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In der Hölle Guyanas

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3. Régiment étranger d’infanterie, Französisch Guyana

Um Begriffe wie Waffenbrüderschaft, Korpsgeist und Zusammenhalt deuten zu können, muss man wie wir Guyana mehrere Wochen lang von Ost nach West zu Fuß durchquert haben, nass bis auf die Knochen vom ersten bis zum letzten Tag, nur der Marschkompasszahl folgend und als einzige Verbindung zur „Zivilisation“ eine „eigenwillige“, vom Geländerelief abhängige Funkverbindung. General Pierre Chavancy

Mein Regiment, mein Heimatland. Mein’ Mutter hab ich nie gekannt. Mein Vater starb schon früh im Feld, ja Feld. Ich bin allein auf dieser Welt.“ Anne Marie du 3. REI. (Propagandalied „Regimentsmarie“, Erster Weltkrieg, Deutschland)


Eingang ins Quartier Forget – Hochburg der Dschungelkämpfer des 3. REI

Juli 1985. Man hatte uns in Aubagne mit Zivilkleidung ausgestattet, die wohl noch aus der Zeit des Algerienkrieges stammte. Ich trug einen dunkelbraunen Anzug, dessen viel zu lange und weite Hose wie ein Segel im Wind um meine Beine schlotterte. Die Ärmel wiederum waren zu kurz. Johansson, einen Zwei-Meter-Hünen aus Schweden, hatten sie aus Verzweiflung in einen Sportanzug gezwängt: Auch der größte Anzug wollte ihm nicht passen! Es war schon was dran, wenn manche behaupteten, dass ein Soldat in Zivil eine schlechte Figur abgibt. Von Paris Charles de Gaulle ging es in einem Nonstop-Flug zehn Stunden lang nach Martinique, wo, während eines kurzen Zwischenstopps, die Maschine aufgetankt wurde. Danach flogen wir weiter nach Cayenne Rochambeau. Das Erste, was ich spürte, als sich die Türen des Flugzeuges öffneten, war diese drückende Schwüle. Die Luft stand und die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass man um jedes Quäntchen Sauerstoff kämpfen musste. Vom Flugzeug aus hatte ich das Land – ein immenser grüner Teppich – ziemlich flach in Erinnerung. Ein Trugschluss, wie ich später feststellen musste. Als wir Richtung Kourou fuhren, kamen wir an der Europarakete Ariane vorbei. Auftrag der Ariane war es, Satelliten in den Transferorbit zu bringen, was immer genau das auch heißen mochte.


Die Europarakete ARIANE in Kourou, Französisch Guyana

Ich habe mir sagen lassen, dass die Lage des Weltallbahnhofs direkt in der Nähe des Äquators den Flug beziehungsweise den Start der Ariane besonders begünstigte, und hier wären wir schon bei einer der besonders schwierigen Hauptaufgaben des 3. REI. Der Bewachung der Weltraum-Europarakete Ariane! Die „Opération Titan“ zielt darauf ab, unsere europäische Trägerrakete ARIANE und die dazugehörigen Einrichtungen (das CSG, Centre Spatial Guyanais / Guyanas Weltraum-Zentrum) vor Angriffen von außen zu schützen. Und die anderen Aufträge? Auf dem Grund der Flüsse im inneren des Landes gab es Gold. Und es gab Diamanten, Zucker, Kaffee, Maniok, diverse Edelhölzer und Pfeffer. Der Tier- und Fischreichtum war unerhört ergiebig. Voller Interesse lugten die Anrainerstaaten Surinam und Brasilien sowie Mafioso-Vereinigungen, Schmuggel übelster Sorte und illegale Goldgräber auf den kleinen Staat Guyane.

Anm. d. Verf: Bereits im Jahr 1887 sagte der französische Professor für Geografie und Südamerikaforscher Henri Anatole Coudreau: „In der Region des Tumuc-Humac Massivs (im Süden Guyanas) gibt es ausreichende Goldvorkommen, die eine reiche Ausbeute versprechen.“ Außerdem, so meinte er weiter, gebe es Kakao und Kautschuk. Eine Kolonisierung des Landes würde sich also bestens lohnen! Vor Coudreau war es der Entdeckungsreisende Jules Crevaux, der 1877 im Süden Guyanas nach dem El Dorado suchte. Tausende von Menschen kamen wohl ums Leben, weil sie, alleine auf den Flüssen oder zu Fuß im Urwald, wie besessen dieser letzten Bastion für Träumer hinterherjagten.


Kaum Licht, kein Wind, schweres Gepäck, Hitze, Schlangen und Moskitos: Adieu, altes Europa, am Ende der Welt gehen wir ans Limit.

