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Adieu, altes Europa, que le diable t’emporte!

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1. Régiment étranger, Aubagne

“„Nous marchons gaiement en cadence. Malgré le vent malgré la pluie.

Les meilleurs soldats de la France …“ Chant du 1. RE / Lied des 1. RE

Was einst Aubagne in Südfrankreich für uns Legionäre darstellte bzw. darstellt, war bis 1962 Sidi-Bel-Abbès in Algerien gewesen: die „Portion centrale des 1. RE“ und somit das Mutterhaus der Fremdenlegion, „la Maison mère“. Es ist der Ort, an dem alle Fäden zusammenlaufen. Das Quartier Viénot, es trug den Namen schon in Sidi-Bel-Abbès, war für mich deshalb schon ein mythischer Ort, weil hier das Ehrenmal der Fremdenlegion, das „Monument aux morts“ stand. Das Monument ist unzertrennlich mit einem Namen verbunden. Mit dem Namen eines Mannes, dessen Bild in jedem Büro der Fremdenlegion hängt, unabhängig davon, ob dieses Büro in der Wüste, in den Pyrenäen oder auf einer Insel im Pazifik steht: Rollet!

Mon général, cueillez ces palmes sans épines. Ô Prince des géants. Régnez sur l'océan. Des colonnes d'Hercule aux murailles de Chine!“ Mein General, nehmen Sie diese Palmen ohne Dornen entgegen. Oh Prinz der Riesen. Regieren Sie über den Ozean. Von den Säulen des Herakles (Gibraltar-Felsen und der Musa Berg – Mosesfelsen) bis zur Chinesischen Mauer. Arthur Nicollet, Legionär und Schweizer Poet, zu General Rollets Ehren.

Rollet, ab 1931 der erste Inspekteur der Fremdenlegion, ließ es zum 100-jährigen Bestehen der Legion im Jahr 1931 errichten. Das Rohmaterial, purer Onyx-Quarz, kam aus einer Schlucht mit Namen Sidi-Hamza, 75 Kilometer von Sidi-Bel-Abbès entfernt. Die Legionäre brachen den Quarz mit Hammer und Pickel heraus, beförderten die Blöcke auf den Rücken von Eseln aus der Schlucht und luden sie auf LKWs. Im Quartier Viénot vollbrachte der Bildhauer Pourquet damit das Wunder. Achtzig Tonnen Symbolik. Achtzig Tonnen Geschichte und Tradition. Ein Globus, vier Säulen, Bronze aus Westafrika. Das Resultat? Unsere Geschichte in goldenen Lettern! „La Légion à ses morts 1831 – 1931“ (Die Legion gedenkt ihrer Toten 1831 – 1931). Am Gedenktag zum 150-jährigen Bestehen der Legion (Aubagne 1981) wurde hinzugefügt: „1931 – 1981“ Auf der Rückseite des Denkmals steht zu lesen: „Honneur et Fidélité“ (Ehre und Treue). Schließen wir Legionäre unsere Augen, lesen wir „Blut“, und wir lesen „Zusammenhalt und Schweiß“.


Das Monument aux morts der Legion steht in Aubagne (Südfrankreich) im Quartier Viénot. Das Gebäude dahinter ist das Museum der Fremdenlegion.


Das Monument: von Meister Paul Anastasiu. Anastasiu nennt das Gemälde « Tu verras la vie autrement » … du wirst das Leben anders sehen.

Den Worten Honneur et Fidélité entnehmen wir: „Wir sind eine Familie, Legio Patria Nostra!“ Kolossal, provokant, massiv steht es da, wie für ewig gebaut. Kein anderes Monument dieser Erde drückt so viel Leidenschaft und Emotionen aus. Der Kriegsminister stimmte damals dem Bau des Denkmals zwar zu, doch finanzieren sollte es die Legion gefälligst auf eigene Faust. Und so kam es, dass vier Jahre lang, von 1927 bis 1931, jeder Legionär freiwillig jeden Monat einen Tag Lohn gab, um es abzubezahlen. In diesen längst vergangenen Tagen war die Solidarität der Truppe schon enorm, was dieses Exempel eindrucksvoll bestätigt. Am 26. Oktober 1962 wurde das Monument abgebaut und in Aubagne neu errichtet. Man kann sich vorstellen, dass ich im Laufe der Jahre oft nach Aubagne kam. Jedes Mal wirkte dieses Ehrenmal wie ein Schock auf mich, vor allem, weil ich um seine Geschichte wusste. Immer empfand ich bei dem Anblick ähnlich.

