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Kapitel 3 - Antonio

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Los Angeles, 25. Dezember, 08:30 Uhr

„Ich freue mich, dass sie gekommen sind, Professor Meyers. Es ist mir eine Ehre, sie kennenzulernen.

Ich hoffe, dass sie eine angenehme Anfahrt hatten?“

Monsignore Antonio, dessen Freude nicht gespielt war, schritt zügig auf Peter zu. Aus dem leichtfüßigen Gang konnte man schließen, dass er, trotz seiner fülligen Erscheinung, gut durchtrainiert war oder sich zumindest regelmäßig fit hielt.

Kurzes, ergrautes Haar, umrahmte ein rundliches Gesicht mit zahlreichen Altersfalten, was ihm ebenso spirituelle Erhabenheit verlieh wie seine priesterhaft schwarze Kleidung, an der weder das weiße Kollar noch das an einer goldenen Kette hängende, kleine Kruzifix fehlten.

Er war sofort als sympathischer, vertrauenswürdiger Pater erkennbar, dem man bedingungslos zur Beichte folgte, dessen lebensnahe Ratschläge genauso hilfreich wie geschätzt waren. Peter verstand, dass der Begriff Hochwürden etwas mit diesem Herrn zu tun haben musste.

Antonio bezahlte den Taxifahrer, der daraufhin den der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Airports mit seinem Auto wieder verließ. Zuvor war das Gepäck von Flughafenbediensteten behände in den hinteren Teil der bereitstehenden Maschine verfrachtet worden.

Peter wunderte sich zwar seit dem Anruf über Einiges, aber nicht, an diesem Teil des Flugplatzes angekommen zu sein. Privatjet, Vatikan - es passte alles zusammen.

Er brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Persönlichkeiten hier schon landeten oder abflogen. Sie reichten sich die Hände.

„Ganz meinerseits“, erwiderte Peter Antonios freundlichen Empfang, „sehr angenehm auch sie kennenzulernen.

Die Herfahrt war ausgesprochen problemlos, danke der Nachfrage.“

„Wenn ich sie genau betrachte“, musterte ihn der Priester, „muss ich sagen, es stimmt alles, was man über sie erzählt.

Sie sind genauso jung, wie sie mir beschrieben wurden, gleichwohl schon Professor und eine Autorität auf ihrem Gebiet. Es kommt nicht oft vor, jemandem wie ihnen zu begegnen, der in diesem Alter bereits einen derart exzellenten Ruf besitzt.

Meine Aufgabe, Professor, ist es, sie in alles einzuweihen, darüber hinaus sie unversehrt nach Rom zu bringen.“

Antonio lächelte tiefsinnig.

„Ich bin gespannt auf unser Gespräch“, fuhr er fort, „weil ich eine anspruchsvolle Konversation schätze.

Ich bitte sie aber um Nachsicht, wenn ich mit meinen 65 Jahren hie und da eine kurze Ruhepause brauchen sollte. Das Alter macht einem eben nicht nur weiser, sondern auch gebrechlicher.“

„Oh je, wenn sie mich da mal nicht überschätzen“, wiegelte Peter ab.

„So früh wie ich heute telefonieren musste und danach aufgestanden bin, bin ich froh, wenn ich nicht vor ihnen eine Auszeit brauche.“

Nach einer einladenden Geste von Antonio, bewegten sich beide auf den Passagierjet des Vatikans zu. Obwohl die Sonne im Südosten bereits an einem stahlblauen Himmel stand, war die Winterluft recht kühl, zumal ein leichter, an der Westküste der USA jedoch üblicher Seewind wehte.

Nur einige langgezogene Kondensstreifen von hochfliegenden Flugzeugen durchbrachen die kräftige, gleichbleibend monotone Färbung des Firmaments. Peter fühlte sich wohl in der Gegenwart dieses katholischen Geistlichen, wobei sein Bauchempfinden eine unterschwellige Irritation empfand, die er nicht zuordnen konnte.

„Der überfallartige Anruf ihrer Mitarbeiterin…“, nahm er das Gespräch wieder auf.

