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Hannover, 1984

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Zum selben Zeitpunkt brachte die Hure Lieselotte Kuhn ihr Töchterchen Kit zur Welt. Der biologische Zenit deutete sich bei ihr, die bereits über Vierzig war, an, sie musste also ihrem Kinderwunsch zügig Tribut zollen. Lieselotte war jedoch verliebt in ihren Beruf, sodass sie es sich unmöglich vorstellen konnte, sich in eine feste Beziehung zu einem Mann zu begeben, eine Familie zu gründen und nur noch Hausfrau und Mutter zu sein. Lieselotte besaß außergewöhnliche Schönheit, war intelligent und gebildet. Sie entstammte, wie ansonsten sehr wenige Liebesdienerinnen, einer hoch angesehenen und vermögenden Hannoveraner Familie. Sie lebte an Wochenenden in einer hübschen Wohnung auf dem Gutshof der Eltern, der weit außerhalb der Stadt auf dem flachen Lande lag. Wochentags jedoch ging sie ihrer selbst erwählten Profession nach, der Prostitution. Ihren Eltern hatte sie nie etwas von ihrem Doppelleben erzählt, sie ließ beide vielmehr im Glauben, in Hamburg ihren Unterhalt als Modedesignerin zu verdienen. Lieselottes Eltern starben, ohne jemals die Wahrheit erfahren zu haben. Sie kamen beide bei einem Sportbootunfall in Dänemark ums Leben.

Liselottes jüngeren Bruder Alfons, welcher auf dem Familiensitz eine erfolgreiche Pferdezucht betrieb, weihte sie jedoch in ihr Geheimnis ein. Es war ihr ein Bedürfnis, im Bedarfsfalle einen starken, männlichen Beschützer zu haben, denn sie wollte sich niemals in die Krallen eines Zuhälters begeben.

Auch Alfons hatte ein Geheimnis, das er seinen Eltern verschwieg: Alfons war schwul. Und da er keinerlei tuntiges Verhalten hatte, sondern sogar sehr männlich wirkte, blieb diese Neigung den Eltern verborgen. Es erstaunte sie nur, dass er noch niemals eine Frau mit nach Hause gebracht hatte.

Lieselotte wählte einen Münchener Choreografen zum Vater ihres Kindes. Obwohl er schon über sechzig Jahre alt war, ging Lieselotte ohne Umschweife auf Gregor Gregorius zu, bat ihn, mit ihr zu schlafen. Die Körpertemperaturkurve stünde auf Empfang, und es müsse heute noch geschehen. Gregorius war in jungen Jahren eine Legende als erster Vortänzer im klassischen Ballett gewesen und hatte dann in den späten Fünfzigern die Aufgabe des künstlerischen Leiters an einem der größten Theater Deutschlands übernommen. Gregor Gregorius lebte in einer Villa in München. Liselotte lernte ihn bei einer Theater-Matinee in Hannover kennen. Das Ballett nach William Shakespeare hatte Lilo, so wurde sie liebevoll in ihrem vertrauten Umfeld genannt, am Vorabend genossen, und während der ergreifenden Musik von Sergej Prokofjew ließ sie hemmungslos die Tränen der Verzückung laufen. Als sich Gregor Gregorius am Ende der Aufführung vor begeistertem Publikum verneigte, es zollte ihm durch nicht enden wollenden, frenetischen und stehenden Beifall Hochachtung, wusste sie, dass dieser Mann der Vater ihres Kindes sein würde. Er oder keiner.

Am nächsten Tag war eine Matinee angesetzt. Lilo nutzte eine der seltenen Sekunden aus, in denen Gregor allein im Foyer an einem der hölzernen Stehtische stand. Er war ja auch nicht der einzige Protagonist der Mittagsveranstaltung. Alle Tänzer, Musiker und der Dirigent waren ebenfalls zugegen und von Horden bewundernder, wichtigtuerischer Hannoveranerinnen und Hannoveraner umringt.