Um ihr Begehren in Schach zu halten, galt und gilt es, die Grenzen ständig zu überwachen. Diese Grenzen bestehen im Osten und im Westen auf natürliche Weise aus den Flüssen Oyapock (Oiapoque) und Maroni. Im Süden gibt es die sogenannte grüne Grenze. Dort ist der Grenzverlauf zwischen Brasilien und Guyana nur schwer nachzuvollziehen. Als Anhaltspunkt gilt das sagenumwobene Tumuc-Humac Massiv, und für die Verfeinerung sorgten die Grenzsteine. Grenzsteine indes gibt es nur sieben. Sie zu finden war eine unserer schwierigsten Aufgaben. Mannshoch, von einem leicht zu übersehenden, bröckelnden Grau, hatte der Dschungel sie sich völlig einverleibt.


Einen „Borne“ (Grenzstein) haben wir schon gefunden: ohne GPS! Von links nach rechts – ein Ungar, ein Brite, ein Italiener, ein Kanadier und ein Franzose: Fünf Legionäre, eine Familie, ein Auftrag!

Das Kartenmaterial war veraltet, ungenau. Wir marschierten nur nach dem Azimut (Marschkompasszahl). Die im Gelände zurückgelegte Distanz berechneten wir an Hand der Schrittzahl oder mit dem Topofil. Eine Abweichung von einem Grad in der Richtung oder um hundert Meter in der Distanz, und das Suchen begann. Gab es Fehler in der Richtung sowie auch in der Distanz: Gute Nacht, bis zum nächsten Mal! Global Positioning System (GPS) hatten wir noch lange nicht. Das Quartier Forget, 1985 von drei Seiten total vom Amazonas-Regenwald umgeben, war wie die Kaserne Lapasset recht klein. Unmittelbar hinter dem Eingangstor, den Poste de police (Wachgebäude) links lassend, saß auf einem mit Gras bewachsenen Hügel eine Statue aus Bronze. Sie zeigte einen Soldaten aus der Zeit des frühen Tonkin-Kriegs (ab November 1883). In der Rechten hielt er ein Gewehr, während seine Linke auf dem Knie ruhte. Sein Tropenhelm glitzerte golden in der Sonne und er hatte den Kopf Richtung Cayenne gedreht. Nachdenklich starrte er so in die Ferne. Diesem Soldaten hatten die Taulards, die Knastbrüder des Regimentes, den Beinamen Manolito verpasst. Die hier stationierten Einheiten waren: Eine Compagnie de commandement et de soutien (CCS) – Stabs- und Versorgungskompanie. Die zweite und dritte Kampfkompanie. Die Compagnie d’équipement (CE) – Pionierkompanie mit schwerem Gerät, das hauptsächlich zum Straßenbau geeignet war. In der CCS befand sich die sogenannte Cellule Forêt, die Zelle oder Abteilung Urwald. Sie war das Kernstück dieses Regimentes. Diese Zelle war verantwortlich für die gesamte den Dschungel betreffende Ausbildung:

die Kurzlehrgänge, genannt Stages brousses (Einführungslehrgänge, die den Neuankömmling mit den Lebensbedingungen im Urwald vertraut machten)

die Dschungelkampf-Ausbildung für die Kampfkompanien

Lehrgänge für das Überleben und das Orientieren im Amazonas-Regenwald sowie

die Ausbildung in all diesen Domänen für die Offiziere der renommierten Offiziersschule Saint-Cyr.

Des Weiteren führte das Regiment Lehrgänge für Spezialeinheiten aus aller Welt durch. Ob GIGN, Commandos marine fr., Ledernacken (Marines), US Special Forces, Navy SEALs, später auch KSK etc., alle mussten in den sauren Apfel beißen. Diese Ausbildungen wurden anfangs in den Dschungelcamps Fabert und Mattei durchgeführt. Diese beiden Camps lagen mitten im Dschungel. Es waren dunkle Orte fernab jeglicher Zivilisation! Erst als so nach und nach das Camp Szuts in Regina fertiggestellt war, fanden dort im Rahmen des Centre d’entrâinement à la forêt equatoriale (CEFE) – Ausbildungszentrum für das Umfeld Urwald am Äquator – alle weiteren Ausbildungen statt. Die Dschungelkampfschule CEFE wurde 1986, ein Jahr nach meiner Ankunft, offiziell gegründet. Damals stand eine neue Ära bevor. Mitverantwortlich für das CEFE war ein junger, sympathischer und stets Pfeife rauchender Hauptmann der Cellule forêt. Sagte ich, dass diese Zelle das Kernstück des Regimentes war, so stimmte dies für die höhere Hierarchie, für Planung und Befehlsgebung. Die Durchführung der in kühlen, sterilen und angenehmen Büros geplanten Aktionen fand jedoch etwa 135 Kilometer weiter nordöstlich in Regina statt. Dort im Camp Szuts‘ war nichts kühl und angenehm und steril. Hier wehte der Wind der kompromisslosen Rauheit, aber auch der Wind aller Abenteuer dieser Erde. Entweder man war mit Herz und Seele bei der Sache, dazu gehörten auch ein gestählter Körper, ein scharfer Verstand, eine große Portion Wille und die Liebe zum Urwald, oder man zog den Kürzeren. Das Camp in Regina war benannt nach einem Unteroffizier der Legion, dem Adjudant Szuts. Szuts, ein Ungar, trat im Jahr 1946 ein. Er wurde später ins 3. REI versetzt und starb während eines Einsatzes in Algerien. In den Anfängen war Camp Szuts die Hochburg der Compagnie d’équipement (CE), der Pionierkompanie. Ab 1986 hat das CEFE hier seine Zelte aufgeschlagen.