„Sie meinen Tamara Rosalia?“

„Ja, genau – also der Anruf hatte mich nicht nur neugierig gemacht, sondern ich kann es gar nicht erwarten, das Dokument in Händen zu halten.“

„Das kann ich mir denken!“, erwiderte Antonio, um zugleich einzuschränken:

„Professor, ich möchte jetzt nicht unhöflich erscheinen, aber wenn sie erlauben, setzen wir unsere Unterhaltung im Flugzeug weiter fort.“

Die cremefarbende Maschine stand nur unweit von ihnen entfernt. Auf der Außenhülle stand in großen Buchstaben in Latein ’Status Civitatis Vaticanae’, was übersetzt ’Staat der Vatikanstadt’ bedeutete.

Unter dem Schriftzug befand sich das große, rote Wappen, mit zwei sich kreuzenden Schlüsseln, je einer in blau und in gelb, darüber die Tiara, die Papstkrone. Peter hatte mit einem Düsenflugzeug gerechnet, dass es aber derart lang und geräumig war, dass es zwölf Gäste sowie zwei Flugbegleiter und natürlich zwei Flugzeugführer aufnehmen konnte, überraschte ihn dann doch.

Der Einstieg lag direkt rechts neben dem Cockpit, wobei zuerst eine kleine Bordküche zu durchqueren war. Der luxuriöse Besprechungsbereich bot mehrere elegante Sitzmöglichkeiten mit Stromanschluss und Satellitentelefon.

Dahinter folgte ein abgetrennter Teil mit zwei nebeneinanderliegenden Schlafkabinen auf der linken Seite und diesen gegenüber ein Gebetsraum, in den sich die geistlichen Würdenträger, zur Sammlung oder zum Beten, zurückziehen konnten. Zum Ende hin schloss sich die Bordtoilette, anschließend der Gepäckraum an, zu dem es eine eigene Außentür gab.

Der Flugkapitän und sein Assistent stellten sich persönlich vor, begrüßten beide mit Handschlag, danach erwähnten sie einige flugtypischen Details. Insbesondere, dass sie bei der Entfernung von rund 10.200 Kilometern mit einer Reisezeit von 14 bis 15 Stunden, je nach Wetterlage, rechneten.

Zwischenstopps zum Auftanken würden an den Flughäfen in New York als auch London eingelegt. Bevor die beiden zurück ins Cockpit gingen, um den Start einzuleiten, wiesen sie darauf hin, dass die Ankunft in Rom, durch die Zeitverschiebung, erst am nächsten Morgen, zwischen 07:30 Uhr und 08:30 Uhr, erfolgen würde.

Antonio und Peter setzten sich daraufhin in zwei bequemen Sitzen im Aufenthaltsbereich gegenüber. Es gab keine Anschnallpflicht.

Während die Motoren bereits liefen, meldete der Kapitän über Lautsprecher den eingeleiteten Start.

„Monsignore“ begann Peter, wurde aber sofort unterbrochen.

„Nennen Sie mich bitte einfach Antonio, Professor.“

„Danke, Antonio“, begrüßte dieser die vertraulicher werdende Gesprächsatmosphäre, „dann nennen sie mich aber bitte Peter!

Mir fällt auf, dass kein Bordpersonal anwesend ist?“

„Sie irren sich nicht“, gab Antonio relaxt zu.

„Ich hielt mich bereits die letzten Tage in Los Angeles auf, hatte mithin genügend Zeit dies so zu arrangieren. Gekühlte, alkoholfreie Getränke sind ausreichend vorhanden.

Ebenso hat uns der Cateringservice des hiesigen Dekanats leckere kalte Platten zusammengestellt. Sie brauchen sich nur zu bedienen.

Warme Getränke bekommen sie vom Kaffee-Tee-Automaten. Gehen sie einfach in den Küchenbereich, wenn sie Hunger oder Durst haben.

Das Ganze hat den Vorteil, dass unser Gespräch unter vier Augen bleibt, was mir im Moment sehr wichtig erscheint.“

Zwischenzeitlich hob der Düsenjet gleichermaßen unspektakulär wie sanft ab. Peter verfolgte durch eines der rundlichen Fenster die unter ihnen kleiner werdende Landschaft, zuerst den Flughafen, die Bäume, dann die Straßen, Autos und Häuser.

