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Kapitel 5 – Tamara
ОглавлениеRom, 25. Dezember, 22:40 Uhr
’Gottseidank’, dachte Tamara Rosalia erleichtert.
Oben auf dem Drucker in ihrem sauber aufgeräumten Büro lagen die vergessenen Unterlagen. Es handelte sich um einen dicken Stapel Kopien aus diversen Fachbüchern sowie um einige handbeschriebene Seiten mit spontanen Ideen oder Schlussfolgerungen, deren informellen Wertgehalt sie für ihre Doktorarbeit überprüfen musste.
Sie hatte schon befürchtet, diese woanders liegen gelassen zu haben.
’So kann ich wenigstens die Zeit von Weihnachten bis zum Jahreswechsel nutzen, um meine Dissertation weiterzuschreiben.’
Ein Anflug von Sarkasmus trieb ein verschmitztes Lächeln auf ihr Gesicht.
’Außerdem’, kombinierte sie unbeschwert weiter, ’wird mir während der freien Tage dann wenigstens nicht langweilig und die Decke fällt mir auch nicht auf den Kopf
Wer weiß, vielleicht hält Michael ja sein Wort und hilft mir dabei - auf die ein oder andere Weise!’
Ihr Lächeln verstärkte sich erwartungsfroh, ihre zarten Lippen öffneten sich ein wenig. Sie erinnerte sich, wie Michael vor Freude strahlte, nachdem er den Titel ihrer Doktorarbeit - MYSTIK UND MYSTIZISMUS ALS ERKLÄRUNGSVARIANTE HISTORISCHER EREIGNISSE - gelesen hatte.
Er schien sich hierbei gut auskennen. Sie wusste nicht warum, fühlte sich jedoch auf geheimnisvolle Weise zu diesem Mann hingezogen, der eine verborgene, ja verbotene Leidenschaft in ihr weckte.
Der deutlich größere Altersunterschied störte sie nicht. Empört über sich selbst, schüttelte sie anschließend ihren Kopf, schließlich handelte es sich um einen Pater, eine aufgrund ihrer Erziehung, ihrer Herkunft ganz und gar unmögliche Vorstellung.
’Obwohl, was man so in letzter Zeit über Geistliche hört!’, spotteten unanständige Stimmen in ihr, die sie eine zwiespältige, gar nicht unangenehme Verruchtheit spüren ließen.
Sie schüttelte sich erneut. Ihre pikante Fantasie bescherte ihr, als gläubige Katholikin, enorme Gewissenskonflikte.
’Warum habe ich eigentlich die Notizen hier vergessen?’, konzentrierte sie sich zur Ablenkung gedanklich wieder auf die vor ihr liegenden Aufgaben.
’Ach so, der Anruf bei Professor Meyers, heute Mittag. Mein Gott, war ich aufgeregt.’
Sie nahm ihr selbsterstelltes Lehrmaterial, packte es in ihren kleinen Rucksack, griff ihre schwarz glänzende Handtasche und löschte das Licht. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Monsignore Antonio, hatte sie ständigen Zugang zu den Arbeitsbereichen in der Wissenschaftsakademie sowie den Bibliotheken und Museen des Vatikans, sogar zu dieser Tageszeit.
Selbst für die Geheimarchive besaß sie eine Berechtigung. Freilich musste sie hierfür eine besondere Schweigeerklärung unterschreiben, die empfindliche Strafen nach sich zog, würde sie gegen die strengen Bestimmungen verstoßen.
Tamara wohnte nicht weit entfernt - in der ’Via Angelo Emo’ -, damit auf Sichtweite zum westlichen Teil des Stadtstaates. Dennoch musste sie bis zu 25 Minuten Fußweg für die Strecke vom Dienstzimmer bis in ihre kleine Mietwohnung einkalkulieren.
Allein für die Straßen innerhalb der römischen Enklave benötigte sie rund 10 Minuten. Dieser Weg führte sie an der selten genutzten, größtenteils verwaisten Bahnstation vorbei, die, was viele nicht vermuteten, der vatikanische Hauptbahnhof war.
Danach lief sie, außerhalb der Stadtmauern, regelmäßig die ’Viale Vaticano’ in westlicher Richtung, erreichte den vatikanischen Hubschrauberlandeplatz und weitere 10 Minuten später ihr kleines Mietappartement im vierten Stock eines großen Mehrfamilienhauses. Das Wachhäuschen der Schweizergarde, welches unmittelbar nach dem Bahngebäude kam, konnte sie heute passieren, ohne ihren Dienstausweis vorzuzeigen.
Tamara kannte die diensthabenden Gardisten - nach dem Reglement allesamt ledig und nicht älter als 30 Jahre - von kleineren Plaudereien. Sie passte andererseits mit ihren 25 Jahren sowie ihrem hübschen Aussehen gut in das Beuteschema der adretten Elitesoldaten.
Zwar kleidete sie sich dem Umfeld des Vatikans angemessen dezent, schminkte sich kaum, trotzdem kamen ihre langen, schlanken Beine unter der regendichten Winterjacke, die mittellangen, dunkelbraunen Haare, aber auch ihr aufreizendes Gesicht gut zur Geltung. Die Hellebardiere, wie die Soldaten wegen ihrer im Dienst mitgeführten mittelalterlichen Hellebarde sowie dem Schwert auch genannt wurden, trugen, wie üblich in der Nacht, ihre blaue Exerzieruniform mit Umhang und Barett.
Tamara war einer ernsthaften Freundschaft mit einem dieser attraktiven, großgewachsenen Männer nicht abgeneigt. Angst jedenfalls verspürte sie keine, solange sie sich in der Nähe der höflichen Wachen befand.
Von den Übungstrainings des Korps wusste sie, dass nicht nur die scharfen Hieb- und Stichwaffen eine wirkungsvolle Verteidigungskraft besaßen, sondern dass die kleinste Armee der Welt - es waren nur 110 Mann – selbstverständlich ebenfalls über moderne Bewaffnung verfügte. Sie waren im Kampf meisterhaft ausgebildet, beherrschten ihr Handwerk mit tödlicher Präzision und ließen keinen Zweifel daran, ihr Können nötigenfalls einzusetzen.