„Ich möchte gerne ein Kind von Ihnen“, sagte sie ohne Umschweife, als sich die Gelegenheit für sie ohne andere Zuhörer bot. Gregor war durch dieses ungewöhnliche Anliegen keinesfalls irritiert, nahm es vielmehr mit ernstem Blick entgegen, lehnte jedoch zunächst freundlich ab. Sie bewog ihn nach seiner höflichen Ablehnung dennoch, mit ihr den Abend zu verbringen, und lud ihn unverhohlen zu sich auf den weitläufigen Landsitz nahe der Stadt ein. Der eigentlich scheue Mann zog diese Alternative dann tatsächlich der Einsamkeit in einem unpersönlichen Hotelzimmer vor und schrieb sich die Adresse auf eine Papierserviette. Lilo wusste sofort, dass sie gewonnen hatte. Zu viel Erfahrung hatte sie mit Gregors Geschlechtsgenossen gesammelt, als dass es daran Zweifel gäbe, er würde ihrem Anliegen nicht nachgeben.

Sie erwartete ihn gegen zwanzig Uhr. Er ließ sich pünktlich mit dem Taxi vorfahren. Beim Dinner erzählte er von sich, vom Tod seiner Frau und von seinem Sohn, welcher mit ihm in seinem Haus in München lebte, er hätte aber mit der Kunst nichts am Hut. Er wäre Professor für Philosophie. Lilo beteuerte hartnäckig, ihn, Gregor, als Vater ihres Kindes auserwählt zu haben, und erklärte sachlich, sie wolle weiter nichts von ihm als seinen Samen. Leider könne sie sich keinen anderen Weg vorstellen als den der geschlechtlichen Vereinigung. Insgeheim war sie glücklich, dass Gregor Gregorius Witwer war. Bekennend treue Ehemänner waren harte Nüsse, an denen sie sich oft die Zähne ausbiss. Dabei waren ihr jene am liebsten, denn sie spielten hinterher nicht den Liebeskasper, ein in der Branche gängiger Begriff für den Mann, der sich in seine Dirne verliebt. Nein, Gregor war nicht liiert und daher nach dem bittersüßen Schokoladenpudding, der aus der Küche serviert wurde, bereit, den Liebesakt zu vollziehen. Er war insbesondere auch deshalb schnell überredet, weil sie ihm gestand, Hure zu sein. Nach diesem Bekenntnis war er sich sicher, dass sie ihm nichts vorgaukelte und wahrlich nur lautere Absichten hatte. Gregor Gregorius und Lilo sahen sich danach nie wieder. Zehn Monate später hatte sie ihn telefonisch davon in Kenntnis gesetzt: „Du bist Vater einer hübschen Tochter geworden.“ Er hätte jene leidenschaftslose Beziehung möglicherweise sogar vergessen. „Denke dir doch einen Namen für deine Tochter aus“, bot sie ihm an.

„Nenne sie Katharina und rufe sie Kit. Als Würdigung an meine verstorbene Frau.“ Lilo tat ihm diesen Gefallen.

Lilo hatte sich acht Jahre später konsequent von ihrer Profession als Prostituierte gelöst. Sie hatte es sich zwar erst für ihren Fünfzigsten vorgenommen, in der letzten Zeit kam sie jedoch mit manchem ihrer Freier nicht mehr klar. Männer, die ältere Dirnen aufsuchten, hatten oftmals abnorme Wünsche. Jene war sie nicht mehr bereit zu erfüllen. Wirtschaftlich war sie unabhängig, denn sie genoss ein recht hohes Einkommen durch die Vermietung der Immobilien der Familie. Außerdem war es ihr in all den tätigen Jahren gelungen, einen stattlichen Betrag anzusparen. Je älter Kit wurde, desto mehr hatte Lilo bedauert, nur an den Wochenenden mit ihrer Tochter zusammen sein zu können. Auch hatte sie Angst davor, ihrer Tochter ihren Beruf zu erklären. Aber bei Kits Intelligenz und Neugier wäre es auch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Kit herausgefunden hätte, wie ihre Mutter ihr Geld verdiente. Sie war jetzt acht Jahre alt. Nichts wünschte sich Kit sehnlicher als ein eigenes Pferd. Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt. Grete war eine niedrige, fuchsfarbene Zwölfjährige mit einem Stockmaß von gerade einmal 150 cm. Kit kümmerte sich voller Hingabe um das Pferd und verbrachte viel Zeit mit ihm.