Nachdem sich beide aus der Küche einen kalten Drink geholt, zugleich noch etwas näher vorgestellt hatten, kam Antonio ohne Ausschweifungen zur Sache.

„Peter, ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Als Primas der Exorzisten beschäftige ich mich, zusammen mit Kardinal Richemont, seit vielen Jahren mit den Mächten des Bösen, oder, wie wir es nennen, mit der Dunklen Seite der Welt.

Meine geheime Abteilung genießt ein ausgesprochen hohes Ansehen im Vatikan. Wir sind direkt dem Papst unterstellt.

Die Mächte des Bösen werden symbolisiert durch Lucifer, dessen vielfältige Namen im Aberglauben auch Teufel, Diavolo oder Satan lauten. Daneben taucht in diesem Zusammenhang immer wieder der Begriff der sogenannten gefallenen Engel auf.

Es handelt sich um mystische Kreaturen, gewissermaßen abtrünnige Himmelsboten, welche sich vor Urzeiten angeblich von Gott abwandten. Falls unsere alten Textquellen authentisch sind, gibt es erschreckenderweise eine weitere Verbindung zu Vampiren sowie Werwölfen.

Auch wenn es sich für Sie unglaublich anhört, alle diese Geschöpfe stammen ursprünglich aus dem Paradies. Obschon ich bisher noch keines dieser Wesen zu Gesicht bekam, finden sich in unseren Archiven in voneinander unabhängigen Schriften mannigfaltige Hinweise auf deren Existenz.“

Peter musste kräftig schlucken. Kopfschüttelnd konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Ihm war unbehaglich zumute, weil sich die Unterhaltung auf geballte Phantastereien eines alten Mannes zu beschränken schien, anstatt auf wissenschaftliche Erkenntnisse.

„Ich bemerke durchaus ihre Skepsis“, kam Antonio auf den Punkt, zumal Peters Gesichtsausdruck Bände sprach.

„Ich sehe es in ihren Augen. Ich nehme es ihnen nicht übel, wenn sie denken würden, der alte, senile Antonio hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.“

Er lachte.

„Ich an ihrer Stelle, unter den gegebenen Umständen, täte es wahrscheinlich. Was ich ihnen gerade erzähle, muss sich doch für sie völlig verrückt anhören, ist es nicht so?

Allerdings ist es mir ein Anliegen, von vornherein mit offenen Karten zu spielen. Glauben sie mir, die Welt ist nicht so, wie sie sie kennen.

Es gibt hinter dem Schleier des Offensichtlichen noch eine andere Wirklichkeit. Aber darüber können wir später ausführlicher diskutieren.

Im Moment interessiert mich etwas Anderes mehr. Was sagt ihnen der Begriff Qumran?“

Peter, der immer noch grinste, blies leise die Luft aus seinem Mund. Aus Erfahrung wissend, dass Gespräche, selbst wenn sie anfänglich seltsam erschienen, durchaus spannend und aufschlussreich sein konnten, ließ er sich auf die Konversation ein.

„Interessant“, sprudelte es regelrecht aus ihm heraus, „dass sie diesen Ort ansprechen.

Qumran am Toten Meer – diese Gegend kenne ich tatsächlich. Während meiner Studienzeit unternahm unser Professor mit uns Kommilitonen eine Forschungsreise in den nahen Osten, die unter anderem nach Qumran führte.

Ich erinnere mich, als wäre die Reise erst vor einigen Tagen gewesen, was mich nicht verwundert. Es war ein eindrückliches Erlebnis, diesen sprichwörtlich heiligen Boden zu betreten.

Wir besuchten jene Orte, die für die Bibel in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine revolutionäre, nein, geradezu eine sensationelle Bedeutung hatten. Unter anderem fand man hier die ältesten bekannten Handschriften des Alten Testaments, wie zum Beispiel die Jesajarolle.

Aber das wissen sie natürlich als katholischer Priester. Freilich haben wir bei unseren Erkundungen nichts mehr entdeckt, schließlich leisteten die Bibel-Historiker in den letzten Jahrzehnten gründliche Arbeit.