In ihrer Vereidigung schworen sie, den Heiligen Vater zu beschützen, wenn es sein musste, ihn sogar mit ihrem Leben zu verteidigen. Ehre und katholischer Glaube waren seit jeher die Triebfedern ihrer freiwilligen Verpflichtung - falls notwendig, bis in den Tod.
Tamara freute sich nun auf den morgigen freien Tag, das lange Ausschlafen, obwohl sie vorhatte, sich größtenteils an ihre Studienunterlagen zu setzen. Spannende Abwechslung verhieß allerdings das bevorstehende Treffen mit Professor Meyers und Major Stewart, dessen Termin sich kurzfristig, nach deren Landung in Rom, ergeben würde.
Mit einem „Schönen Abend“ wie auch „Frohe Weihnachten“ verließ sie den Wachbereich gegen 23:00 Uhr, um danach zügig den gewohnten Weg in Richtung ihrer Wohnung zu laufen. Erstaunlicherweise war es in dieser Nacht für die Ewige Stadt ungewohnt still, was an den Feiertagen liegen musste.
Auf der Straße war kein Auto mehr unterwegs, nur aus wenigen Fenstern drang noch Licht. Außer ihr war niemand zu sehen.
Allein das Hallen ihrer eigenen Schritte auf dem Asphalt war das einzige, sie begleitende Geräusch. Eigentlich wollte sie das Christfest bei ihrer Familie in der Lombardei verbringen, entschloss sich dann trotz allem kurzfristig, wegen der Ereignisse, hier zu bleiben, wofür ihre Eltern Verständnis hatten, obwohl ihnen die Enttäuschung und eine gewisse Traurigkeit anzumerken war.
Es war in der Tat verrückt! Die Aufgeregtheit um das geheimnisvolle Dokument, der Anruf bei Professor Meyers wie auch die Anwesenheit Bruder Michaels, von dem sie gerne mehr wüsste, brachten gewaltig ihre Feiertagsplanung durcheinander.
Hinzu kam das komische Verhalten von Monsignore Antonio, ihrem mehr väterlichen als priesterlichen Gönner, der sie, was sonst nicht seine Art war, über den attraktiven Pater mit der erotischen Ausstrahlung im Unklaren ließ, obschon dieser bereits vor einigen Wochen ihr Team bereicherte und er ansonsten mit ihr über alle dienstlichen Dinge redete. In Archäologie erwies sich Bruder Michael jedenfalls als ein ausgesprochener Gelehrter.
Seine Kenntnisse würden auf jeden Fall ihre Doktorarbeit voranbringen. Zudem sagte ihr Weitblick, dass die beiden viel mehr über die aktuellen Vorgänge im Zusammenhang mit dem Pergament wussten.
’Warum nur beziehen sie mich nicht mit ein?’, spukte es Tamara durch den Kopf, die gleichwohl nicht mehr dazu kam, ihre Überlegungen weiterzuspinnen.
Ohne dass sie eine Annäherung bemerkt hätte, drückte, wie aus dem Nichts kommend, eine große, fleischige Hand kraftvoll, von hinten um ihre Schulter greifend, auf ihren Mund, während eine zweite Hand sie ebenso stark an der linken Schulter packte und zur Vatikanmauer zerrte. Sie versuchte zu schreien, doch kein einziger Ton konnte ihren dicht verschlossenen Lippen entrinnen.
An der Steinwand angekommen, wurde sie gewaltsam, mit dem Gesicht nach vorne, grob an das Mauerwerk gedrückt.
„Wenn du versuchst, dich umzudrehen, bist du tot“, drohte eine unbarmherzige Männerstimme, „und sei ja still, sonst steche ich dich ab wie ein Schwein, billige Dreckschlampe“.
Sie gab keinen Mucks von sich, konnte anderenfalls auch gar nicht antworten, so wie er sie hielt. Ihr Herz schlug fühlbar bis zum Hals, pochte unangenehm hämmernd hinauf bis in die Schläfen, während sie tief verängstigt versuchte, hektisch durch die Nase hörbar Luft zu holen, hyperventilierend zu atmen, um ihrer Erstickungsangst entgegenzuwirken.
Ihr Puls beschleunigte sich, fing an zu rasen, Schwindel kam auf, ihre Beine drohten wegzuknicken. Tamara befürchtete das Schlimmste.
Schlagartig wurde ihr klar, dass niemand zu Hilfe käme, wenn der Verbrecher sie jetzt vergewaltigen würde. Gegen seine Bärenkraft konnte sie nichts ausrichten.
Zeitgleich spürte sie seinen unangenehmen Atem in ihrem Nacken, roch seinen animalischen Schweiß. Nicht mehr lange und sie würde hilflos zusammensacken, woraufhin er umso leichter über sie herfallen könnte.
„Da hast du ja einen schönen Fang gemacht - junges, attraktives Frischfleisch“, kam plötzlich von der linken Seite eine mitleidlose Stimme, welche hämisch keinen Zweifel daran ließ, dass der Sprecher sich stark fühlte, insbesondere angesichts seines wehrlosen, weiblichen Opfers.
Sie schaffte es, mit ihren Augen nach links zu schielen und erkannte einen hageren Mann, der eine eisige Gefühlskälte ausstrahlte.
’Ein Psychopath - oh Gott, nein’, schoss es ihr durch den Kopf.
„Machen wir es gleich hier oder vergnügen wir uns mit ihr in unserem Keller?“, fuhr dieser hemmungslos fort.
„Ach komm, nimm die Hure einfach mit! Hey, mein Schatz, das wird dir Spaß machen, du wirst mehr davon wollen!“
Tamara war steif vor Angst. Die perverse Abartigkeit in der Stimme des bleichen Riesen, das zu erwartende Grauen in einem dunklen, schmutzigen Kellerraum sowie die Befürchtung, keine Hilfe zu bekommen, weil sie niemand hören würde, wenn sie schrie, verstärkte dies noch.