Anfangs will ich es ignorieren, weil es wie ein Ding aus einer fremden Welt anmutet. Je näher ich ihm komme, desto mehr rückt es ins Zentrum meiner Betrachtung, bis es mich völlig fesselt, bis alles andere daneben verblasst!

Die Zeit im 1. RE ist mir nur vage in Erinnerung, die Bruchstücke jedoch, die haften blieben, sehe ich klar und deutlich vor mir. Unser Gebäude im Quartier Viénot lag etwas abseits. Wir trugen muffige blaue Sportanzüge, deshalb die Bezeichnung „die blauen Säcke“, und in der dritten Woche auch schon das grüne Barett. Beides ohne irgendwelche distinkten Abzeichen. Vom Képi Blanc als Kopfbedeckung konnten wir zu dieser Zeit nur träumen. Alles in allem war ich 23 Tage in Aubagne. Für jede angebrochene Woche, je nachdem, in welcher Rekrutierungsphase wir uns befanden, bekamen wir andersfarbige Litzen an die Schulterklappen. Gelb in der ersten Woche, gefolgt von Grün und Rot. Rot bedeutete, dass alle Tests erfolgreich bestanden waren und einer weiteren Verwendung, d.h. der Versetzung nach Castelnaudary, nichts mehr im Wege stand. Das Gebäude, in dem wir logierten, es war der Sitz der ehemaligen PILE-Süd (Poste d’Information de la Légion étrangère / Informationsstelle der Fremdenlegion), hatte zwei Etagen. Ganz oben befanden sich irgendwelche Büros, die wir nie zu Gesicht bekamen. Wenn die schon älteren Legionäre über die Männer sprachen, die dort ein und aus gingen, wurden ihre Stimmen merkwürdig leise.

»Mit denen da oben ist nicht gut Kirschen essen«, sagte ein Marokkaner zu mir. Es war derselbe, der mich tags darauf wegen einer unsinnigen Kleinigkeit mit einem Messer bedrohte. Vielleicht war er ein guter Messerkämpfer, aber vom Faustkampf hatte er nie etwas gehört. Unser Disput endete damit, dass mir der Kragen platzte und ich ihm ein Ding verpasste, dass ihm Hören und Sehen verging. Sein Opinel, ein Brotzeitmesser mit einem hölzernen, nussbraunen Griff, landete unter dem Tisch, er selbst lief einige Tage lang mit einem blauen Auge herum.

In meiner Jugend las ich sehr viel, verschlang jedes Buch, das mir in die Hände kam. Entfernte Länder und exotische Abenteuer waren für mich ein Mysterium. Und danach sehnte ich mich: nach der Ferne, nach Abenteuer, nach dem Außergewöhnlichen. Insoweit, als es erdenklich ist, dass in einem Mann zwei Seelen schlummern, die des Romantikers und die eines Kämpfers, wollte ich beides für mich in Anspruch nehmen. In Aubagne lag ich nachts oft wach im Bett, dachte, dass im Ursprung eines jeden Abenteuers ebendieses zum Greifen nahe Mysterium liegt. Nach Einbruch der Dunkelheit zirpten die Zikaden, und von meinem Fenster aus sah ich die Berge. Ein warmer, milder Mittelmeerwind lockte verheißungsvoll. Irgendwo hinter diesem Meer, das spürte ich deutlich, lag meine Zukunft. Ich wollte plötzlich nicht mehr warten, sondern wollte alles auf einmal haben, und zwar sofort. Alle Abenteuer, alle Risiken, alle Gefahren auch. Ich wollte alle mysteriösen Berge erklimmen, die dort am Horizont emporragten. Bereits weit weg von zuhause, wurde ich von einem unwiderstehlichen Fernweh gepackt. Was genau ich suchte? Ich weiß es nicht! Möglicherweise hatte mir folgender Satz den Verstand geraubt.

hinter den Lichtern einer fernen, fernen Stadt schlummert meine Liebe im Verborgenen, also gab ich meinem Herzen einen festen Stoß und begab mich auf die Wanderung um die nächste Straßenbiegung!