Selbst die kleinsten Fragmente wurden in Sicherheit gebracht. Die steinige Wüste, eine erbarmungslose Sonne, Hitze und Trockenheit bestimmten die Gegend, brannten sich in unsere Erinnerung.

Doch da waren vor allem diese Felsschluchten. Überall um uns herum türmten sich Felsen auf, teilweise vom Wind glattgeschliffen über Jahrmillionen.

Plötzlich sahen wir etwas, das ein gigantischer, versteinerter Fuß eines Riesen hätte sein können. Wie Zehen lagen etwa 20 bis 25 Meter hohe Sedimentsteinwände auseinander.

An der Innenseite eines dieser felsenharten Fußteile befand sich, in circa 10 Metern Höhe, ein schlüssellochförmiger Höhleneingang, durch den bequem ein ausgewachsener Mensch passte, wenn er mithilfe einer Leiter hochklettern konnte oder sich von oben abseilte. Es war eine von insgesamt 28 Höhlen, die von 1947 bis 1991 entdeckt wurden.

Zum großen Teil waren sie natürlichen Ursprungs, zum kleinen Teil aber von Menschen, also künstlich angelegt worden. Meines Wissens fand man in einer einzigen Höhle allein 600 von insgesamt etwa 850 Schriftrollen.

Leider war der Inhalt, welcher auf Pergament, Papyrus, Kupferblech, Ziegen- oder Schafsleder geschrieben war, größtenteils nur noch fragmentär erhalten, was nicht verwundert. Zwar bieten diese Karsthöhlen eine gute Voraussetzung für die Aufbewahrung, aber, weil das Schriftgut über die Jahrtausende einfach auf dem Boden lagerte, konnte die Verwitterung, begünstigt durch Wind, Sand und Hitze, ihr Zerstörungswerk eben doch beginnen.

Die Sachverständigen, von denen, wenn ich mich nicht täusche, auch einige aus dem Vatikan kamen, bemühten sich sehr, die rund 15.000 Fragmente zu konservieren, anschließend zu übersetzen sowie später der Bibel zuzuordnen.“

Peters Blick war in die Ferne gerichtet, man merkte, dass er vor seinem geistigen Auge Bilder der Reise sah, so, als wäre er gerade dort.

„Die in der Nähe liegende antike Siedlung Qumran, deren Überreste wir ebenfalls bestaunen durften, nannten die Araber – das weiß ich noch genau – die graue Ruine. Wir brauchten nicht lange zu überlegen, woher diese Metapher kam.

Die Gegend am Toten Meer um Qumran, die bis zu 400 Meter unter dem Meeresspiegel liegt, besteht aus Mergelgestein. Mergel ist kalkhaltig und wird allenfalls als Rohstoff in der Zementindustrie gebraucht.

Für die Landwirtschaft bietet es keinerlei Nährstoffe, vom Kalk abgesehen. Die Böden sind daher unfruchtbar und sprichwörtlich ausgelaugt.

Entsprechend lebensfeindlich ist die Gegend. Wer sich die Umgebung der Ruinen ansieht, kann verstehen, woher der Begriff ausgemergelt kommt.

Trotz allem hatte sich Qumran erstaunlicherweise zu einem antiken Verkehrsknotenpunkt entwickelt. Mag sein wegen der Nähe zu Jerusalem im Westen, Jericho im Norden oder wegen des nördlich liegenden Flusses Jordan.

Auch das etwas tiefer liegende Tote Meer war nicht weit entfernt. Geographisch fand sich alles im Umkreis von bis zu 25 km.

Nachdem die kriegserfahrenen Römer 68 nach Christus alles zerstörten, verlor der historische Ort seine Bedeutung. Bis - ja bis 1947 der erste Fund erfolgte und eine wahre archäologische Euphorie auslöste.“

Peter nahm einen Schluck Wasser zu sich. Antonio konnte man die Freude über den Intellekt seines Gastes sowie dessen Eloquenz anmerken.

„Ich sehe, Peter“, gab Antonio einige anerkennende Worte von sich, „ihr vorauseilender Ruf als exzellenter Archäologe, als Kenner alter Sprachen, ihre Reputation, entsprechen der Wahrheit.