Danach ging alles sehr schnell. Unvermittelt, noch bevor sie wusste was geschah, wurde die auf ihrer Schulter liegende Pranke förmlich weggefegt, sie selbst, mitgerissen durch den heftigen Schwung, umgedreht, was zur Folge hatte, dass die widerwärtige Hand auf ihrem Mund ebenfalls loslassen musste.
Mit einem lauten Schrei wollte sie sofort auf sich aufmerksam machen, brachte aber lediglich ein unverständliches, heißeres Krächzen heraus. Was sie sah, raubte ihr vor neuerlicher Überraschung den Atem, selbst ihr Herz schien kurzzeitig auszusetzen.
Vor ihr schwebte ein dunkel gekleideter Mann einen halben Meter über dem Boden, zwei große schwarze Flügel schwingend. Auf diese Weise war er damit beschäftigt, den Peiniger, welcher sie hinterrücks angegriffen hatte, mit einer Hand festzuhalten.
Sie wusste nicht einmal, was sie denken sollte. Ein schrecklicher Verdacht drängte sich ihr auf:
’Bin ich tot? Ist dies der vielbeschriebene, geheimnisvolle Übergang in den Himmel?’
Kaum dazu fähig, dem hurtigen Ablauf des Geschehens zu folgen, sah sie, wie der sie festhaltende Unhold, dessen bronzefarbene Glatze ihr erst jetzt gewahr wurde, in hohem Bogen an den Straßenrand flog, sich mit einem Schmerzensschrei abrollte und bemühte, das Weite zu suchen. Der zwei-Meter-Mann blickte verdutzt, spurtete los, buchstäblich seine Beine in die Hände nehmend.
Die Gegenwart, das plötzliche, offenkundig unerwartete Auftauchen dieser dritten Person, welcher für die Verbrecher dem Anschein nach kein Unbekannter zu sein schien, jagte jenen eine Heidenangst ein. Tamara fragte sich, ob sie jetzt vom Regen in die Traufe kam, ob sie jetzt noch Schrecklicheres erwartete.
„Ja, verschwindet, ihr elenden, abartigen Schwuchteln“, schrie ihr Retter den Flüchtenden nach, „die Eier sollte man euch abschneiden, falls ihr welche habt.
Wenn ich euch erwische, werde ich sie euch zu fressen geben, bevor ich eure widerlichen Köpfe abreiße. Eure verblödete Mutter hat euch wohl zu heiß gebadet, ihr degenerierten Scheißkerle.“
Nachdem die Angreifer verschwunden waren, wandte er sich unverzüglich an Tamara. Er lief jetzt auf dem Boden, klappte wie selbstverständlich seine Flügel ein, die ganz in seinem Rücken verschwanden, als wären sie nie dagewesen, als seien sie bestenfalls der Wunschvorstellung einer zu tiefst geschockten Frau entsprungen.
Tamara konnte immer noch kein Wort sagen, wobei sie beiläufig zu erkennen meinte, dass es sich nicht um zwei, sondern um mehrere Flügel gehandelt hatte. Aber, das war für sie jetzt nebensächlich.
„Geht es dir gut?“, sprach er sie mit einer sanften, beruhigend wirkenden Stimme an.
„Ich bin wohl im richtigen Augenblick gekommen.“
Tamara schwankte, drohte umzufallen, jedoch, dies erkennend, kam der Fremde näher, hielt sie stützend am Arm fest. Sie fühlte seine Stärke.
„Darf ich dich nach Hause bringen oder kann ich dir sonst irgendwie helfen?“
Tamara antwortete, ihre Stimme wiederfindend, zitternd, noch völlig außer Atem, als wäre sie einen Marathon gelaufen, während ihr Puls langsam nach unten ging:
„Danke, vielen … Dank.“
„Ich dachte“, stammelte sie schnaufend weiter, „ähm, ich meine…, woher…, die Flügel…, huch, ich weiß nicht wie ich ihnen danken soll?“
„Nun, du könntest damit anfangen, mir deinen Namen zu sagen.“
„Tamara, Tamara Rosalia. Waren das Flügel?
Sind sie…, bist du vielleicht ein Engel - mein Gott, welch einen Blödsinn rede ich da? Die Nerven…!“
Kopfschüttelnd fing sie an, verlegen zu kichern. Auch ihr Beschützer lachte leise auf.
„Du darfst es niemandem verraten! Ich bin genau genommen dein Schutzengel und jetzt bringe ich dich nach Hause.“
„Nein, ähm, nein, in meiner kleinen Wohnung hätte ich alleine bestimmt Angst, nach diesem Erlebnis, nein, auf keinen Fall!“, wehrte sich Tamara verzweifelt.
Erstaunlicherweise war sie wieder in der Lage, selbstbewusst die Initiative zurückzugewinnen. In ihr Zuhause wollte sie unter keinen Umständen.
Was sie die ganze Zeit über von Engeln gestammelt hatte, kam ihr sogleich ziemlich peinlich vor, zumal sie dachte, dass sie sich die Flügel, als Schutzreaktion ihres Gehirns in einer extremen Notsituation, womöglich nur eingebildet hatte.
„Möchtest du mir stattdessen nicht noch etwas Gesellschaft leisten“, kam ihr eine spontane Idee, „bis ich mich wieder beruhigt habe?
Nicht weit von hier gibt es ein Schnellrestaurant, welches um diese Zeit noch offen hat. Da könnten wir uns eine Weile gemütlich hinsetzen.
Wie heißt du eigentlich?“
„Nenne mich Luc, einfach Luc und du bezahlst, ich habe nämlich keine Silberlinge einstecken“, antwortete er etwas eigentümlich.
Die seltsame Wortwahl ihres Helden registrierte sie allenfalls am Rande, zu geschockt war sie noch von dem Überfall.
„Schon gut, schon gut, Luc“, ging sie auf seinen Wunsch ein, „das Lokal ist nur 15 Gehminuten von hier entfernt.
Darf ich mich bei dir unterhaken, ich habe immer noch ganz weiche Knie?“
„Oh, ich bitte darum“, verhielt sich Luc ganz gentlemanlike.