Ich glaube, diese Zeilen in einem Buch von Louis L’Amour gelesen zu haben, dessen Bücher ich bereits seit meiner frühsten Kindheit gelesen hatte.

»Wach auf, Gast!«

Ich hatte mit offenen Augen geträumt.

»Der Sergent de semaine (Unteroffizier vom Dienst) will dich sehen!«

,Chef d’étage‘ Schmidt, ein deutscher Intellektueller, der ein paar Tage darauf desertierte, stand vor mir. »Sieht nach Ärger aus!«

Der Chef d’étage, meist ein Frankophoner, also ein bereits Französisch sprechender Leidensgenosse, der dadurch Punkte sammelte, dass er uns bis aufs Blut mit nicht enden wollenden Arbeiten, den sogenannten Corvées, triezte, wurde unsanft beiseitegeschoben. Hinter ihm erschien eine wuchtige Gestalt, in der ich den Sergent de semaine erkannte. Ich sprang auf und nahm Grundstellung ein.

»Mokhtar, der Marokkaner, ist spurlos verschwunden!«, sagte er mit eindeutig belgischem Akzent. Er studierte mein Gesicht. »Du hast nicht zufällig ’ne Ahnung, warum und weshalb?«

Die Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Mokhtar hatte die Runde gemacht. Leugnen war das Dümmste, was ich jetzt tun konnte, und so erzählte ich ihm ohne Umschweife, was geschehen war. Eine Schlägerei, das wusste ich, konnte in der Rekrutierungsphase die sofortige Entlassung zur Folge haben. Vielleicht täuschte ich mich, aber ich glaubte, in den Augen des Mannes vor mir den Ausdruck heimlicher Genugtuung und stillschweigender Anerkennung zu sehen. Die Sache ging für mich glimpflich aus, denn ich hörte nie wieder etwas über den Vorfall. Die nächsten Tage wurden von zahlreichen Arbeiten geprägt: Corvée chiot (Toiletten reinigen); Corvée quartier (den Exerzierplatz und die Wege um das Gebäude von Zigarettenkippen und sonstigen Relikten säubern); Corvée foyer (Reinigen der Kantine); Corvée ordinaire (Reinigen des Speisesaals). Natürlich gab es auch Arbeiten außerhalb vom Quartier Viénot. In Puyloubier unter anderem. Diese Institution der Invaliden der Fremdenlegion hatte mich zutiefst beeindruckt, und das tut sie noch heute. L’Institution des Invalides de la Légion étrangère in Puyloubier (I.I.L.E), in der Domaine Capitaine Danjou, wurde 1954 ins Leben gerufen. Ihr ursprüngliches Anliegen war es, die verwundeten Veteranen des Indochinakrieges aufzunehmen. Diese Institution beherbergt invalide wie auch gesunde, heimatlose Anciens – Ex-Legionäre und auch solche, die sich mit der Integration in das Zivilleben schwertun. Alle Bewohner werden nach mustergültiger Art und Weise ärztlich betreut, haben meist Einzelzimmer, Restaurant, Freizeitmöglichkeiten und können dort auch arbeiten. Der Wein, der auf der Domäne hergestellt wird, wird zum größten Teil an die verschiedenen Regimenter der Legion in Frankreich und in Übersee geliefert. Er ist auch vor Ort (oder via Internet) käuflich zu erwerben. Allein diese Idee: Großartig! Obwohl ich gekommen war, um dort den Küchenboden zu schrubben, diverse Küchengeräte zu reinigen, Essensreste von schmutzigen Tabletts zu fegen und den Müll zu entsorgen, konnte ich nicht umhin, die alten Legionäre, die hier wohnten, zu bewundern. Die Legion bot ihnen hier – erneut, möchte ich sagen – eine Heimat. Sicherlich hatten sie es im Leben nicht leicht gehabt, in der Domäne Danjou hingegen blühten sie auf. Ein Lächeln hier, eine freundliche Begrüßung da. Ich sah nur ausgeglichene Gesichter. Tagsüber, sofern ihre Gesundheit dies zuließ, fabrizierten sie Keramik: Tassen, Teller und Krüge. Sie widmeten sich der Landwirtschaft oder arbeiteten in den Weinbergen (Syrahs, Cabernet-Sauvignons und Grenaches), wo sie den süffigen Puyloubier herstellten. Auch Olivenöl wurde produziert! Es war und ist eine Anlaufstation für diejenigen, die der Legion gedient hatten (nicht sich der Legion bedient!) und die sich, auch aufgrund ihres Einzelgängertums und ihrer militärischen Vergangenheit und Veranlagung, mit der Eingliederung ins Zivilleben schwertaten oder daran gar scheiterten. Es waren diese Anciens, die Ehemaligen, die Veteranen, meist hochgewachsene, eckige und stille Männer. Viele von ihnen waren Kämpfer im Indochinakrieg gewesen, hatten zwischen 1954 und 1962 in Algerien (Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens) gedient oder beides. Ohne Ironie nannte man sie auch les Sentinelles du soir, die Wächter des Abends! Legio Patria Nostra. Das machte Sinn, besonders wenn man die Worte auf die I.I.L.E. bezog. Tags darauf folgte eine Reihe von Tests. Hauptsächlich wurden dabei die Urteilsfähigkeit, eine gewisse Portion Logik sowie auch die emotionale Seite der Kandidaten geprüft. Ich erinnere mich an irgendwelche Zahnräder, die sich in alle Richtungen bewegten, nur nicht dorthin, wo ich es gerne hätte. Ich war eher praktischer Natur und fürchtete um eine mittlere Katastrophe. Danach kamen die ärztlichen und sportlichen Examen. Diese zu bestehen hatte ich keine Angst. Acht Wochen, bevor ich nach Straßburg fuhr, hatte ich mir durch morgendliche Waldläufe und eine spartanische Lebensweise den notwendigen Schliff gegeben. Was man von mir forderte, empfand ich schlicht und einfach als machbar.

