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Rom – Brasilien

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Vinzenz stand wie angekündigt und empfing Hermann in der Ankunftshalle des Airports in Rom. Nach einer freundlichen Begrüßung führte er ihn in die VIP-Lounge der Alitalia. „Hier ist der Treffpunkt“, sagte Vinzenz, „von dem aus es dann gemeinsam weitergeht.“ Und tatsächlich fanden sich nach und nach elf Wissenschaftler aus aller Welt ein. Alle wurden von Vinzenz an der Ankunft abgeholt und in die Lounge geleitet. Es lernten sich in den nächsten Stunden die interessantesten Menschen kennen. Keiner suchte nach einem Grund für die unorthodoxe Vorgehensweise. Alle waren von der hochkarätigen Zusammensetzung hellauf begeistert. Teilweise hatten sie auch schon voneinander gehört. Einige kannten sich aus der Vergangenheit von internationalen Kongressen her.

„Willkommen in Rom, sehr geehrte Herren!“, begann Vinzenz in dem modernen Konferenzraum, der sich im VIP-Bereich befand. Er sprach in bestem Englisch, der Sprache, die wohl jeder Wissenschaftler der Welt zu verstehen in der Lage ist. „Vermutlich werden bereits diese Minuten in die Geschichte eingehen.“ Die Wissenschaftler horchten auf. Endlich gab es mehr Informationen, so hofften sie alle.

„Wir werden gemeinsam weiterfliegen“, sprach Vinzenz in bestimmendem Tonfall weiter. „Hier in Rom ist lediglich der Sammelpunkt. In etwa einer halben Stunde besteigen wir eine Sondermaschine nach Brasilien. Dort werden Sie erwartet und in ein Phänomen eingeführt, das in der Welt viel verändern wird. Weiteres darf ich Ihnen jetzt und hier leider nicht sagen.“

„Gibt es denn nicht wenigstens ein bisschen mehr Informationen?“ Hermanns Frage klang holprig und hilflos. In allen Gesichtern stand jedoch dieselbe Frage.

„Es tut mir aufrichtig leid, aber alles, was ich Ihnen mitteilen könnte, wäre der gewaltigen Dimension der Sache nicht würdig. Warum, glauben Sie, betreiben wir diesen enormen Aufwand?“

Vinzenz schaute in jedes Antlitz, bevor er weitersprach:

„Jeder von Ihnen kann sich sofort ausklinken, wenn ihm die ganze Sache als zu abenteuerlich erscheint. Es gibt diese Chance aber auch noch in Brasilien, nachdem Sie mehr Informationen erhalten haben. Nur noch so viel – der Nachweis, dass es exterrestrisches Leben gibt, könnte nicht spektakulärer sein.“ In einer Art stiller Zustimmung begannen viele der Wissenschaftler zu nicken. Jeder Einzelne hatte einen sehr geregelten Alltagsablauf, berufliche Highlights waren selten geworden und die Forscherseelen freuten sich auf die geheimnisvolle Herausforderung.

Vinzenz sagte lächelnd: „Sie alle hatten bereits eine anstrengende Anreise bis hierher. Um Ihnen die Weiterreise angenehmer zu gestalten, bieten wir Ihnen ein bewährtes Mittel an, das Ihnen dabei hilft. Sehr wirksam, dennoch unbedenklich. Machen Sie Gebrauch davon.“

Einer der Teilnehmer, ein Medizinprofessor aus Budapest, bestätigte wohlwollend den Sinn und die Wirkungsweise dieser „Happy Pills“ und so wurden sie tatsächlich kollektiv eingenommen. Die meisten der Wissenschaftler schliefen dann den Transatlantikflug durch. Selbst bei dem Tankstopp in Casablanca öffnete kaum einer die Augen. Auf dem Aeroporto Rio de Janeiro wechselten sie zu Fuß die Maschine. Im Gänsemarsch verließen sie mit weichen Schritten die 707 und stiegen in eine 737, die nur wenige Meter entfernt stand. Auch nach dem Weiterflug nach Porto Velho sahen sie kein Abfertigungsgebäude. Raus aus der 737, rein in die bereitstehende Bell UH 1B. Dieser Militärhubschrauber war zwar nur für neun Personen zugelassen, es passten dennoch alle elf Männer hinein. Der Fülligste unter ihnen, ein Theologieprofessor, nahm auf dem Sitz des zweiten Piloten Platz. Zwei Stunden später landete die Bell im Areal eines Klosters. Die Passagiere sahen während des Fluges nur Grün, soweit das Auge reichte.

