, die denken, dass sie sich in dieser Situation befinden. Die zwei, die nicht mehr nach Hause wollten, sondern den Freitod wählten, waren das beste Beispiel dafür.
Fast wie in Trance richteten die Wartenden ihren Blick stur auf die Kopfstütze des Vordersitzes. Wenn es nur endlich losginge! Wo bleiben die Piloten? Wie würden bei dieser Hitze die Leichname im Gepäckraum durchhalten? Auf der nördlichen Halbkugel war tiefster Winter. Die Männer der Forschergruppe hatten allesamt den Jahreswechsel in diesem abgelegenen Kloster verbracht. Ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.
Schlimmer noch war, dass keiner der Teilnehmer in den vergangenen Tagen irgendein Signal nach Hause senden konnte. Das Kloster hatte tatsächlich keinerlei Kommunikationseinrichtungen geboten, und wieder mussten sie auf dem Flughafen von Porto Velho vom Hubschrauber direkt in die Caravelle steigen. Dass keiner ihrer Angehörigen und Freunde etwas von diesem Aufenthaltsort hier wusste, empfanden alle als unerträglich. Keiner hatte irgendjemand mitteilen können, dass sie von Rom aus mit einer Maschine über den großen Teich nach Rio de Janeiro verbracht worden waren. Sie hatten zu Hause ja nur vom Ziel Vatikanstadt berichten können, also wurden sie auch nur dort gesucht. Als die eine oder andere besorgte Ehefrau nach Tagen versuchte, die Spuren ihres Mannes nachzuvollziehen, hörten diese im Airport Rom auf. Im Vatikan war keiner der Vermissten angekommen. Auf der Passagierliste des gebuchten Fluges stand noch der Name, danach fand sich kein Lebenszeichen mehr von ihnen. Die elf Männer, die vorher keinen Kontakt zueinander hatten, fehlten nach dem Abschied von der Familie und ihren Arbeitsstätten wie vom Erdboden verschluckt. Natürlich setzten einige Angehörige alles in Bewegung, um die Ursache zu erfahren. Von einem Orbinat hatte im Vatikan noch niemand etwas gehört. Vielmehr hielt man dort die wiederholten Anfragen für einen organisierten Ulk und beendete schnell die Gespräche. So hielten alle das Rätsel um ihren Vermissten für ein Einzelschicksal. Niemand auf der Welt brachte dieses Verschwinden der elf Personen in einen Zusammenhang. Hatte man nicht schon öfter gehört, dass sich Männer im besten Alter in einer Art Torschlussreaktion von der Familie absetzten, um mit einem Flittchen eine schöne Zeit zu erleben? Sie kämen nach einiger Zeit alle geläutert zurück, um einige Tausend Euro ärmer zwar, aber um eine Vielzahl an nachhaltig schönen Erlebnissen reicher. Für diese Version sprach auch die Tatsache, dass alle ihren Frauen eine große Summe Geld auf den Tisch gelegt hatten. So hofften seit Tagen in der ganzen Welt Ehefrauen und Kinder auf die Rückkehr ihrer Ehemänner beziehungsweise ihrer Väter oder wenigstens auf ein Lebenszeichen.
Zu der Information, die die Wissenschaftler am ersten Abend erhalten hatten, hatte sich im Laufe der Woche eine weitere Erkenntnis etabliert. Die Prediger stellten überzeugend dar, dass alle Verstorbenen in einem späteren Leben diese glücklichen Fremderlebnisse ebenfalls aufnehmen und selbst erleben könnten. Aber eben erst nach ihrem eigenen Ableben und nicht, wie die Probanden, schon zu Lebzeiten. Als Seele wird der Verstorbene nicht nur auf alle seine eigenen weltlichen Erlebnisse wieder zugreifen können, sondern ebenso auf alle anderen. Sicherlich so oft er will.
„Die Versendung und Speicherung der Gehirnaktivitäten haben also einen himmlischen Grund“, meinte Paul. Dabei wollte er etwas Humor in seine Worte fließen lassen, erntete jedoch nur erschrockene Blicke von den Wissenschaftlern. Große Verwirrung machte sich unter allen breit. Und Angst.