Ich denke, dass wir unser Wissen nicht voreinander verstecken müssen, sondern vielmehr voneinander profitieren können. Lassen sie sich aber bitte nicht nur von ihrem Fachwissen oder ihrer Vernunft leiten.

Was ich mit ihnen besprechen möchte, geht weit darüber hinaus. Ich plane, sie mit Themen zu konfrontieren, die ihr Verstand womöglich ablehnen wird, denen sie sich aber stellen sollten, wenn sie die Wahrheit herausfinden möchten!“

Wiederum meldete sich Peters Bauchgefühl. Es machte ihn unsicher, dass ihr gemeinsames Gesprächsthema sich weniger in naturwissenschaftlichen, theologischen oder philosophischen Bahnen bewegte, sondern, was er gar nicht mochte, eher in metaphysische oder sogar esoterische Kategorien abglitt.

Andererseits beobachtete er aufmerksam sowohl Mimik als auch Gestik seines Gegenübers, spürte, dass Antonio überzeugt war, von dem, was er erzählte. Es stand für ihn außer Frage, dass sein Gesprächspartner ihm nichts vorspielte.

Er fragte sich, was dieser Kirchenmann wusste, was er gesehen hatte? Gleichsam machte es ihn neugierig, hinter die Fassade dieses hohen Geistlichen blicken zu können!

„Sie haben recht, Antonio“, gab er offen zu, gleichzeitig fühlte er sich ertappt, „ich weiß nicht, was ich von ihren Erklärungen halten soll.

Ich muss zugeben, mir kam der Gedanke, sie nicht für ganz voll zu nehmen, ungeachtet ihrer bedeutenden Stellung im Vatikan. Allerdings kann ich das geheimnisvolle Schriftstück nicht ignorieren, auf dem völlig irrational mein Name, meine geheime Anschrift, Telefonnummer und Email-Adresse stehen.

Das passt ebenso wenig in mein Weltbild, wie ihre mutmaßlich weit hergeholten Ansichten zu – wie nannten sie es? – der Dunklen Seite der Welt. Ungeachtet dessen befinde ich mich an Bord dieses Luxusflugzeugs in Begleitung eines angenehmen, sympathischen Gastgebers.

Also höre ich mir als Historiker zunächst einmal unvoreingenommen an, was sie mir sagen möchten. Ich bin prinzipiell offen für ihre Argumente.

Ich muss sie aber dennoch warnen. Bevor ich meine Sichtweise auf historische beziehungsweise geschichtliche Fakten ändere, bedarf es mehr als einer netten Geschichte von ihnen.

Was ich brauche, sind unumstößliche Beweise.“

„Okay“, ergriff Antonio die Initiative, der merkte, dass er seine Behauptungen belegen musste, „zu ihrer Aufhellung sollte ich sie nun zuerst über die Herkunft des orakelhaften Schriftstücks informieren.

Zunächst muss ich klarstellen, nein, ich versichere ihnen, dass wir nicht gewusst haben, dass ihre persönlichen Daten auf dem Blatt geheim waren. Das Dokument selbst fanden Archäologen in einer der besagten Höhlen von Qumran bereits 1947, nur leicht verdeckt, bei den oberen Schriftrollen liegend.

Es schien, als sollte es bewusst gefunden werden. Im Unterschied zu den übrigen Schriftrollen war es gut erhalten, zumal es in einer verschweißten Klarsichthülle steckte.

Die Irritation der Forscher war groß, schließlich gab es, das war selbstredend allen Historikern klar, vor einigen tausend Jahren noch keinen Kunststoff. Der Zufall wollte es, dass ein Pater, der in der Nähe Qumrans eine kleine Missionsstation führte, nicht ganz legal eben dieses, überhaupt nicht zu den übrigen Funden passende Artefakt, an sich nahm, um es bei nächster Gelegenheit an den Vatikan weiterzuleiteten.

Während der nachfolgenden Forschung in den 50er-Jahren, konnten unsere Wissenschaftler weder mit den Symbolen etwas anfangen, noch mit der Mobilfunknummer, geschweige denn der Email-Adresse. Einige Experten vermuteten, einem Scherz zum Opfer gefallen zu sein, wofür die Klarsichthülle und die außergewöhnlich gute Erhaltung sprachen.