Anm. d. Verf.: Und in der heutigen Zeit? In diesen Tagen besteht der sportliche Aufnahmetest essenziell aus drei Klimmzügen und dem Ausdauertest „Luc léger“. Die Klimmzüge sollten so ausgeführt werden, dass das Kinn höher ist als die Stange. Vor der jeweiligen Aufwärtsbewegung müssen die Arme „ganz“ gestreckt sein. Es gibt viele, die hier „versemmeln“, und das, obwohl sie eigentlich problemlos zehn Klimmzüge machen könnten. Sie beherzigen einfach diese zwei Punkte nicht: Kinn über die Stange, Arme gestreckt! Bei dem Ausdauertest geht es darum, auf einer genau bemessenen Strecke von 20 Metern hin und her zu laufen. Der Laufrhythmus beziehungsweise die Geschwindigkeit wird dabei jede Minute um 0,5 km/h erhöht. Jeder Kandidat muss dabei seine Geschwindigkeit so einteilen, dass er quasi auf den Meter genau nahe der Linie ist, wenn das hörbare Signal zum Neustart in die andere Richtung ertönt. Bei dem Test wird die sogenannte Vitesse maximale aérobie (VMA) ermittelt. Grob: Ihre Kondition wird „gemessen“! Wer genau wissen will, wie der Test praktisch durchgeführt wird, kann diesen mittels Eingabe „Test Luc léger“ auch bei Youtube finden (wer gut Französisch spricht, tut sich hier leichter). Die genauen Tonsignale kann man sich herunterladen. Zum Beispiel im mp3-Format: „Test luc léger bande sonore.“

Langsam wurde es ernst. Ich sah dunkle Wolken am Horizont. Man hörte so einiges: Gestapo. Wir nannten es so, das Bureau des Statistiques de la Légion étrangère (BSLE), wörtlich übersetzt Büro der Statistik der Fremdenlegion. Heute ist das BSLE unter der Bezeichnung Division statistique et protection de la Légion étrangère (DSPLE) bekannt. Es ist dem armeeeigenen Nachrichtendienst, der Direction de la Protection et de la Securité de la Défense (DPSD), ähnlich unserem militärischen Abschirmdienst, untergeordnet. Die bekommen alles heraus – oder fast alles. Unterteilt ist die DSPLE in:

Büro „Sekretariat und Informatik“

Zentrum „Situation“

Zelle „Personenkontrolle“

Zelle „Filterung der Kandidaten“ (gibt es nur in der Legion!)