Völlig verschwitzt verließen sie den Helikopter und hofften auf eine Dusche. Manche von ihnen, unter anderem Hermann, hatten mehr als zwei Tage in denselben Kleidern verbracht.

„Ich habe fast vergessen, wie die Spezies Mensch riechen kann“, meinte einer lakonisch. Erleichtertes Lachen um ihn herum. Die Männer waren über alle Maßen erschöpft, aber dennoch glücklich, endlich am Ziel zu sein.

„Ihr Gepäck wird in den nächsten Stunden hier eintreffen“, empfing sie ein schwarz gekleideter Prediger überaus freundlich. Auch er trug, hier im fernen Südamerika, das Emblem des Orbinats. „Jeder von Ihnen erhält eine Zelle, bitte verzeihen Sie diesen Terminus. Bitte haben Sie auch dafür Verständnis, dass die Türen nicht abzuschließen sind, es gibt in der gesamten Klosteranlage nur einen einzigen Schlüssel. Den für die Hauptpforte.− Wir haben Ihnen bequeme Trainingsanzüge bereitgelegt“, fuhr der Schwarzgekleidete fort. „Sie finden sie in allen Größen in den Umkleidekabinen neben den Duschräumen. Auch für die Körperpflege steht alles bereit. Wir werden uns heute Abend nach dem Nachtmahl in der Kapelle zusammenfinden, um den Ablauf des Projektes zu besprechen. In Ihren Zellen finden Sie derweil Obst, Gebäck und Getränke. Bitte stellen Sie alle Ihre Uhren auf Ortszeit: 02:37 p.m.“

Wie sich schon in der VIP-Lounge der Alitalia in Rom in ersten Gesprächen der Wissenschaftler untereinander herausgestellt hatte, waren auch einige Männer angesprochen worden, die sich mit Dingen beschäftigen, die irgendwie mit dem Tod zu tun haben oder mit der Phase nach dem Tod. So etwa Professor Dr. Ernesto Ferreira aus Lissabon. Er hat eine interessante Studie veröffentlicht: In der Sekunde ihres Todes verlieren Menschen unvermittelt bis zu sechs Gramm an Gewicht. Mittels einer höchst komplizierten Wiegemethode wies er dies eindeutig nach. Eine Erklärung für den spontanen Gewichtsverlust in der Sekunde des Todes liefern seine Ausarbeitungen allerdings nicht. Es gab daraufhin jedoch eine durchaus nachvollziehbare Reaktion aus allen Ecken der gläubigen Welt, und hier waren auch Moslems und Hindi dabei. Diese Tatsache sei der eindeutige Beweis für die Existenz der Seele. Alle Lager nahmen diese Erkenntnis äußerst dankbar entgegen. Ferreira selbst hielt sich jedoch tapfer mit Interpretationen zurück. Auch hier, im tiefen Brasilien, ließ er sich nicht auf Spekulationen ein.