Allein durch die vage Vermutung, im Jenseits an jedes glückliche Erlebnis eines jeden Menschen zu gelangen, hatten zwei der Wissenschaftler spontan den Freitod einem vermeintlich hoffnungslosen Dasein auf der Welt vorgezogen.
Es war daraufhin zu Tumulten gekommen. Die Wissenschaftler sahen sich missbraucht und wollten schnellstens wieder nach Hause. Die Gruppe hatte heftig darüber diskutiert, ob die Forschungsergebnisse der Welt mitgeteilt werden sollten oder nicht. „Wir wollen nicht Schuld tragen an einer Selbstmordwelle“, war die Meinung der einen. „Wir möchten schnellstmöglich alles veröffentlichen, damit alle Religionen diese neue Erkenntnis in ihr Programm aufnehmen können“, sagten die anderen.
Am Tag vor der Rückreise rief Bruder Paul alle erneut in der Kapelle zusammen. Er hatte versichert, dass er mit vielem gerechnet hätte, aber nicht mit dieser Uneinigkeit in der Abstimmung. Anfangs hatten die meisten der Wissenschaftler für den Gang an die Öffentlichkeit plädiert, nur zwei hielten es für verantwortungslos. Nach den Selbstmorden jedoch wechselte die Stimmung. Tatsächlich waren fünf der verbliebenen Neun für eine Veröffentlichung, die anderen vier aber dagegen. Es wurde kein einheitlicher Konsens gefunden. Nach vielen Diskussionen endlich: Auf Pauls intensives Drängen hin bestätigten alle, nach ihrer Rückkehr keinesfalls an die Presse oder andere Medien zu gehen. Das Phänomen müsse unter allen Umständen geheim bleiben. „Wir wollen alle in Verbindung bleiben und uns gegebenenfalls erneut treffen“, sagte er. „Wir alle tragen ein ungeheures Geheimnis in uns und daher auch die Verantwortung.“
Hermann war sich jedoch sicher: „Einige werden diese ganze Geschichte so schnell wie möglich und so ertragreich wie möglich an die Öffentlichkeit bringen. Der Erste kommt vermutlich am größten heraus und erhält sicherlich auch das beste Honorar für die Story. Die vereinbarten 21.000 Dollar erhalten die noch Lebenden als Scheck, den Suizidanten wird es auf ein Konto überwiesen, nachdem man Kontakt mit den Familien aufgenommen hat.“ Paul teilte dann auch tatsächlich die Couverts aus. „In Rio wird Bruder Vinzenz warten und allen ihre Tickets direkt nach Hause bezahlen. Der Rückweg wird nicht über den Umweg Rom führen.“
Hermann schämte sich bei dem Gedanken, dass er insgeheim nicht mehr mit dem Geld gerechnet hatte. Der Scheck war ausgestellt in Rom, von einer Bank des Vatikans. Er fasste dankbar in die Innentasche seines Sakkos und befühlte zum wiederholten Male den graugrünen Umschlag. Dabei hatte er selbst nur sehr wenig Produktives mit eingebracht. Er hatte einen Vortrag gehalten, wie der menschliche Körper funktioniert. Alles, was er über das Gehirn wusste, wie es arbeitet und in welchem Gehirnbereich was angesiedelt ist. Er dozierte über Erbinformationen und die DNA-Spirale. Auch die anderen Wissenschaftler konnten zu dem Projekt nur wenig beitragen. Eigentlich bestritten im Wesentlichen die Prediger und allen voran Bruder Paul die Diskussionen und Abwägungen. Nach den zwei Selbstmorden betrachteten auch sie die wissenschaftliche Arbeit aus anderer Perspektive. So entstand in ihnen die Erkenntnis, dass keinesfalls etwas an die Öffentlichkeit gelangen dürfe. Paul hatte daraufhin die Teilnehmergruppe vergattert: Alles über die neuen Erkenntnisse sollte Geheimnis des Orbinats bleiben. Die ganze Gruppe stimmte diesem Wunsch zu. Ohne Diskussion, was Paul eher beunruhigte.