Verwaltung der „Archive und Dokumentation“

Alle diese Zellen, deren Mitarbeiter dienstlich mit geheimhaltungsbedürftigen Dokumenten zu tun haben, unterliegen den höchsten Sicherheitsstufen. Sie streben nur ein Ziel an: Schutz und Sicherheit! Sie schützen die Institution sowie die in Frage kommenden Kandidaten. Die Ursprünge der DSPLE führen zurück ins Jahr 1925. Damals wurde auch in der Legion das berüchtigte Deuxième Bureau eingeführt. Aus dem wurde im Laufe der Jahre das BSLE. Die militärische Sicherheit (de facto der Geheimdienst) erstreckt sich bis in die einzelnen Regimenter. So gibt es mittlerweile in jedem Regiment der Legion einen Officier prévention et sécurité régimentaire (OPSR). Die Fremdenlegion will heutzutage wissen, wen sie in ihren Reihen aufnimmt. Das Profil der Legionäre ist ihr sehr wichtig. Wäre der Leser ein potenzieller Anwärter, so würde ich ihm raten, im Gespräch mit den Offizieren und Unteroffizieren der „Gestapo“ ehrlich und offen alle Fragen zu beantworten. Damals schon versprachen Kameraden mir ein Kreuzverhör, wie es schlimmer nicht sein konnte. Als ich auf Geheiß das Bureau zum ersten Mal betrat, ahnte ich, dass der Mann vor mir längst alles über mich wusste.

»Hast du jemals Drogen genommen?«

Ein Caporal-chef, der hinter ihm stand, übersetzte.

»Haschisch«, gab ich zu, während die Angst mir die Kehle zuschnürte.

»Politisch aktiv?« Er hob seinen Blick von meiner Akte und sah mich direkt an.

»Nein, so siehst du nicht aus! Sag mir, bist du homosexuell, hattest du was mit Männern?«

Ich sah also nicht so aus wie ein Politiker, vielleicht aber wie ein Schwuler?

Der Caporal-chef grinste. »Ein bisschen Spaß muss sein. Der Sergent-chef meint das nicht so. Sag einfach Ja oder Nein.«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich einerseits empört, andererseits erleichtert. Erleichtert war ich deshalb, weil der Caporal-chef einen Dialekt sprach, den ich nur allzu gut kannte. Womöglich stammte er aus dem Elsass.

»Nun denn«, sagte der Sergent-chef mit dem Ansatz eines Lächelns. »Umso besser. Wie sieht es bei dir mit Vorstrafen aus?«