Bruder Vinzenz hatte im Laufe der vergangenen Wochen sämtliche Teilnehmer für dieses Projekt akquiriert, wie sich in Gesprächen zeigte. Stets war er nach demselben Schema vorgegangen. Ganz so verschlossen wie bei Hermann hatte sich Vinzenz bei dem einen oder anderen der zukünftigen Forschergruppe jedoch nicht gezeigt. Einige wussten daher bereits etwas mehr über das Projekt. Vermutlich hätten diese konsequent die Teilnahme verweigert, wenn nicht mehr Informationen im Vorfeld geflossen wären. Jenen hatte Vinzenz dann wohl ansatzweise den fantastischen Grund erklärt. Es ginge um Erlebnisberichte verschiedener Menschen, welche glaubwürdig Nahtoderfahrung darstellen würden. Tatsächlich, dies musste sich Hermann eingestehen, hätte er sich gerade nicht bereit erklärt teilzunehmen, wenn dies als Thema genannt worden wäre. Zu Nahtoderlebnissen hatte er nicht den geringsten Bezug. Hermann war im Nachhinein verwundert, wie einfach Vinzenz es mit ihm gehabt hatte. Dieser Prediger konnte offenbar in Sekundenbruchteilen seine Mitmenschen einordnen. Sofort wusste er, wie viele Informationen gegeben werden müssen − oder wie viele eben nicht −, damit sein Ansprechpartner „Ja“ sagte. Nun fragte sich Hermann ernsthaft, warum er hier war, harrte aber gespannt der Dinge, die da folgen sollen. Wie alle anderen Teilnehmer ebenfalls. Keiner sorgte sich, denn es waren so bekannte Wissenschaftler dabei, dass bei keinem Argwohn aufkam. Nur pure Spannung.

Am Abend erfuhren sie mehr. Die Kapelle der Klosteranlage bot ausreichend Platz für alle Männer der Gruppe. In der vordersten Reihe saßen mehrere schwarz gekleidete Prediger, die sich dadurch alle irgendwie ähnlich waren. Wie Mönche sahen sie allerdings nicht aus, und später wurde auch über das Kloster, das so weit vom Schuss lag, aufgeklärt. Es war gar kein aktives Kloster mehr. Als Zisterzienserkloster gegründet, zog der Orden nach einem Raubüberfall alle Mönche ab. Es hatte zwar kein Gemetzel gegeben, alles ging schnell, aber keiner der Mönche wollte mehr dort verbleiben. So entschloss sich die katholische Kirche, hier offiziell eine Art Seminarkloster einzurichten. Sie nannten es Predigerseminar. Angehende Pastoren konnten sich in Rhetorik, Psychologie und Gesang üben. Offiziell! Tatsächlich ist es aber ein Ort, um Untersuchungen an einem Phänomen zu betreiben. In Abgeschiedenheit. Hermann fiel nun auf, dass es in der Kapelle keine einzige christliche Abbildung gab. Kein Kreuz, keinen Jesus, keine Mutter Maria – nicht einmal irgendeinen Heiligen – nichts. Er machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber und auch nicht darüber, dass die Prediger absolut nichts Klerikales an sich hatten. Gekleidet in ihre schwarzen Anzüge, wirkten sie eher wie eine Bruderschaft, den Freimaurern nicht unähnlich. Auch die Rhetorik der Prediger war eher weltlich. Fast war er darüber erleichtert. Zum Glauben hatte er stets ein gespanntes Verhältnis gehabt.

Ein älterer, bereits weißhaariger Prediger löste sich sehr sportlich und geschmeidig aus seinem Stuhl. In feinstem Amerikanisch-Englisch begann er mit seiner Begrüßungsrede:

„Herzlich willkommen, meine sehr geehrten Herren, im brasilianischen Dschungel. Mein Name ist Bruder Paul, Familiennamen gibt es hier draußen nicht. Ich hoffe, Sie alle hatten eine angenehme Anreise und wir danken Ihnen, dass Sie vollzählig gekommen sind.“ Der Weißhaarige hatte eine sehr kräftige Stimme, die die Kapelle, dank ausgeklügelter Bauweise der Kreuzgewölbe, bis in den letzten Winkel ausfüllte.