Drill mit Spezialkräften aus Venezuela

Die CE war eine Einheit, bestehend hauptsächlich aus Pionieren und später dann, als CEA ab 1986, ein Mix aus Pionier- und Luftabwehr-Soldaten. Die Pioniere trugen alle einen langen Vollbart. Ich kannte sie als robuste Männer, die alle positiven Eigenschaften eines Fremdenlegionärs vereinten. Sie standen damals am Scheideweg zwischen althergebracht und modern, zwischen altem Pioniergeist und gegenwärtiger Technik der modernen Konstruktion, wobei: Der alte Pioniergeist und die althergebrachten Methoden dieser Truppe haben sich mit Sicherheit bewährt, moderne Konstruktionsverfahren aber, wie fein ausgeklügelt sie auch sein mochten, verloren im Umfeld Dschungel oftmals ihren Wert und ihren Sinn. Als ich in Guyana ankam, bauten die Legionspioniere eine Straße von Regina nach Saint-Georges, mitten durch den Urwald. Saint-Georges war ein kleiner Ort, nur einen Steinwurf von der brasilianischen Grenze entfernt. Die Straße von Cayenne bis runter an die brasilianische Grenze hingegen war fast fertig. Es war ein abenteuerliches Unternehmen, bei dem so manch eine Träne und noch mehr Blut geflossen ist. Als die Legionäre in Guyana ankamen, fanden sie ein Gräuel aus Urwald und Sumpf vor. Es war ein wildes, fast undurchdringliches Land. Bevor sie also die Waffe in die Hand nahmen, musste dieses Land gebändigt werden. Die Männer krempelten die Ärmel hoch und bauten die Route de l’est. Dieses Unternehmen kostete mehreren Legionären das Leben: Malaria, Schlangenbisse, Hitzschlag! Zwischen 1973 und 2013 verloren insgesamt fünfzig Legionäre des 3. REI ihr Leben.


Eine sechs Meter lange Anakonda. Der Autor ist der Dritte von links.

Wenn die Pionierkompanie in Dreierreihe geschlossen durch das Quartier Forget marschierte und ihr Lied „en Algérie“ erklang, war die Luft wie elektrisch aufgeladen. Es war Knistern pur‘! Alle Fenster öffneten sich, jeder legte die Arbeit nieder, um sie singen zu hören. Noch heute läuft es mir eiskalt und siedend heiß den Rücken hinunter, wenn ich die tiefen, rauen Stimmen vernehme. Bravo, dort marschiert die Seele der Legion, dachte ich jedes Mal! Ein Zug der Pionierkompanie war die Section d’autodéfense anti-aérienne (SADA). Ihr Auftrag war die Flugabwehr. Mit ihren 20-mm-Flugabwehrkanonen und später auch mit den Mistral Boden-Luft-Raketen kurzer Reichweite hielten sie den Himmel über der Ariane feindfrei. Es handelte sich dabei um das System SATCP (Sol-air à très courte portée / Luft-Boden-Flugabwehrrakete, montiert auf dem leichten Aufklärungsfahrzeug VLRA). Doch diese Phase kam erst viel später. Ich rede hier von der Entwicklung der Einheit, wie sie teilweise stattfand, als ich das Regiment längst wieder verlassen hatte. Die Kampfkompanien Zwei und Drei verbrachten die meiste Zeit im Dschungel. Wenn ich mein Beispiel anführen darf: Ich verbrachte nicht weniger als 425 Tage im Urwald. Die Aufträge im Busch waren mannigfaltig. Entweder waren es die Missions Fluviales oder die Missions Profondes.