Meine Erleichterung wich purem Entsetzen. Mit zwölf hatte ich mal ein Zwanzig-Liter-Bierfass gemopst. Der Lastwagen einer Brauerei hatte des Nachts einen Unfall auf der Autobahn direkt hinter unserem Garten. Die Bierfässer lagen über die ganze Wiese zerstreut und der Biergeruch lockte alle Anwohner aus den Häusern. Wir waren eine kinderreiche Familie und ansonsten alles andere als wohlhabend, im Gegenteil. Die Armut bestimmte unseren Alltag. Meine Mutter hatte immer für alles im Leben kämpfen müssen. Das Wort Vater stand nicht in meinem Lexikon, es war für mich ein Fremdwort. Bei uns gab’s dreimal die Woche Brotsuppe. Meine Brüder und ich mussten uns lustige Sticker aus Stoff auf die schon viel zu kurzen Hosen nähen, um so die Löcher darunter zu verstecken. Neue kaufen kam gar nicht in Frage. Als mich meine Mutter mit Schubkarre und Taschenlampe bewaffnet losschickte, sah ich an ihrem Blick schon, dass ich hier etwas tat, das nicht ganz amtlich war. Doch ich sah auch die Not hinter diesem Blick. Ein Fass Bier konnte man verkaufen, und das bedeutete, dass am Sonntag Fleisch auf den Teller kam. Ich zögerte deshalb keine Sekunde. Draußen angekommen stellte ich rasch fest, dass ich nicht der Einzige war. Tags darauf sammelte die Polizei in sämtlichen Häusern im Umkreis von mehreren hundert Metern alle Fässer wieder ein. Ein mysteriöser Beobachter hatte wohl eine Liste geführt und alle verpfiffen. So viel zu meinen Vorstrafen. Zu meiner größten Überraschung lachte der Sergent-chef ebenso laut wie der Caporal-chef, als ich ihnen davon erzählte. Bezüglich der Compagnie Administrative et de Passage de la Légion étrangère (CAPLE), deren Dach man von hier aus durch die Pinienheide schimmern sehen konnte, eine, besser gesagt zwei Anekdoten. Die eines Deutschen nämlich, der sich bei der Legion bis zum Offizier hochgearbeitet hatte und welcher eine der markantesten Figuren der Legion unserer damaligen Epoche war: Capitaine Lichterfeld! Es ging um die Geschichte eines Caporals, auf den, zurück von Übersee, statt Urlaub eine Gefängnisstrafe wartete, sowie die unrühmliche Entlassung. Was er angestellt hatte, um so in die Klemme zu geraten? Wer weiß das heute noch so genau. Als sich dieser Caporal bei Capitaine Lichterfeld zum Rapport meldete und ihn dieser mit „Guten Tag, mein Junge, was hast du denn da drüben ausgefressen?“ empfing, antwortete der Caporal mutig und frech mit „Bonjour, mon père“, Guten Tag, mein Vater, was eine ungeheuerliche Anmaßung war. Dann erzählte er ihm die ganze Geschichte und wie diese sich zugetragen hatte. Ob des Mutes von dem Caporal beeindruckt, ging der Capitaine mit ihm an seine Bar, schenkte den besten Cognac ein und stieß mit ihm an. Anschließend genügte ein Anruf an höchster Stelle und die Sache mit dem Knast und der Entlassung war Schnee von gestern. Der Caporal hatte stattdessen Urlaub bekommen. Übrigens gab es im Quartier Viénot eine Straße, die nach diesem Capitaine benannt war, die Lichterfeldstraße! Chef de Bataillon Peter LICHTERFELD, verstorben im März 2010, war ein Algerienkämpfer. Er diente in den Rängen des 1. und 2. REP. Wie Capitaine Hessler, den ich später im Buch erwähne, hat er sich vom simplen Legionär bis hoch in die Offiziersränge geboxt. Von seinem Fenster in der CAPLE aus hatte nun der Capitaine die beste Sicht auf seine Straße. Diese lag unweit des Museums der Fremdenlegion. Jedem verbot er, sie zu benutzen! Jedem außer Legionären des 2. REP. Benutzte ein anderer sie, holte er seinen Luftdruck-Karabiner hervor und schoss, ohne zu zögern, auf diesen Flegel. Man beachte, dass er, Erzählungen nach, am Anfang eine Handfeuerwaffe vom Kaliber 22.LR dazu benutzte, doch das war des Guten wohl doch zu viel. Doch das alles nur am Rande. Wir trugen bereits die roten Litzen, da hieß es nach Einbruch der Dunkelheit Wache schieben. Es war, so fühlte ich zumindest, reine Schikane. Schikane mit Hintergrund! Uns wurde beigebracht, uns in Geduld zu üben, schon auch mal Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht wollte man auch den einen oder anderen noch die Gelegenheit geben, das Weite zu suchen. Waffen hatten wir keine, dafür aber alte Parkas, die dem Aussehen nach aus der Zeit der Grabenkriege stammten und wohl deshalb nicht nach Rosen dufteten. Angesichts der Tatsache, dass der Spuk Aubagne bald zu Ende sein würde, war uns das so ziemlich egal. Mit geschwellter Brust nahmen wir unsere Standardausrüstung und Bekleidung in Empfang. Der Tag, an dem wir das begehrte Képi Blanc tragen durften, rückte mit riesigen Schritten näher.

Leben unter fremder Flagge

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