„Sie werden sich wundern über die Geheimnistuerei. Haben Sie aber bitte Verständnis dafür, dass dieses gesamte Projekt äußerster Geheimhaltung unterliegt. Wir müssen deshalb auch darauf bestehen, dass niemand von Ihnen auch nur ein Sterbenswörtchen nach draußen verliert. Zumindest noch nicht. Sie werden daher Telefone oder Telex-Einrichtungen hier vergeblich suchen.“ Ein Raunen ging durch die Männerschar. Paul blickte einen nach dem anderen an, sprach dann sehr leise weiter, als ob die Wände Ohren hätten: „Wir arbeiten an der Erforschung eines Phänomens, dessen Bekanntmachung die Welt aus den Angeln zu heben in der Lage sein wird. Die Menschen müssen jedoch reif dafür sein.“ Wieder ruhte seine Stimme für Sekunden. Absolute Stille im Auditorium. „Dieses mit zu entscheiden und mit zu steuern, ist ab heute für die nächsten Tage Ihre Aufgabe. Nicht wir stellen diese Aufgabe, nein, es ist die gesamte Menschheit, sie weiß nur noch nichts davon. Wir möchten Sie bitten, an der Beurteilung dieses Phänomens mitzuwirken. So war Ihr Briefing ja von Anfang an. Sie sind alle freiwillig hier und haben natürlich auch die Möglichkeit, auszusteigen. Aber nur jetzt, in diesem Moment, bevor weitere Informationen fließen. Wer nicht mitarbeiten möchte, muss in einer Viertelstunde den Heli besteigen und wieder nach Hause zurückkehren. Die Anzahlung darf behalten werden, es folgt jedoch dann keine weitere Zahlung. Wer von Ihnen also aussteigen möchte, erhebe sich bitte und verlasse die Kapelle. Wer von Ihnen jedoch alles über das Phänomen erfahren will, der bleibe hier und entscheide mit.“ Keiner der Wissenschaftler stand auf. Der sichere Verlust der Restzahlung hielt wohl alle davon ab, das Spiel nicht weiterzuspielen. Sie saßen wie erstarrt in den Kirchenbänken und warteten, seltsam erregt, auf weitere Ausführungen von Bruder Paul. „Wenn der Helikopter das Kloster verlassen hat, gibt es die nächsten sieben Tage für keinen von Ihnen ein Zurück. Dies hat rein logistische Gründe, denn erst dann steht uns der Hubschrauber wieder zur Verfügung.“ Immer noch keine Regung, von niemandem. Paul sprach ruhig und leise weiter: „Ich stelle also erfreut und beruhigt fest, dass alle dabei sein werden. So kann ich gleich mit Ihnen zusammen tiefer eindringen in das Thema. Gestatten Sie mir zuvor, dass ich kurz den Piloten in Marsch setze.“

Einer der Prediger erhob sich und verließ die Kapelle. Bereits einige Minuten später vernahmen alle das typische Geschnatter der startenden Bell. Erst nachdem der Hubschrauber kaum noch zu hören war, fuhr Paul fort: „Sie alle werden in den nächsten Tagen dieses Phänomen kennenlernen. Bislang ist es nur dem Orbinat bekannt. Es geht um Sinneswahrnehmungen der ganz besonderen Art. Wir haben einige Probanden, männliche und weibliche, junge und alte, die über eine spezielle Begabung verfügen. Es sind Menschen, die in ihrer Schlafphase die Gehirnaktivitäten anderer Menschen wahrnehmen, und dies in einer Art, die als absolut realitätsgetreu zu bezeichnen ist.“

Nach einer rhetorischen Pause fuhr er fort: „Nun hätten wir natürlich diese neuen Erkenntnisse einfach der wissenschaftlichen Welt mitteilen können. Je tiefer wir jedoch alles recherchierten, desto unsicherer wurden wir, wie wohl die Menschheit diese Tatsache aufnehmen werde. Genauer: Wir befürchteten − und wir tun dies aktuell immer noch −, dass eine Suizidwelle über den gesamten Planeten schwappt, weil dieses Phänomen Todessehnsüchte zu wecken in der Lage ist. Man kann von Gottes Fügung sprechen, dass gerade katholische Kleriker die besonderen Fähigkeiten dieser Menschen entdeckt haben, denn der katholische Glaube akzeptiert keine Selbstmörder, wie Sie sicherlich wissen. Seit Generationen predigen sie, dass der Selbstmörder nach seinem Tod eine lange Zeit der kalten und grauen Orientierungslosigkeit ertragen muss, bevor er das ewige und selige Dasein erreicht.“