Prinzipiell sah das Schreiben fast wie neu aus, maximal einige Jahre alt. Aber da gab es noch etwas anderes, was seltsam war, weshalb man einen Schabernack ausschloss!

Letztendlich wurde der seltsame Fund archiviert und geriet zunächst in Vergessenheit, bis ich es Anfang der 90er-Jahre beim Stöbern in unserer Artefaktesammlung zufällig in meinen Händen hielt. Ich staunte nicht schlecht über die Umstände der Entdeckung.

Neugierig darauf, die Geheimnisse zu entschlüsseln, fing ich an, mir Gedanken zu machen. Weil meine Mitarbeiter und ich die Schrifttypen zwar teilweise enträtseln konnten, die Übersetzung aber keinen Sinn ergab, beschlossen wir, es unter Termin zu legen und einmal im Jahr testweise die Telefonnummer anzurufen sowie die Adresse anzuschreiben.

Spannend wurde es für uns, als man das Internet erfand, als Mobiltelefone in Umlauf kamen. Nach und nach schlussfolgerten wir, so verrückt das auch klingt, dass die persönlichen Daten eines Peter Meyers sich womöglich auf die Zukunft bezogen, dass diese erst dort, in einigen oder in vielen Jahren, eine Bedeutung bekommen sollten.

Wie ich schon erwähnte, konnten wir uns nicht einmal vorstellen, wann das sein würde. Bis gestern!

Zuvor kam ein Brief, welchen wir vor 6 Wochen verschickten, wie jährlich nicht anders gewohnt, zurück. Versehen war dieser mit dem üblichen Vermerk ’Empfänger unbekannt’.

Vergleichbar der Jahre zuvor, versuchten wir daraufhin eine Email-Nachricht abzusetzen, welche zu unserer zunächst sprachlosen Verwunderung, ihr Ziel erreichte. Das Telefonat für dieses Jahr hatten wir noch nicht geführt.

Es wurde spannend. Wir fingen an, dem Augenblick des Anrufs entgegen zu fiebern.

Bisher meldete sich, sofern die Nummer zum jeweiligen Zeitpunkt des Versuchs vergeben war, nie ein Mister Meyers. Ich weiß noch, dass Tamara Rosalia diesmal ganz aufgeregt war, denn sie wusste, heute würde sie vielleicht den geheimnisvollen Peter sprechen.

So kam es zu dem Telefongespräch, der Einladung an sie, später zu unserem Treffen. Ich gab von den USA aus telefonisch die entsprechenden Anweisungen.

Sie können sich aber sicher vorstellen, dass auch ich ganz aufgewühlt bin, ob der Dinge, die jetzt, nach so vielen Jahren, endlich ins Rollen kommen.“

Peter bat um eine kurze Unterbrechung, holte Antonio und sich einen Kaffee. Neben dem Kaffeeautomaten lagen leckere Kuchenstückchen, auf die beide Appetit bekamen, so dass aus der Pause letztlich ein ausgedehntes Frühstück wurde.

Auch der Pilot gesellte sich abwechselnd mit dem Copilot zu ihnen. Peter merkte erst beim Frühstück, wie hungrig er war, weshalb er kräftig zulangte.

Der Professor sprach nicht viel, während sie aßen, genoss still seinen Kaffee. Er dachte über Vieles nach.

Es war ihm weiterhin unbegreiflich, welche logische Ordnung in der Geschichte, die Antonio ihm offenbarte, liegen sollte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Antonio längst mehr wusste, als er ihm gegenüber zugab.

Gedanken und Metaphern spukten in seinem Kopf, die ihm als Wissenschaftler noch nie in den Sinn gekommen waren oder die er bisher beharrlich als unseriös abgetan hatte. Trotzdem tat die Erholung während der Unterbrechung genauso gut wie die Morgenvesper.

Aber da war noch etwas! Von Antonio sprang etwas auf ihn über, das ihm sagte, dass er mit dessen Hilfe Erkenntnisse und Einblicke gewinnen konnte, die seine rationale, rein wissenschaftliche Vorstellung von der Welt radikal verändern würden.