Tamara, die bemüht war, wieder zu lächeln, hielt sich an seinem Arm fest, während beide Richtung Fast-Food-Gaststätte schlenderten, dabei zunächst vereinbarten, erst am nächsten Morgen die Polizei zu informieren und danach belanglos weiterredeten. Trotz seiner dunklen Kleidung, die an einen Geistlichen erinnerte, von denen es in Rom nicht gerade Wenige gab, hatte sie das Gefühl, einerseits vorsichtig sein zu müssen, schließlich konnte Kleidung täuschen, andererseits zu ihm hingezogen zu sein.
Alles in allem erinnerte es sie an ihr Empfinden zu Bruder Michael, den sie auch anziehend fand, was bei Luc andererseits aber konkret daran liegen konnte, dass er sie aus einem lebensbedrohlichen Dilemma befreite und damit ihr ganz persönlicher Held war.
„Was gibt es dort zu essen?“, fragte Luc spontan.
„Na, Fast-Food eben - Hamburger, Coke und dergleichen.“
„Was sind das, Hamburger und Coke?“, fragte er irritiert weiter.
Tamara blickte ihn erstaunt von der Seite aus an.
„Das meinst du jetzt nicht im Ernst? Hast du noch nie Fast-Food gegessen?
Du nimmst mich doch auf den Arm?“
„Nein“, blieb er völlig ernst, „das würde ich bei einem hübschen Weib, wie dir, nie tun.
Und nach langer Zeit gelüstet es mich sehr, wieder menschliche Nahrung zu genießen.“
„Du redest so lustig“, kicherte Tamara los.
Nach weiteren Minuten schnellen Gehens, wobei sie sich in seiner Nähe sehr sicher fühlte, erreichten sie den zu dieser Zeit nur noch mäßig besuchten Schnellimbiss. Tamara orderte zwei große Spezialburger, eine riesige Portion Pommes mit Ketchup sowie zwei Becher mit eisgekühlter Coke samt Röhrchen.
Luc nahm das Tablett, Tamara bezahlte und beide setzten sich an einen freien Tisch. Schon nach dem ersten Bissen in den Hamburger hellte sich dessen Gesicht anhand der unerwarteten Gaumenfreuden auf.
„Wow, ist das gut“, sprach er mit vollem Mund.
Ausgiebig genoss er das Mahl, kaute bedächtig langsam. Auch bei Pommes oder Cola war ihm seine Überraschung, angesichts des angenehmen Geschmacks, anzusehen.
Tamara nahm es zum einen mit viel Humor, wobei sie oft lachen musste, zum anderen mit einer leichten Ungläubigkeit. Sie fragte sich, in welchem Teil der Erde sich ein derart interessanter Kerl versteckt gehalten hatte, beziehungsweise, wo es denn noch keine Hamburger mit Pommes gab?
’Wie ein Priester wirkt er nicht’, zog sie gedanklich eine frauentypische Schlussfolgerung, ’so wie er redet.
Ehering trägt er auch keinen! Wenn das mal kein gutes Omen ist!’
Allmählich schob sie ihr schreckliches Erlebnis beiseite. Nur das Thema Engel spukte beharrlich weiter in ihrem Kopf.
„Du sagtest, du seist mein Schutzengel“, ging sie darauf nochmals ein, nachdem sie gegessen hatten.
„Mir klingen die Worte noch im Ohr. Meintest du das im metaphorischen Sinn, weil du mir helfen konntest?“
„Nein, ganz und gar nicht“, erklärte er im Brustton nüchterner Überzeugung, „geholfen hätte ich dir sowieso, denn ich bin ein Engel!
Allerdings muss ich zugeben, einer, der seit tausenden von Jahren nicht mehr auf der Erde weilte. Wenn du möchtest, beweise ich es, wobei wir dazu in deine Wohnung gehen sollten - ich will ja keine Panik verbreiten.“
Luc lächelte amüsiert, so als hätte er bei der Vorstellung, sich hier zu outen, eine lustige Begebenheit aus der Vergangenheit vor Augen.
„Meinst du, ich könnte auch bei dir übernachten? Ich habe hier sonst niemanden, den ich kenne?“
’Aha, also doch’, dachte Tamara, ’er sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern das mit dem himmlischen Beschützer ist auch seine Masche, zu mir ins Bett zu kommen.
Das wird wohl mein erster One-Night-Stand. Warum eigentlich nicht!’
„Okay, gehen wir jetzt zu mir!“, entschied sie kurzerhand.
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung, hakte sich Tamara wieder unter, diesmal schmiegte sie sich jedoch etwas fester an ihn, was Luc anscheinend gerne zuließ. Nach zehn Minuten erreichten sie die Eingangstür, gingen vier Stockwerke nach oben, wo sie alsbald gemeinsam das kleine Appartement betraten.
Die Wohnküche, welche direkt nach dem kurzen Flur folgte, war gemütlich eingerichtet. Während Luc sich in den einladenden Schwingsessel lungerte, dabei wohlig seufzte, kochte Tamara einen kräftigen Kaffee.
Bereits der Duft des Bohnenaromas ließ Luc jauchzen.
„Das riecht aber gut!“, schwärmte er.
Daraufhin schlürfte er den heißen Kaffee einmal pur, einmal mit Milch, zuletzt mit Milch und Zucker. Jedes Mal schien er einen neuen Genusshöhepunkt, einen weiteren, ungeahnten Gipfel des Glücks zu erleben.
Tamara grinste von einem Ohr bis zum anderen, was ihre gleichmäßigen Zähne voll zur Geltung brachte. Gefühlsmäßig schwebte sie längst wie auf Wolken, war voller Glücksgefühle, hatte sich in ihn verliebt, ohne sich zu fragen, warum sie ihn so überraschend begehrte.
Ihre anwachsende Sehnsucht wurde trotz allem hinausgezögert, zumal Luc wieder ernst wurde. Er griff die Diskussion über Himmelsboten erneut auf.
„Ich denke“, kam er unverzüglich auf den Punkt, „ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.
Die zwei Kerle, welche dir auflauerten, sind zwei üble Schurken. Ich konnte deren Anwesenheit spüren.