Wieder entstand eine längere Pause und Paul nahm einen kräftigen Schluck aus einem Becher. Die Männer verharrten derweil in atemloser Stille. Der Weißhaarige setzte seine Rede fort: „Es ist nicht so, dass unsere Probanden nur Erlebnisse bestimmter Menschen empfangen können, jene direkter Nachbarn zum Beispiel. Nein, mit der allgemeinen Vorstellung von Telepathie hat dieses Phänomen nichts zu tun, sie empfangen nämlich auch Erlebnisse, die manchmal Tausende von Kilometern entfernt stattgefunden haben. Alle Erlebnisse − wir sprechen bewusst nicht von Träumen − zeichnen sich ohne Ausnahme dadurch aus, dass sie in den Probanden stets ein heftiges Glücksgefühl auslösen. Die meisten sind geradezu süchtig nach diesen Fremderlebnissen geworden.“

Mit allen Sinnen nahmen die Wissenschaftler die Informationen auf. Wie gebannt saßen sie in der kleinen Kapelle, lauschten Bruder Pauls Ausführungen und vergaßen die Strapazen der Anreise völlig. Paul teilte ja auch ganz Außergewöhnliches mit. Dinge, die tatsächlich keiner der Wissenschaftler jemals zuvor gehört hatte. Paul fuhr fort:

„Und nicht nur, dass die Originalerlebnisse in großer Entfernung stattfinden, sie liegen auch häufig eine lange Zeit zurück. Mit anderen Worten: Unsere Probanden erleben in ihren Gehirnen während des Schlafes Erlebnisse in Körpern anderer Menschen, die weit weg und teilweise in der Vergangenheit stattfanden. Manchmal Jahre in der Vergangenheit. Und um es nochmals zu wiederholen: Sie träumen nicht – sie erleben real als andere Menschen. Als ob sie in deren Körper steckten. Wir haben in der Vergangenheit natürlich genauestens recherchiert und zweifelsfrei einige Fälle nachvollzogen, sodass wir nach dem aktuellen Stand der Kenntnis davon ausgehen können, dass viele, möglicherweise sogar alle Menschen auf der Erde, ihre Gehirnaktivitäten in gewisser Weise ausstrahlen. Zumindest die Glücksmomente, denn nur diese wurden wieder empfangen. Und weil sie zeitversetzt empfangen werden können, müssen diese natürlich auch irgendwo und irgendwie gespeichert werden.“

Bruder Paul machte eine lange Pause, damit sich die erste Informationsladung zunächst setzen konnte. Hermann spürte, wie ein Prickeln seinen ganzen Körper durchlief.

Hätte er von diesem Phänomen am Biertisch gehört, er hätte geschmunzelt über so viel Phantasie. Hier jedoch sprach alles dafür, dass es um etwas ganz Großes, Neues, Besonderes ging.

Paul winkte einen der Prediger zu sich. „Ich möchte Ihnen Bruder Benedikt vorstellen. Er sitzt in der klösterlichen Schreibstube und ist stets für Sie und Ihre Wünsche da. Bruder Benedikt spricht viele Sprachen fließend.“

Es löste sich ein junger Mann aus den Reihen der Prediger, positionierte sich neben Paul. In der Kapelle war es so still, dass jeder seinen eigenen Herzschlag zu hören glaubte.