Eines Morgens war Grete krank und wollte nicht einmal mehr aufstehen. Verhaltenes Wiehern vermeldete Kit, dass sie sich wirklich nicht wohl fühlte. Der hinzugezogene Tierarzt vermutete eine Erkältung und gab ihr entsprechende Medizin.

„In einigen Tagen wird sie wieder wohlauf sein“, tröstete er Kit, die, den Tränen nahe, alles genauestens be­obachtete.

„Ich werde heute Nacht bei ihr im Stall schlafen“, verkündete Kit selbstbewusst.

Gretes Box war die vorletzte im Stall, danach kam noch eine weitere Box, die jedoch als Decken- und Zaumzeug-Lager genutzt wurde. Dort rollte Kit ihren Schlafsack auf einigen Ballen Stroh aus. Eine Taschenlampe und ein Buch hatte sie sich mitgenommen. Lilo hatte ihr nicht erlaubt, ihr Lager direkt in Gretes Box aufzuschlagen.

„Deine Gegenwart spürt Grete, auch wenn euch eine Bretterwand trennt“, sagte sie. Kit fand es in Ordnung. Etwas aufgeregt war sie schon. Ganz allein im Stall und dies auch noch nachts. Gewiss, die Terrassentür würde die ganze Nacht über geöffnet bleiben, Kit könnte deshalb jederzeit in ihr Zimmer gelangen, ohne jemanden wecken zu müssen. Bei dem Gedanken, bei Dunkelheit über den Hof ins Gutshaus gehen zu müssen, wurde ihr jedoch schon etwas mulmig. Doch ging es ja darum, dass Grete wieder gesund würde. Und da mussten schon alle Register gezogen werden, auch das der nächtlichen Betreuung. Mit ihrem Jogginganzug bekleidet, schlüpfte sie in den Schlafsack. Zum Lesen war sie zu aufgeregt, zwar ließ sie den Blick über die Buchstaben gleiten, aber es blieb nichts in ihrem Kopf hängen. Schließlich löschte sie die Lampe, igelte sich ein und lauschte beruhigt den nächtlichen Geräuschen des Stalls. Hier ein leises Schnauben, da ein Klappern eines Hufes. Dann entschwand sie hinab ins Reich der Träume.

Kit hatte einen Empfang:

Acht Männer, Araber offensichtlich, sitzen entlang einer hohen Mauer. Völlig nackt, schmutzig und menschenunwürdig. Jeder dieser Männer ist in gleichmäßigen Abständen von etwa fünf Metern mit einer etwa zwei Meter langen Kette an die Wand fixiert. Die Elenden bekamen vermutlich seit Tagen nichts mehr zu essen oder zu trinken und wirken völlig ausgetrocknet. Sie jammern und stöhnen in der prallen Sonne. Es ist heiß. Sehr heiß. Die trockenen Zungen der Angeketteten sind kaum noch in der Lage, Worte zu formulieren. Dennoch versteht Kit „Wasser“ und „Durst“ und „Bitte“. Jedoch nicht in Deutsch, sondern in einem arabischen Dialekt. Kit versteht Arabisch, obwohl sie in ihrem Leben noch nie jemanden in arabischer Sprache sprechen hörte. Kit hat große Hände, schwere Stiefel und ein Gewehr, wie Männer sie haben.