Sei dankbar, dass ich so schnell zur Stelle sein konnte, ansonsten wäre dir Schlimmes widerfahren. Zum Glück geschah es auch heute und nicht vor einigen Wochen, sonst hätte ich dir nicht helfen können.
Erst vor Kurzem bin ich aus einer 5000 Jahre dauernden Verbannung zurückgekehrt. Es war meine Strafe, weil ich mich damals gegen SIE stellte.
Indem ich dir heute in der Not beistand, kann ich IHR zeigen, dass meine Freilassung gerechtfertigt war und ich eine zweite Chance verdiene.“
Tamaras Augen wurden groß vor Erstaunen:
„Soll das heißen, du bist über 5000 Jahre alt? Und du willst mir jetzt erzählen, du seist wirklich ein Engel?“
„Eigentlich“, redete Luc weiter, „wollte ich dir nur als Erdenbürger erscheinen, ich meine, ohne Flügel, ohne dieses in der Luft schweben oder den ganzen Hokuspokus, schließlich wollte ich dich nicht erschrecken.
Leider musste ich in deiner Notsituation schnell handeln, weshalb keine Zeit blieb, darauf Rücksicht zu nehmen.“
Er zuckte mit seiner Schulter, machte eine Miene, wie ein Lausejunge.
„Letztendlich konnte ich nicht anders. Ich kann meine Mission unmöglich verleugnen.
Ich bin ein, besonders aber dein unmittelbarer Schutzengel.“
Mit diesen Worten stand er auf, entfaltete, wie aus dem Nichts, in weniger als einer Sekunde seine sechs schwarzen Flügel, die eine funkelnde, zauberhafte Aura umgab. Er war dabei sehr vorsichtig, weil aufgrund deren Größe in dem Zimmer sonst Einiges hätte zu Bruch gehen können.
Tamara war zuerst unfähig, etwas zu äußern, starrte ihn sprachlos mit großen Augen und offen stehendem Mund an, nahm voller Entzücken sein beeindruckendes, kraft- wie machtvolles Aussehen in sich auf. Überwältigt von diesem Moment, fand sie mit verträumtem Blick kaum die richtigen Worte:
„Das ist ja der helle Wahnsinn. Ich habe meinen eigenen Schutzengel.
Wow!“
Sie riss sich von ihrem Sitz los, schaffte es aufzustehen, machte einige Schritte auf ihn zu und berührte seine Federn. Ohne es zu bemerken, sprach sie in ihrer Begeisterung ihre Gedanken flüsternd aus.
„Sie sind ganz weich, zart, flauschig und…, und sie glänzen, dunkel, anthrazit, metallisch - wie ein Turmalin.“
Noch während Tamara bei ihm stand und unablässig seine Schwingen bewunderte, ließ Luc seine Flügel nach einiger Zeit ebenso schnell wieder in die Unsichtbarkeit zusammenfallen, wie er sie hatte entstehen lassen.
„Meine Liebe, glaubst du mir jetzt?“, fragte er eindringlich, dennoch sanft.
Sie nickte, während das bis jetzt unterschwellig vorhandene Misstrauen sich gänzlich in Luft auflöste, jeder Zweifel sich verflüchtigte. Sie ignorierte die gleichfalls existente, ungemütliche Ausstrahlung, verdrängte sie aus ihrem Bewusstsein, in dem einzig ihre Bewunderung Platz fand.
Alle Vorsicht über Bord werfend, beschloss sie, sich diesem Mann bedingungslos hinzugeben. Er hatte sie unter all den Milliarden von Menschen, die die Erde bevölkerten, ausgesucht, sie aus einer lebensbedrohlichen Gefahr gerettet.
Er war ihr Schutzpatron, der Hauptgewinn ihrer persönlichen Glückslotterie. Das würde ihr gewiss niemand glauben, gleichsam, das nahm sie sich vor, würde sie es niemandem erzählen.
Ihr grauenvolles Erlebnis gänzlich vergessend, fühlte sie sich leicht wie ein Vogel, der auf warmer Thermik in Kreisbahnen mühelos nach oben gleitet, war wie von flauschiger Watte umgeben, ihre Stimmung stieg. Während Luc Platz nahm, rückte Tamara zu ihm auf, um ihm ganz nahe zu sein, um sich seiner betörenden Wirkung hinzugeben.
Jeglicher Argwohn war verflogen. Sie himmelte ihn an, wobei ihr Gesicht lachte, ihre Augen strahlten, ihre Seele Feuer und Flamme für ihren außerirdischen Retter war.
„Mein Engel“, hauchte sie ihm sehnsuchtsvoll zu.
Zugleich gab sie dem Kosewort einen ganz anderen Sinn, zumal eine Prise Melancholie in ihrer Stimme mitschwang. Sie konnte noch nicht glauben, welches märchenhafte Schicksal der Zufall für sie bestimmt hatte, gleichsam wollte sie ihn festhalten, um ihn nicht sofort wieder zu verlieren.
Obgleich sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatte, zwang sie ihr blitzgescheiter Verstand in einem letzten Aufbäumen, die Initiative zu ergreifen, die Gesprächsführung an sich zu reißen, die letzte offene Frage zu stellen:
„Wieso wurdest du eigentlich verbannt, was hattest du verbrochen?“
Luc sah sie an und machte ein ernstes Gesicht. Die Erinnerungen schienen unangenehm zu sein.
„Okay, du sollst es erfahren“, gab er der Frage nach, „ich werde dir die ganze Wahrheit erzählen.
Als Schutzengel hatte ich viele tausend Jahre lang die Aufgabe, über die Evolution der Menschen zu wachen, ihre Entwicklung zu begleiten, falls angebracht, bei Gefahren einzugreifen. Unterstützung bekam ich von einer großen Zahl weiterer Himmelswächter.
Wir waren ein gute, schlagkräftige Truppe.“
Luc nickte anerkennend.
„Mit der Zeit blieb es nicht aus, dass ich mich verliebte – ich lebte immerhin als Mensch unter ihnen, sah aus wie sie, fing an, wie sie zu denken, wie sie zu fühlen. Kurz und gut - ich verlor mich als Engel und fand mich als Mensch wieder.