Bruder Benedikt sprach mit heller Stimme: „Die Probanden empfangen jedoch nicht überall. Hier im Kloster tun sie es. Auch sind uns einige andere Stellen in der ganzen Welt bekannt, wo es funktioniert. Bezeichnenderweise sind es auch dort oft Klöster, Sakralbauten und Refugien von Mönchen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum Klosteranlagen bereits im frühen Mittelalter an Stellen entstanden sind, an denen das Leben fast unmöglich ist? Unwirtliche und abgelegene Orte sind dabei, karge Eilande oder, wie hier, mitten im gefährlichen Dschungel, wo man ständig in Gefahr ist, von einer giftigen Schlange gebissen zu werden.“ Benedikt zog einige Fotografien aus einer Mappe und hielt eine davon in die Höhe. „Sie sehen einen keltischen Steinkreis, der Ihnen bekannt sein dürfte: Stonehenge in England. Es ist der berühmteste seiner Art. Wenige wissen, dass es Hunderte von diesen Steinkreisen gab, verteilt in ganz Europa, von Irland bis Israel und von Schweden bis Spanien. Sie sind älter als die Pyramiden und geben der modernen Menschheit viel Raum für Rätsel und Spekulationen. Um es abzukürzen: Wir haben Probanden dort in die Nachtruhe gelegt und, daher erwähne ich es, herausgefunden, dass auch dort empfangen werden kann. Besser gesagt: Die Steinkreise sind vermutlich deshalb an diesen Stellen entstanden, weil dort empfangen werden konnte. Bereits in der Jungsteinzeit, vor vier- oder fünftausend Jahren also, waren Menschen in der Lage, Glücksmomente anderer in ihren eigenen Gehirnen zu verarbeiten. Mit unserer Erkenntnis wäre es also auch zu Ende mit dem Rätsel, warum diese Kolosse gebaut wurden.“

Benedikt hielt weitere Fotos in die Höhe.

„Empfangserfolge hatten wir zum Beispiel im irischen Kloster Glendalough und im schottischen Steinkreis Callanish. Uns sind Dutzende Stellen bekannt in aller Welt.“

Eine Aufnahme nach der anderen hob er empor und nannte den Namen des Ortes. Viele hörte Hermann zum ersten Mal, vor allem jene in Asien und Osteuropa.

„Wir müssten nun, um weitere Empfangsorte zu finden, gezielt unsere Probanden zum Schlafen in alle Welt schicken, hierfür scheinen sie uns jedoch nicht mehr geeignet. Bedingt durch die Schlafempfänge, die ja ebenso realistisch wie ihr eigenes Leben sind, befinden sich die meisten von ihnen in einem Zustand völliger Desorientierung. Manche kennen gar ihren eigenen Namen nicht mehr, sondern benennen sich allmorgendlich anders. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass viele von ihnen gerne dem anderen Geschlecht angehören wollen, weil sie ja nicht nur Empfänge des eigenen Geschlechts empfangen. Männer schlüpfen oft in Frauenkörper – und natürlich auch andersherum. Mehr darüber in den nächsten Tagen.“

Bruder Paul übernahm wieder die weiteren Ausführungen: „Es kann also davon ausgegangen werden, dass dieses Phänomen bereits seit Bestehen der Menschheit existiert. Ausschließlich das Orbinat forscht daran. Es waren einige Beichtväter der katholischen Kirche, die zuerst von dieser außergewöhnlichen Begabung erfuhren, denn in ihrer verständlichen Verwirrtheit bewerteten die Erlebnisempfänger das Empfangene oftmals als eine Sünde. So beichteten junge Mädchen ihrem Priester, dass sie in der Nacht als Mann eine Frau vergewaltigten und dabei in höchstes Glück versetzt wurden. Andere beichteten, dass sie in einem fernen Land einen Diebstahl begangen hatten, der sie im Anschluss daran in helle Freude über das Gestohlene versetzte. Priester tauschten sich in Foren aus und so stellte sich heraus, dass diese Art der Beichte die Pastoren insbesondere von Gläubigen erhielten, die in unmittelbarer Nähe solcher Klöster lebten. Aus nachvollziehbaren Gründen hatten die Erlebnisempfänger Skrupel, sich ihrem Umfeld anzuvertrauen. Einem Beichtvater durfte jedoch so ein Fremderlebnis en dètail erzählt werden – schließlich gab es ja das Beichtgeheimnis. Außerdem fühlten sich die Beichtenden befreit, wenn sie einige Ave-Maria und Vaterunser auferlegt bekamen. Nicht alle genossen die nächtlichen Empfänge. Vielen machten sie Angst. Die meisten hielten sich sogar für verrückt. Manche wurden es gar. Diese Menschen mit Empfangsbegabung sind nahezu alle, in allen Kulturen, sozial ausgeschlossen. So ist es zu erklären, dass die meisten von ihnen sich mit Erzählungen über Empfänge zurückhalten, um nicht irgendwann in einer geschlossenen Heilanstalt zu landen.“