Er fühlte sich eigenartigerweise bereit dafür, verborgene Realitäten des mit dem menschlichen Verstand noch nicht Erklärbaren zu entdecken sowie bisher unbenutzte Wege zum Erreichen neuer Erkenntnisse zu gehen. Er wollte sich dem vorbehaltlos öffnen.

Nachdem auch der zweite Pilot gestärkt ins Cockpit zurückgekehrt war, nahmen Antonio und Peter wieder gemütlich auf ihren Sesseln Platz.

„Das Schriftstück haben sie nicht zufällig hier, Antonio?“, stieg Peter sofort übergangslos in die Materie wieder ein.

„Nein, Peter, sie werden sicher verstehen, dass wir das Dokument gut geschützt im Vatikan verwahren. Ich muss sie daher um Geduld bitten.

Allerdings verspreche ich ihnen, dass sie der erste Außenstehende sein werden, dem wir die Urschrift zeigen werden. Erwähnte ich, dass damals in der Höhle noch etwas anderes entdeckt wurde?“

„Eine Ihrer Bemerkungen ließ mich vorhin schon aufhorchen. Sie sprachen von einer weiteren Merkwürdigkeit, auf die sie jedoch nicht näher eingingen.“

„Ah ja, ich vergaß. Man fand in selbiger Höhle ein Skelett, das dort, nach anerkannter Meinung der Mediziner, wegen dessen guter Erhaltung erst einige Jahre gelegen haben konnte.

Man vermutete anfänglich Konservierung, vergleichbar ägyptischer Mumien, musste jedoch bei der Messung des radioaktiven Zerfalls des Kohlenstoffisotops C-14 feststellen, dass es noch keinen messbaren Abbau gab. Daraus folgerte man, dass die Knochen weniger als 300 Jahre alt waren, das Mindestalter, welches mit dieser wissenschaftlichen Messung bestimmt werden konnte.

Beachten sie dabei den glücklichen Zufall, dass die Radiokohlenstoffdatierung, als neuartige Altersbestimmungsmethode, von Willard Frank Libby erst ein Jahr zuvor, also 1946, erforscht worden war. Daraufhin beriefen sich die Akademiker auf die Schätzungen der Ärzte, wonach das Alter augenscheinlich mit etwa fünf Jahren angenommen wurde.

Die Identität der Leiche konnte nie nachgewiesen werden. Weitaus kurioser war gleichsam das Papier an sich, nicht nur, weil es so gut erhalten war.

Unsere Chemiker untersuchten, wie damals üblich, Wasserzeichen, Schriftmerkmale, Tinte, die spezielle Papierart sowie die chemisch-technische Zusammensetzung der Farben. Die damaligen Studien haben wir in den 90er-Jahren mit moderneren Prüfverfahren wiederholt, kamen aber zu dem gleichen Ergebnis.

Sämtliche Substanzen, aus denen der Kunststoff wie auch die Schriftfarbe bestanden, wurden 1947 oder davor industriell nicht verwendet. Ich muss ergänzen - noch nicht verwendet.

Erst in den Jahrzehnten danach, entwickelte man beispielweise Klarsichthüllen in der vorliegenden Form. Peter, es fiel uns nicht leicht, aber für uns gab es nur einen ungeheuerlichen Rückschluss, den zu akzeptieren an unserem Weltbild rüttelte.

Das Dokument samt Umhüllung musste aus der Zukunft kommen und lag noch nicht allzu lange dort!“

Peter wollte nicht glauben, was er da hörte.

„Wie kann etwas aus der Zukunft“, fragte er intuitiv, „1947 gefunden worden sein?

Mal abgesehen davon, dass Zeitreisen, soweit ich das beurteilen kann, nach herrschender Lehrmeinung von Physikerkapazitäten wie Einstein, Heisenberg oder Hawking reine Theorie und für den Menschen, gemessen an dem Stand der jetzigen Forschung, in der Praxis nicht umsetzbar sind.“

Leider kam er nicht mehr dazu, seine skeptischen Gedanken zu Ende zu äußern, weil der Kapitän eintrat, um ihnen mitzuteilen, sie würden gleich in New York zum Auftanken zwischenlanden, ferner, was Peter verwunderte, zwei Gäste aufnehmen.