Urwald, Urwald, Urwald, soweit das Auge reicht! Am Fuße des Tumuc-Humac. Wer sich hier verirrt, ist verloren.

Erstere, reine Grenzkontrollen, spielten sich hauptsächlich in den Pirogen und somit auf den Flüssen ab. Die Mission Profonde (MP) hingegen führte uns zu Fuß quer durch den Dschungel. Es ging darum, auch im tiefsten Hinterland und im Urwald Präsenz zu zeigen. Wir sollten nach Spuren von sich im Land aufhaltenden illegalen Goldgräbern suchen, jegliche menschliche Aktivität aufspüren und hinzugekommene Geländestriche, Flüsse, Criques oder Sümpfe (die in Guyana vielerorts quasi über Nacht neu entstehen) auf den Karten einfügen, sprich das Kartenmaterial updaten. Das war die Arbeit der Unteroffiziere. Wir Caporäle und Legionäre konzentrierten uns auf das zügige Vorankommen und übernahmen die Absicherung und das ganze Drumherum. Der Zugführer schrieb jeden Abend bis weit nach Mitternacht an einer Art Monografie, einer detailfreudigen Abhandlung der jeweiligen Expedition. Zurück im Camp wurde alles archiviert. Von beiden, der MP und der Mission Fluviale, berichte ich noch ausgiebig, wenn es so weit ist. Jede Kompanie musste natürlich auch dann und wann zum Dienst innerhalb des Regimentes antreten. Aus der Kampfeinheit wurde eine Diensteinheit, die Compagnie de service. Sie stellte die Wache, den Interventionszug (DO), die Köche, die Küchenhilfen und die Krankenpfleger. Für alle möglichen Aufträge wurden Bereitschaftsfahrer auf Abruf verbannt, Soldaten in die Kleiderkammer geschickt. Natürlich stellte diese Kompanie auch den Offizier vom Wachdienst und seinen Stellvertreter. Die Compangie de service war eine Woche lang zu hundert Prozent aus dem Verkehr gezogen. Eine Ausbildung in dieser Zeit war unmöglich, denn die Züge waren meist alle um zwei Drittel ihrer Stärke reduziert. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen hatte die Legion damals keine Zivilisten in ihren Camps. Die Gebäude der einzelnen Kompanien waren um den zentralen Exerzierplatz angelegt. Und das Regiment hatte sein eigenes Freudenhaus, ordinär: einen Puff! Dieses glich durchaus einem Bordell militaire contrôlé (BMC). Es lag außerhalb des Quartiers. Ja, wir hatten ein Bordell. Und das war nicht zu unserem Nachteil, wie man sich denken kann. Auch darüber später noch! In einem Käfig, der zwischen der Unteroffiziersmesse, la Caravelle‘ und dem Schwimmbad stand, lief ein Jaguarpärchen unruhig auf und ab. Es waren schöne, kräftige Tiere, wie ich sie später auch in freier Wildbahn beobachten durfte. Die beiden bekamen übrigens Nachwuchs. In Kourou, einer Stadt mittlerer Größe knapp einen Kilometer vom Camp entfernt, tummelten sich Menschen aller Rassen und Herkunft: Amérindiens (Emerillons, Arawaks und Galibis), Kreolen, Europäer (hauptsächlich Franzosen, Ingenieure und Techniker des Centre national d'études spatiales (CNES), französische Weltraumagentur), Huren aus Brasilien und aus der Dominikanischen Republik, Goldgräber, Libanesen, Abkömmlinge der Bagnards der um die Jahrhundertwende in Cayenne und auf den Inseln internierten Sträflinge (Guyana war bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sträflingskolonie), Holländer aus Surinam – und mittendrin wir, Legionäre aus aller Herren Länder. Alle Zutaten waren gegeben, dass mein Aufenthalt in dem Regiment, das als der Experte im Dschungelkampf weltweit galt, eine hinreißende und abenteuerliche Geschichte sein würde.


Mission Fluviale – Grenzüberwachung

» Dans la brume la rocaille. Légionnaire, tu combats. Malgré l‘ennemi, la mitraille.

Légionnaire, tu vaincras.« Lied der dritten Kompanie des 3. REI.

Ein Flair alter Kolonialzeiten haftete diesem Regiment an. Europa war weit entfernt, und mir war es, als hätte ich hier brutal eine Tür in die Vergangenheit aufgestoßen und hinter mir sanft wieder geschlossen. Die erste kalte Dusche kam bereits mit Riesenschritten näher. Vom Flughafen kommend fuhren wir durch das Tor des Quartiers, wo der Marmon (kleiner Lastwagen) vor einem weiß gestrichenen Gebäude zum Stehen kam. Kaum abgestiegen, hörten wir hinter uns eine Stimme.