Einer der Teilnehmer meldete sich zu Wort: „Darf ich fragen, warum nunmehr das Geheimnis Wissenschaftlern aus der ganzen Welt erzählt wird? Dies schließt doch eine Geheimhaltung in Zukunft aus?“

Bruder Paul antwortete besonnen: „Wir sind der Meinung, dass nunmehr der Zeitpunkt gekommen ist, in großer und kompetenter Runde darüber zu diskutieren, ob dieses Phänomen der Welt mitgeteilt werden muss, und wenn ja, auf welche Weise es erfolgen soll. Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, ob es tatsächlich existiert. Es tut es. Sie werden sich in den nächsten Tagen überzeugen können. Wie von Anfang an gesagt, erwarten wir von Ihnen aber keine Tiefenforschung. Wir werden darüber sprechen, was mit der Welt passiert, wenn es bekannt wird. Wenn wir mit dieser Erkenntnis nach draußen gehen, wird uns die Welt Glauben schenken müssen. Gerade weil Sie, als anerkannte Wissenschaftler, mit im Boot sind.“

„Noch etwas Wichtiges“, meldete sich Benedikt wieder zu Wort, „die Begabung, zu empfangen, ist vererblich. Sie muss daher etwas mit dem Erbgut zu tun haben. Mit der DNA. Vielleicht weiß Teilnehmer Hermann Berger hier etwas mehr darüber? Unserer Information nach beschäftigt er sich intensiv mit der Erforschung der DNA-Spirale. Welches Chromosom für die Empfänge verantwortlich sein könnte, wird aber auch für ihn ein Rätsel sein.“

Dabei schaute er Hermann an, als ob er eine Bestätigung erwartete. Hermann war zwar ein Kenner der Vererbungsgesetze, die Schriften von Darwin und Mendel kannte er fast auswendig, auch war er mit dabei, als vor etwa zehn Jahren die Doppelhelix der molekularen Genstränge zum ersten Male geteilt und analysiert wurde, wusste aber wohl, dass die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes noch in ferner Zukunft lag. Er nickte daher nur unsicher.

Paul sagte: „Eines ist auch uns noch ein großes Rätsel: Wie die Speicherung erfolgt und wie sich diese Massen an Informationen irgendwo im Nirwana aufhalten können. Wir haben nicht einmal eine vage Idee. Vielleicht haben Sie eine?“

Er schaute mit stahlblauem Blick jedem Einzelnen in die Augen.

Nach diesem Abend fragten sich die Wissenschaftler nicht mehr, weshalb sie hier waren. Die Untersuchung der Fremderlebnisse der sieben Probanden sollte nach intensiver Vorarbeit durch die Prediger zu einer empirisch-wissenschaftlichen Untersuchung mit internationaler Besetzung werden. Und plötzlich freuten sich alle Beteiligten auf die Aufgabe und den zwangsläufig folgenden Ruhm. Es sollte jedoch ganz anders kommen.

Die Probanden lebten in bescheidenen Häuschen, die zur Klosteranlage gehörten. Insgesamt standen sieben Personen, jede unterschiedlich im Naturell, zur Verfügung. Auch sie waren auf ähnliche Weise zusammengerufen worden wie die Wissenschaftler. Sie wurden von den Predigern besucht und überredet, an einer Studie teilzunehmen. Die Familie erhielt einen Batzen Geld − und sie war von den „Träumern“ befreit, die nur die Familienharmonie belasteten. Sie alle hatten im Familienverband eine besondere, eine wertlose Stellung gehabt und waren meist zu kaum etwas zu gebrauchen gewesen. Man gab sie allesamt gerne den Predigern zu Forschungszwecken mit.