Das konnte man mir sicher nicht verübeln. Sie hieß Samara, eine bildhübsche, ledige junge Frau.
Wir heirateten und bekamen drei Kinder, drei Jungs, lebten glücklich miteinander, bis – ja bis Samara starb. Daran musste ich mich erst gewöhnen.
Die Erfahrung, dass Menschen nur eine kurze Lebenszeit haben, war schmerzhaft. Jedenfalls taten es mir die anderen Himmelsgeschöpfe gleich.
Folglich wuchs, über Jahrhunderte hinweg, eine neue Rasse heran - halb Engel, halb Mensch -, die friedlich mit den übrigen Erdenbürgern zusammenlebte. Mehr noch, die genetische Weiterentwicklung unser Mischlingskinder, durch die Erbanlagen väterlicherseits bedingt, begünstigte einen sprunghaften Fortschritt der sozialen, kulturellen sowie wissenschaftlichen Fähigkeiten der zuvor ziemlich archaischen Gesellschaft.“
„Das klingt so romantisch“, schwärmte Tamara verklärt.
„Die Lebensbedingungen aller haben sich verbessert. Meine Güte, das ist doch keine Straftat, die eine Verbannung nach sich zieht!
Welch ein grausamer Gott ist das, der dies bestraft?“
„Zunächst ist Gott eine Göttin“, klärte er sie auf, „SIE liebt es, den Menschen als weibliches Wesen zu erscheinen.
Frauen waren zu meiner Zeit auf der Erde generell anerkannt, geachtet, sowohl in der Stammespolitik als auch in der Religion. Lediglich die Kriegsführung war weitestgehend dem sogenannten starken Geschlecht vorbehalten.
Die Schöpferin wurde von den religiösen Führern dieser Zeit sogar häufig betont weiblich dargestellt. Nun, zurück zu deiner Frage:
Wäre ich ein Mensch wie meine Gemahlin gewesen, hätte ich kein Verbrechen begangen. Freilich bin ich ein Himmelsbote, der eigenen, himmlischen Gesetzen unterliegt, die jegliche Vereinigung mit Geschöpfen der Erde verbieten.
Unsere illegalen Kinder und damit alle, die einen gottähnlichen Vater hatten, wurden von dem gesetzestreuen Teil der himmlischen Heerscharen als Nephilim bezeichnet. Zunächst durften unsere halbgöttlichen Nachkommen, geduldet von der Allgegenwärtigen, in das Reich der Engel aufsteigen.
Die Erschafferin sah unsere Kinder als einmalige Ausrutscher, als nicht wiederholbare Fehltritte an, akzeptierte es als unabänderlich. Die gelebte Realität sah freilich anders aus.
Die übrigen Himmelsbewohner waren nicht so tolerant, erkannten unseren Nachwuchs zu keinem Zeitpunkt als Gleichwertige an. Nephilim galten als Außenseiter, als Eindringlinge, als Störenfriede, gar als Subjekte, welche die himmlische Ordnung gefährdeten.
Immer waren sie mit dem Makel verachtenswerter Halbgöttlichkeit versehen. Anfänglich nur gemieden, wurden sie schon bald in aller Öffentlichkeit als Bastarde stigmatisiert, die man nach Belieben schikanieren, beschimpfen und diskriminieren durfte.
Später sollten sie, dieser schlimme Zeitpunkt kam nicht lange danach, bereits auf der Erde getötet werden, sobald sie ausfindig gemacht werden konnten. Mehrere Killerkommandos wurden entsandt, um ihre Bluttaten zu vollbringen.
Es waren Trupps gefühlloser Himmelskrieger ohne Erbarmen, an deren Namen ich mich aus Abscheu nicht mehr erinnern möchte. Jene Kreaturen gingen in die Geschichte als Dämonen ein.
Wir wehrten uns gegen sie, so gut es ging, wobei wir anfänglich lediglich unsere Familien beschützten, Haus und Hof verteidigten. Es war reine Notwehr.
Wir kämpften mit dem verzweifelten Mut der Unterlegenen, der uns zu Beginn ungeahnte Stärke verlieh. Der Konflikt schaukelte sich hoch, nahm schließlich beängstigende Ausmaße an, bis der Aufstand das Paradies erreichte.
Die Grundfeste des Himmels erzitterten, was in der Wahrnehmung der Menschen der Antike sich sinngemäß so darstellte: Der Himmel brannte, das Jüngste Gericht brach an, die Nacht ohne Morgen stand bevor, die Vorboten des Harmageddon zeigten sich, die Apokalypse wurde eingeleitet.
Obwohl der Thron der Allwissenden wackelte, das Undenkbare denkbar schien, verloren wir die Schlacht. Es kam zu einem Tribunal, dessen voreingenommene Richter in uns noch vor Beginn der Verhandlung erwiesenermaßen die Schuldigen sahen.
Diesen unfairen Prozess konnten wir nicht gewinnen. Es war kein anderes Urteil vorgesehen, als uns schuldig zu sprechen.
Unsere kollektive Buße war die gemeinsame Verbannung, wobei meine Strafe, weil ich der Anführer war, härter ausfiel, nämlich die Verstoßung in die Einsamkeit. Fortan nannte man uns, gemeinsam mit unseren Kindern, die gefallenen Engel.
Das war vor 5000 Jahren. Erst vor einigen Wochen durfte ich auf euren blauen Planeten zurückkehren.
Meine erneute Aufgabe, meine Bewährung ist es, Gutes zu tun, um wieder Gnade in den Augen meiner Göttin zu finden. Dennoch, das möchte ich betonen, hätte ich dich auch ohne diese mich bindende Verpflichtung aus den Klauen jener Bösewichte gerettet.
Ich bin dein Schutzengel!“
Luc lächelte sie an, während aus seinem Körper – wie schon die ganze Zeit über, seit sie zusammenkamen – in geringer Konzentration aber konstant, eine gefügig machende Mischung aus Pheromonen, Botenstoffen plus anderen organischen Molekülen entströmte. Tamara sog seither den unsichtbaren, aphrodisierenden Cocktail aus der Luft nichtsahnend in sich auf, dessen berauschende Wirkung schleichend doch stetig ihre Sinne umnebelte.