In diesem nächtlichen Erlebnis ist Kit ein Soldat und steht in einer Gruppe von anderen Soldaten. Alle schauen auf einen Offizier in khakifarbener Uniform, der auf einen der Angeketteten zu schreitet. Kit kennt diesen Offizier und weiß seinen Dienstgrad und seine Aufgabe in dieser Gruppe. Er ist der Chef des Exekutionskommandos. Sie weiß auch, dass alle hier Angeketteten den Abend nicht erleben werden. Der Offizier legt seine Maschinenpistole an. Dann erschießt er den linken äußeren Gefangenen. Nicht mit einem einzelnen Schuss aus einem Präzisionsgewehr, wie bei einer „normalen“ Exekution, sondern er hält seine Maschinenpistole auf den Körper gerichtet und entleert sein Magazin bis zur letzten Patrone. Er gibt Schuss für Schuss als Einzelfeuer in den Körper des Gefangenen hinein. Dieser ist nicht sofort nach dem ersten Treffer tot. Der Schütze setzt die ersten Schüsse in die Extremitäten, dann in die Schulter, das Becken, den Bauch. Erst nach einigen Schüssen liegt der Mann regungslos im Staub. Überall ist Blut. Auf dem nackten Körper, im grauen Staub des Bodens und an der Wand. Der Gefangene ist auf grausamste Weise exekutiert worden. Der Offizier will noch länger Spaß haben und schießt genüsslich weiter in den toten Körper hinein. Die Geschosse zerfetzen den Leib, der unter der Wucht der 9-mm-Projektile zuckt, als sei noch Leben in ihm. Hart hallt das Echo der Schüsse von der roten Wand zurück.

Nun schreitet Kit selbst auf einen der Gefangenen zu. Endlich ist sie an der Reihe! Sie blickt ihm in die angstvoll geweiteten und von der Sonne entzündeten Augen, als sie sich ihm nähert. Nun stellt sie sich einige Meter breitbeinig vor ihrem Opfer auf, nimmt ihre Maschinenpistole in Anschlag und entleert ihre Salve in gleicher Weise in den Körper des Mannes. Sie bekam bereits beim Zuschauen der ersten Erschießung eine Erektion. Kit, das kleine, unschuldige Mädchen, ist im Traum beim Anblick dieser Exekutionsvorgänge in männliche sexuelle Erregung geraten. Sie hörte bislang nur hin und wieder von den körperlichen Veränderungen in den Lenden der Männer bei sexueller Erregung. Im Traum spürt sie ihren Penis, wie er wächst und hart wird. Sie spürt den rhythmischen Rückstoß der Waffe, hört ihre eigenen Schüsse, empfindet die heiße Sonne im Nacken, riecht frisches Blut, den Kot und den Angstschweiß der Nackten, denen die Erschießung noch bevorsteht. Und sie spürt höchstes Glück dabei.

Kit erwachte unmittelbar nach diesem Empfang und schwebte noch sekundenlang in einem eigenartigen Zustand des vollkommenen Glücks − um unmittelbar danach in grelle Panik zu verfallen. Sie sprang aus ihrem Schlafsack und verließ im Laufschritt den Stall. Durch die offene Terrassentür gelangte sie ins Haus und hastete die Treppen hinauf. Nicht ihre Zimmertür stieß sie auf, sondern die Tür zu Lilos Zimmer. Am ganzen Leibe zitternd, sprang sie zu ihrer Mutter ins Bett und verfiel in einen schrillen Schreikrampf.

Kit sollte in den nächsten Jahren noch viele Empfänge erleben. Sie fand sich damit ab, dass das „In-fremde-Körper-Schlüpfen“ etwas war, das nur sie allein konnte. Und nur im Stall an dieser Stelle gelang es. Nachdem sie festgestellt hatte, dass es heftige Glücksmomente bescherte, wurde sie geradezu süchtig danach. Es machte ihr Spaß, sich in andere Menschen zu beamen. Ihre Mutter verbot es ihr, nachts im Stall zu schlafen, und so schlich sie eben tagsüber in ihr „Traumkreuz“, wie sie den Ort benannte.

Oft war sie im Schlaf ein Mann, der sich mit einer Frau körperlich vereinigte. Diese Art Erlebnis liebte sie ganz besonders. Kit wusste innerhalb kurzer Zeit, was sich Männer von einer Frau wünschten, was sie gerne an ihrem Körper sehen und wo sie in welcher Weise angefasst werden wollten. Dies sollte sie zu einer außergewöhnlich begabten Hure machen. Wahrscheinlich zur besten der Welt.

Traumkreuze

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