Die Probanden hatten keine andere Aufgabe im Kloster, als am Morgen, jeweils in ihrer Muttersprache, über ihre Empfänge zu berichten. Ausgewählte Beichtväter in Europa hatten die Probanden zugeführt. Bewusst hatte sich Paul für ungebildete Menschen entschieden, denn diese gingen völlig unbedarft mit ihrem sonderbaren Talent um. Auch hinterfragten sie die Forschungsarbeit nicht oder nur wenig. Sie waren glücklich, Arbeit und ein Dach über dem Kopf zu haben. Sie erhielten für völlig stressfreies Arbeiten bei freier Kost und Logis sogar ein geringes Salär. Und die Probanden waren unter sich, in einem Umfeld also, in dem sie keiner als Verrückte bezeichnete.

Bruder Paul hatte über Jahre hinweg die Berichte der Probanden mit einem Tonbandgerät dokumentiert. Unter Zuhilfenahme des weltumspannenden Netzwerkes an katholischen Geistlichen wurden die Erlebnisse genauestens recherchiert. In einigen Fällen konnte auf diese Weise zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass ein nächtliches Fremderlebnis des einen oder anderen Probanden tatsächlich von einem Menschen bereits gelebt wurde. Die simple Schlussfolgerung daraus war die Erkenntnis, dass der Mensch seine Gehirnaktivitäten zwangsläufig versendet, zumindest die glücklichen, und dass sich diese Daten dann über einen gewissen Zeitraum im Nirgendwo befinden. Warum und wie dies passiert, blieb unklar. Die Prediger waren sich jedoch sicher, dass diese Vorgänge etwas mit Gott zu tun haben mussten. Sie mutmaßten, dass die Erlebnisse von jenem Gott, der ja bekanntlich alles weiß, aufgegriffen und irgendwie verwertet werden konnten.

Weshalb nun gerade jene Probanden die Fähigkeit hatten, diese Gedankenströme aufzunehmen und im eigenen Gehirn real wieder zu erleben – darüber zerbrachen sich alle noch den Kopf. Auch wurde gerätselt, warum es nur außergewöhnlich glückliche Erlebnisse waren, die im Schlaf durchlebt wurden. In keinem Fall empfingen sie Unangenehmes. Häufig waren es erotische Empfänge. Die Probanden erlebten leidenschaftlich-glückliches Liebesspiel. Es gab aber auch glücklich-brutale, glücklich-hämische und glücklich-schadenfreudige Empfänge.

Die meisten der Probanden zeigten häufig schizophrene Krankheitsbilder und werden in ihrem familiären Umfeld darauf behandelt. Wer bereits als Kind unbedarft von Out-of-Body-Erlebnissen berichtet, wird als psychisch krank und unnormal angesehen. Sie zeichnen sich alle als Menschen aus, die ein äußerst geringes Interesse an materiellen Werten zeigen. Alle wollen am liebsten bis an ihr seliges Ende in der Plantage leichte Arbeiten verrichten, vorausgesetzt natürlich, sie dürfen weiterhin in der Klosteranlage wohnen und des Nachts Fremderleben. Es schien verbunden mit ganz ordentlichem Suchtpotenzial. Die Regel war, dass sie enttäuscht in ihren eigenen Körpern erwachten und stets danach strebten, schnellstmöglich wieder schlafen zu dürfen. So hatte sich bei den meisten ein seltsamer Schlaf-Wach-Rhythmus entwickelt. Etwa zwei Stunden schliefen sie und vier Stunden waren sie wach, und zwar jeden Tag über 24 Stunden verteilt.

Paul beschrieb einige der Empfänge der Probanden. Sie erzählten von harmonischen Liebesabenteuern bis hin zu bombastischen Erfolgsmomenten bei Sportereignissen und Bühnenauftritten. Diese waren am einfachsten zu recherchieren, weil sie öffentlich waren. Es hätte zum Schluss keinen Zweifel mehr darüber gegeben, dass alle Empfänge der Probanden tatsächlich von anderen Menschen vorher erlebt wurden. Keiner der Probanden hatte je etwas Belangloses empfangen. Nur pralles Glück.

„Ab morgen werden Sie tiefen Einblick erhalten in diese Abnormität“, sagte Bruder Paul. „Seien Sie gespannt!“ Er schloss seinen Vortrag mit einem Lächeln.

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