„Peter, sie werden gleich eine doppelte Überraschung erleben“, freute sich Antonio, „bis dahin gehe ich mich erst mal frisch machen.“

Peter schloss sich Antonio an, zumal ihnen bis zur Landung genug Zeit blieb. Seine Neugierde darauf, was oder wer ihn erwartete, wuchs mit jeder verstreichenden Minute.

Zehn Minuten später stand der Jet auf festem Boden, wieder auf einem für besondere Passagiere vorbehaltenen Areal. Sie warteten im Küchenteil, um die Eintretenden zu empfangen.

Kaum war die Tür geöffnet, trafen die Besucher nacheinander ein.

„Sei gegrüßt, Antonio.“

Diese Worte kaum ausgesprochen, umarmte ihn der Eintretende kurz. Mit seinen halblangen, schwarzen Haaren sowie seiner muskulös männlichen Statur strahlte er einen würdevollen Charakter aus, was die priesterhafte Kleidung unterstrich.

Im Unterschied zu Antonio fehlte allerdings das Kruzifix. Auffällig war neben seinem roten, feingewebten Umhang ein länglicher Koffer, der schwer zu sein schien.

Peters Blick fixierte derweil hingegen eine ganz andere Person, während ein breites Grinsen sein Gesicht erfüllte. Mit schulterlangen, blonden Haaren, dem großen, bronzefarbenen Blütenstern, der unübersehbar auf der Schulter ihrer blauen Uniform glänzte, die wiederum ihre Weiblichkeit angenehm erstrahlen ließ, stand sie da, ebenfalls lächelnd.

Er hätte sie, aufgrund ihres dezenten Parfüms, welches er so gerne roch, welches sie frühlingsduftend, blütengleich umschmeichelte, selbst blind erkannt. Voller Freude rief er aus:

„Sue, was tust du hier?“

Ohne auf Antonio oder dessen Bekannten zu achten, zwängte er sich zu Susan durch, nahm sie herzlich in den Arm.

„Peter“, begann Antonio die Hintergründe des Zusammentreffens zu beleuchten, „Major Stewart muss ich ihnen, wie ich sehe, wohl nicht mehr vorstellen.

Seine Eminenz, Kardinal Richemont, führte noch am frühen Morgen amerikanischer Zeit, ein Telefonat mit den Verantwortlichen des Pentagons. Major Stewart hatte davor ihren Vorgesetzten von der Email, außerdem von dem Inhalt ihrer Nachricht auf Band, Bericht erstattet.

Das Pentagon wie auch der Kardinal kamen überein, dem Major den Befehl zu geben, sie während ihres Aufenthalts in Rom als Assistenz zu unterstützen.“

„Mir blieb zwar nicht viel Zeit“, erklärte Susan gut gelaunt, „jedoch konnte ich kurzfristig als Copilotin in einem Kampfjet, der routinemäßig zur Air-Base nahe New York flog, einsteigen.

So konnte ich rechtzeitig hier sein. Ich bin sehr gespannt, wozu ich abkommandiert wurde.“

„Alles zu seiner Zeit“, bremste Antonio die Euphorie etwas herunter.

Zunächst sollte ich ihnen beiden unbedingt einen speziellen Freund vorstellen. Wir lernten uns vor einigen Wochen kennen.

Von ihm kam damals der ermutigende Hinweis, den Kontakt zu Peter Meyers herzustellen. Er meinte, es hätte sich etwas verändert.

Ebenso sei eine gewisse Major Susan Stewart von der U.S. Army von Bedeutung. Wie sich herausstellte, sollte er Recht behalten.

Dank ihm waren wir in der Lage, die Kommunikation zum ersten Mal aufzubauen sowie dieses Treffen zielgerichtet zu arrangieren. Ich denke nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass dies eine schicksalshafte Zusammenkunft ist.

Major Stewart, Professor, dies ist Michael - Erzengel Michael!“

Die Sodom-Prophezeiung

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