Zugleich steigerte sich ihr Verlangen nach ihm ins Unermessliche. Er beherrschte dieses Ritual meisterhaft, kannte seinen Erfolg bei Frauen, den er solchermaßen gerne manipulierte.
Er hätte es verhindern können, es lag in seiner Macht, jedoch kam ihm dies gerade recht, war die Aussicht, von einer hübschen, jungen Frau begehrt, geliebt, ja vergöttert zu werden, so wie einst in Sodom und Gomorrha, zu verlockend, war auch er gewissermaßen Gefangener seiner eigenen Sucht nach Anerkennung. Außerdem verfolgte er ein Ziel, einen Plan, der notwendigerweise der Hilfe eines ihm ergebenen Menschen bedurfte.
Tamara erhob sich, stellte sich vor ihn, beugte sich herunter und knabberte, ohne auch nur ein Wort zu sagen oder eine Sekunde der Zeit zu verschwenden, an seinem Ohr, um gleich danach an der Seite seines Halses und Nackens zu saugen. Sie bemerkte Lucs leichtes Erzittern, fühlte die feine Gänsehaut, die sich bei ihm bildete.
Was sie in ihrer Erregung nicht wahrnehmen konnte, war das triumphale Grinsen in dessen Gesicht, das teuflische Glitzern in seinen Augen. Nach einer Weile griff sie Luc sanft an ihren beiden Oberarmen und drückte sie leicht zurück.
Hypnotisierend sah er ihr tief in ihre bräunlichen Augen, um unverzüglich danach seine Lippen auf die ihren zu drücken. Tamara wich nicht zurück, sondern erwiderte den Kuss, indem sie ihre Zunge ins Spiel brachte und wie in Zeitlupe einen Weg durch seine Lippen suchen ließ.
Es war wohl der längste, erotischste Kuss ihres Lebens. Das Kribbeln in ihrem Körper schwoll heftig an.
Während sie sich auf seinen Schoß setzte, glitt seine linke Hand unter ihren dünnen schwarzen Pulli, auf dem sich deutlich ihr kleiner, dafür umso fester Busen abzeichnete. Vorsichtig ertastete er den BH, hob ihn leicht an, griff darunter zart an ihre linke Brust, deren Spitze sich fest und steif aufrichtete.
Tamara stöhnte zum ersten Mal auf, immer noch mit genug Klarheit in ihrem Bewusstsein, um zu bemerken, dass die Erotik auch bei ihm nicht folgenlos blieb, sie unter seiner Hose seine Erregung deutlich spüren konnte.
„Lass uns nach nebenan gehen“, forderte sie ihn leise aber bestimmt auf.
Ihn bei der Hand nehmend, zog sie ihn in das angrenzende Schlafzimmer, in dem das breite, einteilige Bett wie eine Offenbarung stand. Obgleich der Raum ohne Beleuchtung war, drang schummriges Licht von den weit unten stehenden Straßenlaternen durch das zweiteilige Fenster herein.
Der diffuse Lichtschein reichte, um eine knisternde Atmosphäre zu schaffen, war aber nur so hell, dass beide ihre Körper schattenhaft erahnen konnten, unaufschiebbare Lust bekamen, diese zu ertasten. Tamara entledigte sich umgehend ihrer Kleidung, musste jedoch feststellen, dass Luc bereits schneller war, wie ein Adonis verlockend nackt vor ihr stand.
Schemenhaft konnte sie seinen verheißungsvoll erregten, gänzlich muskulösen Körper sehen, so dass sie leidenschaftlich schlucken musste. Ihr Herz schlug wieder bis zum Hals, nur diesmal vor Sinnlichkeit, vor ungeduldiger, unbezähmbarer Wollust.
Luc packte sie behutsam, drückte sie zart aber bestimmt mit dem Rücken nach oben auf das Bett. Mehr als willig ließ sie es geschehen.
Ihren Büstenhalter öffnete er mit flinken Fingern – diese Technik beherrschte er, obwohl er in seinem einsamen Kerker eine Ewigkeit gezwungen war, enthaltsam zu leben –, um danach eine Weile betont langsam, mit seinen Fingerspitzen beider Hände, ihren Rücken zu streicheln. Während er danach gemächlich am oberen Rand ihres Tangas entlang glitt, konnte Tamara das Prickeln kaum noch ertragen, stöhnte zugleich etwas lauter auf.
Nun waren ihre sündhaft verlockenden, langen Beine das Objekt seines Verlangens, wobei er mit seinen Fingernägeln in Zeitlupe auf der einen Innenseite des Schenkels sanft hinunter massierte, auf der anderen rauf, was ihr wohlige Schauer bescherte. Nach einigen Minuten – Tamara hatte jedes Zeitgefühl verloren – gab er ihr, mit einem Druck auf ihre linke Taille, zu verstehen, sie solle sich umdrehen.
Nur zu gerne kam sie der eindeutigen, reizvollen Aufforderung nach. Nachdem sie auf dem Rücken lag, beugte er sich über ihren Oberkörper und liebkoste ihren Busen um anschließend mit seiner Zunge Richtung Bauchnabel und weiter bis unter das Gummiband ihres Spitzenhöschens zu gleiten.
Tamara hielt das ungestüme Kitzeln am ganzen Körper nicht mehr aus, weshalb sie versuchte, ihr winziges, letztes Kleidungsteil ganz auszuziehen. Er half ihr, indem er behände zugriff, dabei gekonnt das Dessous über ihre Beine galant nach unten zog.
Wieder beugte er sich über sie, diesmal jedoch auf Höhe ihres Schamhügels, drückte sanft ihre Beine auseinander und verwöhnte sie mit kreisenden Bewegungen seiner Zunge. Damit trieb er Tamara, in einem heißblütigen Akt wilder Ekstase, nach Minuten zu ihrem ersten Orgasmus, der sich bei ihr explosionsartig entlud.