Hermann zuckte zusammen, als ihm eine Stewardess ein Getränk anbot, so sehr war er gedanklich in die jüngste Vergangenheit vertieft. Dankbar nahm er den Orangensaft entgegen. Wie lange es noch dauere? Die Flugbegleiterin zuckte mit den Schultern und blickte dabei nicht besonders freundlich drein. Die anderen Männer betrachteten immer noch phlegmatisch die Rückenlehne des Vordersitzes oder schauten teilnahmslos aus dem kleinen Kabinenfenster dem Treiben vor dem niedrigen Flughafengebäude zu.
Hermann trug ein großes Geheimnis mit sich herum. Er hätte sich nahtlos in die Reihe der sieben Probanden einfügen können, denn auch er hatte mehrfach Fremderlebnisse im Kloster empfangen. Einmal war ihm dies auch schon in Europa widerfahren. In Südtirol, vor etwa einem halben Jahr. Auch sein Sohn Alec empfing damals ein Fremderlebnis. Allerdings hatte Hermann für diese „lebhaften Träume“, wie er am nächsten Morgen sagte, eine völlig andere Erklärung. Er schob die hyperrealistische Träumerei auf die Jägerschnitzel, die sie zuvor in einem Gasthaus verzehrt hatten. Als Biologe wusste er von Halluzinogenen, die in Pilzen vorkamen. Er dachte, da wurde wohl ein falscher Pilz mit verarbeitet. Seine Frau aß Hühnchen und erlebte keine wilden Träume. Er und sein Sohn Alec waren nach dem Aufwachen immer noch voll des Glücks gewesen.
Alec war zehn Jahre alt und hatte sich nach dem nächtlichen Empfang, damals in Südtirol, völlig durcheinander gezeigt. Die Familie hatte auf dem Weg nach Rimini auf einem Friedhofsparkplatz übernachtet. Im Wohnwagen. Kein Zweifel, sein Sohn Alec und er gehörten in die Gruppe jener Menschen, die schon zu Lebzeiten in fremden Körpern erleben konnten.
Dass Hermann ebenfalls empfangen konnte, hatte er niemandem erzählt. Den Predigern nicht und auch keinem der Forscher. Er wollte zunächst, bevor er sich offenbarte, den Ausgang der ganzen Aktion abwarten. Mit Verwunderung stellte Hermann fest, dass sich auch bei ihm bereits Suchtansätze zeigten. Er täuschte die letzten Tage einen Infekt und ein daraus resultierendes Schlafbedürfnis vor. So wunderte sich niemand darüber, dass er mehrfach täglich seine Zelle aufsuchte. Nur Bruder Paul war irgendwie ahnungsvoll gewesen, denn er hatte Hermann komisch angesehen und Suggestivfragen gestellt.
Plötzlich wurde Hermann bewusst, dass er wohl sein bis dahin sauber getaktetes Leben nicht mehr weiterführen konnte. Mehr als nach seiner Familie und seinem Heim sehnte er sich nach dem Friedhofsparkplatz in Südtirol. Dies stellte er ebenfalls mit Erstaunen fest. Sein Leben würde ein anderes werden. Und Hermann war voller Bangen, dass die Wissenschaftler etwas nach außen tragen würden. Wäre er dann mit dieser Veranlagung nicht ziemlich schnell ein Hauptdarsteller und würde im Licht der Bühnen der ganzen Welt stehen? Ähnlich prophezeite es ja auch Vinzenz damals beim ersten Gespräch. Er, Hermann, würde berühmt werden, hatte er gesagt. Noch berühmter. Doch in Hermann hatte sich schleichend ein Wertewandel vollzogen. Von Wert waren nicht mehr Ruhm und Geld – wichtig für ihn würde in Zukunft nur noch der uneingeschränkte Zugang zu den Orten der Empfänge sein. Denn dies bedeutete pralles Glück, wann immer er es haben wollte.
Endlich – die Piloten stiegen zu. Eigens für diesen Vorgang wurde erneut die integrierte Gangway im Heck der Maschine abgesenkt.