»Wer von euch ist in die dritte Kompanie versetzt worden?«

Der Légionnaire de première classe (Gefreiter), der mit dem gelben Foulard, dem Schultertuch der dritten Kompanie, vor uns stand, hatte den Elsass-Lothringer Akzent. Wir alle hoben die Hand. Es war es, Oliver, der die fatale Frage stellte.

»Und du? Bist du auch in der Dritten?«

Wie zum Teufel konnten wir auch wissen, dass die Schikane in den Regimentern übergangslos weiterging? Niemand hatte uns darauf vorbereitet, dass wir hier, am Anfang zumindest, sogar die Gefreiten siezen mussten. Kaum hatte Oliver das letzte Wort gesprochen, lagen wir schon wieder in der Horizontalen und absolvierten fünfzig Liegestütze. Wir, da war zunächst Lucev, ein bärbeißiger Jugoslawe. Lucev war ausgebildeter Krankenpfleger und eine Kapazität auf seinem Gebiet. Er verkörperte Verlässlichkeit und Humor. War er in der Nähe, wenn wir im Dschungel unterwegs waren, dann fühlten wir uns geborgen. Schon nach kurzer Zeit im Regiment gab es keinen von uns, der nicht durch seine wissenden‘ Hände gegangen, nicht von ihm wieder aufgepäppelt worden wäre. Wie kaum ein Zweiter konnte er Spritzen verabreichen (wir benötigten hauptsächlich die Injektionen, die dazu gedacht waren, den Tripper zu kurieren), Verbände wechseln, Blutungen stoppen oder auseinanderklaffende Wundränder nähen. Vom Sumpffieber bis hin zum harmlosen Tripper kannte er, so schien es uns, die Symptome sämtlicher Krankheiten. Bailey, ein Caporal, der im Alter von zwölf Jahren schon besser mit dem MG umgehen konnte als andere Jungen in seinem Alter mit Matchbox-Autos, war Ire. Ihn nannten wir Pappy. Pappy war am ganzen Körper tätowiert. Ohne dass er darauf gedrängt hätte, hatten wir ihn von Beginn an zu unserem (inoffiziellen) Führer erkoren. Seine Autorität war angeboren und der positive Einfluss, den er auf uns ausübte, wurde von allen wohlwollend akzeptiert. Gab es unlösbare Probleme, war er der Mann, an den man sich wendete. Außerdem war Pappy ein Organisationstalent. Es schien nichts zu geben, was er nicht in kürzester Zeit besorgen konnte. Eine Originalflasche Gewürztraminer, eine Hure aus Saigon, echte russische Rubel? Kein Problem für ihn! Dann war da natürlich Oliver, ein Deutscher aus Schleswig-Holstein. Jeder nannte ihn die Wildgans. Olli war ein durchgeknallter, aber äußerst sympathischer Typ. Selbst in Momenten der Gefahr oder in verfahrenen Situationen wartete er immer mit Späßchen auf, die unsere Moral wieder hoben. Keksz, ein Ungar mit der stämmig kurzen Statur eines Boxers, war, so wie sich herausstellen sollte, un fou, ein Verrückter! Verrückt deswegen, weil er alles, was kreuchte und fleuchte, anfasste, in die Hände nahm und nach einer eingehenden Betrachtung tötete und aß! Manchmal roh, meist aber über einem Feuer gebraten. Dabei war es ihm egal, ob es eine doch ziemlich harmlose Vogelspinne war, eine gefährliche Fer-de-Lance Schlange oder gar eine Grage carreaux (Buschmeister). Wir, das war auch Chagnaud, der Gaulois. Der dem ersten Anschein nach schmächtige Franzose sollte uns alle durch seine Robustheit und seine exzellente Ausdauer verblüffen. Certa, ebenfalls Franzose und Chagnauds bester Freund, stammte aus dem Elsass. Beide hatten bereits im 2. REP gedient. Sie waren drahtig, zäh wie Leder und hatten diese Abgeklärtheit und Besonnenheit, die uns anderen, die wir direkt aus Castelnaudary kamen, noch fehlte. Certa war besonnen und zurückhaltend. Doch so alle drei, vier Monate kam er, durch welche Einflüsse auch immer, aus seiner Reserve. Dann sollte man ihm lieber aus dem Weg gehen, Freund oder nicht! Ich hatte einmal erlebt, wie er im wilden Rausch in einer Bar gewütet hatte. Da blieb kein Auge trocken. Vielleicht war es seine Art, den Cafard zum Ausdruck zu bringen. Wir wussten und respektierten das. Und dann war da natürlich auch mein Namensvetter Thomas Linder. Ebenfalls aus Franken stammend, und zwar gar nicht so weit weg von meinem Geburtsort, sollten wir lange Jahre Freunde bleiben und ein schier unendliches Stück Weges in der Legion zusammen gehen. So lange, bis sein tragischer Tod ihn aus unserer Mitte riss. Thomas war nur aus einem einzigen Grund hier: Er wollte kämpfen! Dabei war es ihm egal, auf welcher Seite und gegen wen. Er schien nur glücklich mit der Waffe in der Hand. Das wurde ihm zum Verhängnis, doch davon später.