„Entschuldigen Sie diese unangenehme Verzögerung, aber wir mussten noch die Abfertigung der Särge abwarten“, war das kurze Statement eines Piloten im Vorübergehen. Die Männer an Bord nahmen die Worte dankbar entgegen. „Es wird nur noch etwa zwanzig Minuten dauern, dann erhalten wir die Starterlaubnis.“ Sie setzten sich gemächlich an ihre Arbeitsplätze im Cockpit. Die Flugbegleiterinnen folgten nach vorne.
Im Bruchteil einer Sekunde revoltierte etwas in Hermann. Warum gab es keine weiteren Passagiere an Bord? Warum hatte es keine Personenkontrollen gegeben? Alles war plötzlich so unwirklich, so bedrohlich. Vom Hubschrauber gleich umsteigen in die Caravelle? In einen Flieger ohne die Kennzeichen einer Fluglinie? Noch war die Gangway unten. Ohne weiter zu überlegen, griff Hermann nach seinem Koffer und stieg wieder aus dem Flugzeug. Keiner der Insassen oder des Bordpersonals bemerkte es. Er ging eiligen Schrittes in Richtung des Abfertigungsgebäudes, drehte sich nochmals um und sah, wie die Gangway der Caravelle von Flughafenarbeitern nach oben gehievt und von innen verriegelt wurde.
Die Maschine setzte sich langsam in Bewegung. Endlich! Ein einhelliger Seufzer ging durch die ganze Gruppe der Wissenschaftler.
Die Caravelle startete sanft nach Westen. Schnell verschwanden auch die Lichter von Porto Velho. Alles war finster, die Nacht war mondlos, unter den Passagieren lag der unendliche brasilianische Dschungel. Eine große Last fiel allen von den Herzen. Warum die Angst? In dreieinhalb Stunden würden sie alle wieder in der Zivilisation sein. Im lebendigen Rio de Janeiro. Nach der Landung würden sich die Teilnehmer voneinander verabschieden und in alle Welt weiterreisen. Selbst wenn ein Anschlussflug dann ein oder zwei Tage dauern würde, sie wären wieder im Leben.
Paul und Benedikt standen vor dem Flughafengebäude und schauten der startenden Maschine nach, wie sie im nächtlichen Himmel entschwand. „Es ist getan, was getan werden musste“, murmelte Paul.
„Unser Geheimnis wird nicht an die Öffentlichkeit gelangen“, antwortete Benedikt. „Gott sei Dank − es bleibt im Orbinat.“
„Auch wenn ihr nicht wirklich Kleriker seid, ich muss euch etwas beichten“, sagte Hermann zu den beiden Predigern. Er hatte sich von hinten genähert, froh, dass sie sich noch im Bereich des überschaubaren Airports aufhielten. Er hatte es intensiv gewünscht und überall nach ihnen gesucht. Sie drehten sich zu ihm um. Sekundenlang schaute Paul Hermann in die Augen. Dann forderte er leise: „So sprich. Wir haben insgeheim auf dich gehofft … Bruder Hermann.“
Keinem der Wissenschaftler in der Caravelle fiel auf, dass die Maschine nach dem Start nicht nach Osten drehte. Rio lag im Osten. Es vermisste niemand die Stimme des Piloten, die ja sonst stets nach dem Start die Passagiere begrüßte. Auch Hermann wurde von keinem vermisst. Sein hektischer Ausstieg war nicht aufgefallen. Nach einiger Zeit befand sich die Maschine über dem Pazifik und alle Passagiere dösten vor sich hin.
Der Steuermann eines Öltankers, der auf der Brücke stand und auf dem Weg nach Süden im Pazifik einsame Nachtwache hielt, war der einzige Zeuge, als die Caravelle explodierte und als heller Feuerball in die Tiefe stürzte. Aber mit etwa zwei Promille Alkohol im Blut hielt er das Gesehene für eine Halluzination und beschloss, nicht mehr so viel zu trinken, wenn er Brückendienst hatte.
In den zwei Särgen waren jeweils zwölf Kilo Sprengstoff verteilt gewesen. Unter den Körpern der Leichen. Bruder Paul war sich sicher gewesen, dass vom Sicherheitspersonal niemand unter den toten Körpern herumwühlen würde.