Der Gefreite machte sich einige Notizen und verschwand wieder. Kurz darauf wurden wir vom Chef de détachement (Verantwortlicher der Abteilung) in einem kleinen Saal, einer Transitunterkunft untergebracht. Hier waren alle Legionäre einquartiert, die sich in einer Übergangsphase befanden. Tags darauf ging es los mit dem Stage brousse, dem Einweisungslehrgang. In diesem Schnellkurs, den ich rasch überfliege, wurde uns das kleine Einmaleins des Dschungels beigebracht. So einfache Dinge, wie: Wie packe ich meinen Rucksack, was gehört hinein und was nicht? Wie spanne ich mein Hamac (brasilianische Haushängematte) und das Bâche, den Regenschutz? Welche Gefahren birgt der Dschungel? Was tun, wenn ich mich verirre, verletzt bin oder plötzlich illegalen Goldgräbern gegenüberstehe, die ein Interesse haben, nicht erwischt zu werden, und alles tun, damit es auch so bleibt? Welche Tiere können mir gefährlich werden, was tun bei einem Schlangenbiss? etc. Nach diesem Lehrgang gehörten wir offiziell der dritten Kompanie an und endeten, wie durch ein Wunder, fast alle im selben Zug, dem „332“, drittes Regiment, dritte Kompanie, zweiter Zug. Thomas Linder war im ersten Zug und Ange, der Korse, der erst später seine Aufwartung im Regiment machen sollte, wurde in den dritten Zug versetzt. Mein Zugführer, ein frischgebackener Leutnant namens Chavancy, war ebenfalls ein Neuling im Regiment. Er kam gerade von der Offiziersschule. Ungefähr zwölf Jahre später sollte ich ihn als S-3 Offizier des 2. REI, Jahre darauf als Regimentskommandeur der 13. DBLE und wieder etwas später als Militärgouverneur der Stadt Lyon antreffen. Dieser brillante Offizier war etwas kleiner als ich, kompakt, körperlich topfit, Brillenträger, und er machte nicht den Fehler, den schon so manch ein Leutnant begangen hatte, nämlich von oben auf uns herabzusehen und die Stimme seines Stellvertreters geflissentlich zu überhören. Dazu war er einfach zu intelligent. Sein Stellvertreter, Sass, der Sous-officier adjoint, ein Ungar mit dem Dienstgrad eines Sergent-chef, war ein alter Haudegen. Als solcher war es unter anderem seine Aufgabe, den Leutnant unter seine Fittiche zu nehmen, ihn „einzunorden“. In der Legion ist das ein unerlässlicher Prozess, denn ein Offizier weiß nichts von diesen Männern ohne Namen. Er kann alles richtig oder auch alles falsch machen. Die meisten Offiziere erleiden immer dann eine Bruchlandung, wenn sie nicht ab und zu auf ihre Stellvertreter, auf die alten Legionäre hören. Widersinniger Offiziersstolz ist total fehl am Platz. Groß und drahtig, hatte Sass die Silhouette eines Buschläufers. Allzu oft hatte ich in den kommenden zwei Jahren das Vergnügen, im Dschungel hinter ihm zu marschieren, und ich behaupte mal frech: Dieser Mann läuft alles und jeden, der Beine hat, in Grund und Boden. Er war ein Phänomen! Doch Sergent-chef Sass war nicht nur ein hervorragender Läufer. Er war, so wie alle Sergent-chefs der Legion, die Erfahrung und das Gedächtnis des Zuges. Er und kein anderer vermittelte uns die Traditionen der alten Legion. Er war es, der vergangene Zeiten in Erinnerung rief. Sass bildete das Verbindungsstück zwischen einem einsamen Kreuz irgendwo in Indochina, in Algerien oder in einem Talweg am Fuße der Festung Krim und uns jungen Soldaten der Legion. Er war Hüter der Tradition!

und der Disziplin!

Der Chef war es, der von Anfang an die Disziplin im Zug etablierte und sie über die ganzen zwei Jahre lang mit eiserner Faust aufrechterhielt. Das verdient eine ganz besondere Hochachtung, denn in unserem Zug waren damals, um mich bescheiden auszudrücken, sehr starke Charaktere vertreten. Keine Jungs von gestern, sondern Abenteurer, Männer, die wussten, was sie wollten, und vor allem Männer, die wussten, was sie nicht wollten. Und Sturköpfe waren die meisten obendrein. Hier ein fast alltägliches Beispiel dafür, was Aufrechterhalten der Disziplin bedeutete: Im Nachbarzug gab es einen Iren und einen Engländer. Beide waren dicke Freunde. Der Größere von beiden, der Engländer, war Boxer, schnell, wuchtig und gefürchtet. Baumlang, brachte er gut und gerne hundertzehn Kilo auf die Waage. Der Kleinere, der Ire, war ein hagerer Rotschopf. Nicht gerade ein frommes Lamm. Die Hinterlist sah man ihm auch auf große Entfernung noch an. Eines Tages kamen beide etwas angeheitert aus der Stadt zurück und hatten einen Disput mit dem Caporal de semaine. Ein Wort gab das andere und keiner sah, wie Sergent-chef Sass sich näherte und zuhörte. Als er schließlich in Erscheinung trat, sagte er nur einen Satz: »Ihr beide geht schlafen, sofort!«

Als der Ire protestieren wollte und sich auf den Sergent-chef stürzte, ließ der den schweren Axtstiel spielen, der plötzlich wie hingezaubert in seiner Hand lag. Es hagelte Schläge in allen Variationen. Das Resultat war ein zertrümmertes Nasenbein für den Boxer und eine klaffende Kopfwunde für den Iren, der sich verdattert am Boden wiederfand. Das Ganze hatte nur einige Sekunden gedauert. Die Disziplin war hergestellt, die Notwendigkeit, dies zu tun, absolut gegeben.

Unser Zug bestand aus dem Zugtrupp und drei Gruppen. Jede Gruppe wurde von einem Sergent angeführt, der zu seiner Unterstützung zwei Caporaux, zwei Obergefreite, hatte. Die Obergefreiten lebten mit uns zusammen, und man kann sagen, dass sie es waren, die das reibungslose Funktionieren des Zuges gewährleisteten. Obergefreiter in der Legion zu sein, vor allem in einem Überseeregiment, ist verbunden mit Verantwortung, aber auch mit Anerkennung und Respekt. Unsere Unterkunft in der dritten Kompanie war ein altes Zivilgebäude. Das Appartement im zweiten Stock hatte einen Salon, eine Küche, eine Dusche, eine Toilette und zwei kleinere Schlafzimmer mit Bett und Spind. Wir waren zu sechst in der Wohnung, in der man angenehm lebte. Der Salon war gut ausgestattet: Fernseher, Couch, Sessel, Regale, nichts fehlte. Und in der Küche gab es einen Herd sowie einen Kühlschrank.

Wenn’s Regiment früh ausmarschiert, der Tambour seine Trommel rührt, tausch ich mit keiner Fürstin nicht, sie lebt nicht glücklicher als ich. Aus: ANNE MARIE DU 3. REI


Der Autor im Tenue de Parade, 1986. Gut zu erkennen das Blue Badge und die „Triple“ Fourragère

Die Bekleidung war dem Klima angepasst. Ausgehuniformen besaßen wir zwei. Den Tenue de sortie für die Stadt, und den Anzug für den Bordellbesuch, den Tenue puff! Die Uniform für die Stadt bestand aus einer langen kakifarbenen Hose und einem kakifarbenen Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt wurden. Der Sturz war genau drei Finger breit und endete am Ellbogen. Dazu wurde das Képi Blanc getragen. Auf dem Ärmel fand sich das Divisionsabzeichen aus Stoff. Auf der Brust stach das „Blue Badge“, die Distinguished unit citation, ins Auge. Es war eine Auszeichnung aus dem Zweiten Weltkrieg, die dem RMLE im Mai 1946 direkt aus der Hand des amerikanischen Präsidenten Truman überreicht wurde. Darunter schimmerte glitzernd unsere Pucelle. Auf goldenem Hintergrund standen die Worte Legio Patria Nostra, und etwas tiefer auf dem grün-roten Feld (die Farben der Legion) konnte man die Legionsflamme erkennen. Etwas tiefer las man 3. REI. Das 3. REI ist Erbe des Régiment de marche de la Légion étrangère (RMLE) und somit die höchstdekorierte Einheit der Legion. Unablässig und allen Verbündeten voraus, stürmte das RMLE ab dem 02. September 1918 die Hindenburglinie (dt. Siegfriedstellung), die am 14. September fiel. Das Gleiche hatten amerikanische Truppen mehrmals versucht: Vergeblich!


Links unter der Schulterklappe hatten wir unsere Fourragère befestigt, die nur Angehörige des Regimentes tragen durften. Es waren drei, mit den Farben rot, gelb und grün: die Farben der Médaille Militaire und die doppelte Fourragère, Croix de Guerre 1914-1918 und die Légion d’honneur. Die Fourragère ist eine Auszeichnung. Es handelt sich dabei um eine geflochtene Kordel, die sich auf der linken Schulter der Uniform trägt. Das obere Ende hat die Form eines Kleeblatts, während das andere Ende mit einen konisch, spitz zulaufenden Eisen bestückt ist. Über dem Eisen befindet sich ein Knoten mit vier Windungen. Zwischen Knoten und Eisen kann eine sogenannte Olive sitzen, die aussagt, für welchen Akt und in welcher Epoche die Fourragère der Einheit überreicht wurde. Die Fourragère gibt es in verschiedenen Farben. Hier die Beispiele, wie sie auch das 3. REI betreffen: Rot – Farbe der Legion d’Honneur / Ehrenlegion. Gelb – Farbe der Médaille Militaire / Militärmedaille. Grün und Rot – Farben des Croix de Guerre / Kriegskreuz, für den Ersten Weltkrieg (1914-1918) oder den Zweiten Weltkrieg (1939-1945).

Der Tenue puff bestand aus einer kurzen, kakifarbenen Hose, einem kurzärmligen Hemd und aus kakifarbenen Strümpfen, die bis knapp unter die Knie reichten. Dazu passten die schwarzen Ausgehschuhe. Das Képi Blanc wurde zum Tenue puff nicht getragen, ebenso wenig wie die Fourragère oder der ganze Rest. Die Kampfanzüge waren ebenfalls lang oder in der Short Version. Hinzu kamen das Foulard und natürlich das grüne Beret. Kakifarbene Hemden für die Ausbildung im Busch und der sogenannte Chapeau de brousse, die Kopfbedeckung für den Dschungel, rundeten das Ganze ab. Zur Zusatzausrüstung gehörten: Der Sac bulle (ein wasserfester Sack, in den man alles packte, was nicht nass werden durfte. Im Schnitt regnete es dreihundert Tage im Jahr); das Hamac (eine brasilianische Hängematte mit Schutzdach und Moskitonetz); das Bâche (eine Regenplane vier auf vier Meter); das Coupe-coupe (die Machete); ein Camulus (ein Kampfmesser, das wichtigste Instrument überhaupt! Es gehörte offiziell nicht zur Standardausrüstung, jeder hatte aber eines. Wenn es kein Camulus war, dann eben ein Jungle-Aitor, das aber öfter abbrach); ein Kompass; jede Menge Seilzeug etc. Dann gab es Dinge, die jeder von uns auf eigene Faust in den Dschungel mitnahm, Utensilien, die sich bewährt hatten: Kerzen zum Beispiel. Diese waren hervorragend zum Feuermachen geeignet. Was wir nie vergaßen, war Taffia, weißer Rum aus Martinique. Dieses Teufelsgebräu eignete sich nicht nur zum Trinken, sondern auch zur vorläufigen Wundbehandlung. Eine Flasche hatte jeder von uns immer im Rucksack, ebenso wie ein Sturmfeuerzeug und Rasierschaum (nicht nur zum Rasieren. Wir schmierten damit das Seilzeug ein, damit Fleisch fressende Ameisen, Spinnen und Skorpione etc. nicht ans Hamac oder an die aufgehängte Wäsche unter der Plane gelangen konnten). Weiterhin war es angebracht, jede Menge Rasierzeug mitzunehmen. Man war nämlich gut beraten, sich den Schädel glatt zu rasieren. Es folgten Dinge wie Tabak für die Raucher (unsere Missions Profondes dauerten damals noch dreißig Tage – meist regnete es dann auch die ganze Zeit und das Zigarettendrehen wurde zur Kunst: Papierchen nass, Tabak feucht, schlechte Laune garantiert!) und auch Nadel und Faden, ein gutes Buch und ein Bild der Liebsten. Ganz wichtig war Autan. Wir benutzten es gegen Stechfliegen und wenn wir Sackratten hatten. Damit war die Filz- oder Schamlaus gemeint. Sie konnte einen gestandenen Mann in den Wahnsinn treiben.

Leben unter fremder Flagge

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