Sekundenlang nahm sie nichts wahr, außer einem Feuerwerk der Gefühle, nichtwissend ob sie dabei schrie oder den Kopf ihres Liebhabers zerkratzte, den sie mit beiden Händen fest an ihre Lenden drückte. Diesem, ihrem Rausch der Sinne, der aufreizend erotischen Bezauberung ihres Verstandes, einer ungekannten, maßlosen Begierde, die sie in himmlische Sphären entrücken ließ, in ein Fantasiereich der Wonne, sollten noch mehrere unbeschreibliche sowie unglaubliche Höhepunkte in dieser Nacht folgen.
Für Luc war dies nur Mittel zum Zweck. Er hatte sein Ziel erreicht. Er erreichte es immer! Gewissermaßen war er der Freier, sie die Hure, die er benutzte.
Doch statt zu zahlen, verband er nüchtern kalkulierend das Nützliche mit dem für beide Angenehmen. Jeder bekam, was er wollte.
Unter seinen Händen wurde Tamara formbar wie Wachs, konnte er eine Marionette, eine unfreiwillige Erfüllungsgehilfin seiner Machenschaften aus ihr erschaffen, geködert mit kurzfristig berauschendem Sex.
***
Einige Wochen zuvor
Mit einem kurzen Aufleuchten entstand es aus dem Nichts. Die ihn umgebende Luft flimmerte hell auf, verdrängte für einen Atemzug das immer gleiche, diffuse Licht, um sogleich wieder in den bläulichen Einheitston überzugehen.
Geblendet schloss er für kurze Zeit automatisch die Augen, ein intensiver Schreck über die unverhoffte, überraschende Abwechslung durchzuckte ihn. Entgegen seiner Befürchtung reagierte sein Verstand umgehend.
Er brauchte Gewissheit, dass ihn weder der Irrsinn, noch ein Spuk narrte. Zur Vergewisserung schloss daher er ein zweites Mal, jetzt bewusst, die Augen, sah erneut hin.
Es gab keinen Zweifel. Isril befand sich vor seinen Füßen!
„Was geschieht hier?“, murmelte Lucifer leise vor sich hin.
Er fragte sich, ob die Zeit wirklich um sein sollte, denn urplötzlich konnte er wieder frei über seinen Geist verfügen, besaß volle Kontrolle über seine Fähigkeiten. 5000 Jahre hatte er darauf gewartet, sein Gefängnis, die Hölle, in welche er gestoßen wurde, seinen persönlichen Ort der Verdammnis verlassen zu können.
Die Apathie, das Vor-Sich-Hindämmern war mit einem Mal verschwunden. Er fühlte die alte Kraft in sich, zugleich hätte er vor überschwänglicher Freude beinahe sentimental losheulen können.
Kurzentschlossen hob er sein Flammenschwert auf, das in einer schwarzen, mit geöltem Fell versehenen Lederscheide steckte, legte den damit verbundenen, dunklen Ledergurt schräg über seine Schulter, um anschließend unverzüglich zu verschwinden. Nichts konnte ihn hier noch halten.
Seine Verbannung, sein einsames, eremitisches Exil war Geschichte. Er materialisierte umgehend auf der Erde, nicht weit von der Stelle entfernt, von welcher er in der Antike in seinen Kerker deportiert worden war.
Geblendet von der ihn überflutenden, lebensfreundlichen Helligkeit musste er seine Augen schließen, legte schützend eine Hand davor. Die Sonne – wie hatte er sie vermisst – schien unbarmherzig, obwohl es erst früh am Morgen war.
Die Gegend um ihn herum flimmerte bereits vor Hitze. Er stand inmitten von Ruinen, woraus er schloss, dass in den Jahrtausenden seiner Abwesenheit an diesem Ort viel passiert sein musste.
Auf einem kleinen, angerosteten Schild stand in arabischer und lateinischer Schrift QUMRAN. Damals, während der Urteilsverkündung, befand er sich lediglich auf einem steinigen Feld.
Die zuvor weithin sichtbaren Städte, Sodom und Gomorrha, waren bereits zerstört gewesen, ihre Bewohner hatten den Tod gefunden. Ihm war klar, dass dies unmöglich die Überreste einer jener bedeutenden Metropolen sein konnte.
Er kombinierte, dass demnach hier seit jener Zeit eine neue Siedlung entstanden und zwischenzeitlich wieder vernichtet worden sein musste. Allerdings, die Umgebung, soweit er blicken konnte, war gleich geblieben.
Es war dieselbe menschenfeindliche Landschaft wie ehedem.
’Genau, wo sind die Menschen?’, dachte er.
Niemand war zu sehen. Er wollte nicht glauben, dass es in 5000 Jahren kein Bevölkerungswachstum, keine evolutionäre Veränderung, keinen Fortschritt gegeben hatte.
Lucifer erinnerte sich trotz der langen Zeit an Michaels Worte. Waren die Erdenbewohner etwa ausgestorben oder aufgestiegen, war die Ruinenstadt um ihn herum das Überbleibsel einer längst verloschenen Zivilisation, kam er im wahrsten Sinne des Wortes zu spät, wie es ihm sein Erzfeind damals prophezeite?
’Menschen, so schwach und zerbrechlich’, ging es ihm durch den Kopf, während seine Erinnerungen ein kleines Lächeln auf seine Mundwinkel zauberten.
Zugegebenermaßen hatte er sie vermisst. Auf ihre Art waren sie ihm ans Herz gewachsen.
Selbstverständlich würde er das nie zugeben, diese, seine Schwäche für die Erdlinge nie gegenüber den Anderen erwähnen. Eigentlich war er der Allmächtigen diesbezüglich gar nicht so unähnlich, was er aber stets von sich weisen würde.
Der gefallene Erzengel unterbrach seine Gedanken, genoss die frische Luft sowie den heißen Wind, der seinen Körper umspielte, labte sich an dem warmen Sand unter seinen Füßen. Es war Zeit für einen Versuch!
Zum ersten Mal seit unendlicher Zeit fühlte er sie, hatte er wieder Kontrolle darüber. Mit einem wohligen Aufschrei aktivierte er seine sechs schwarzen Flügel, richtete sie in voller Pracht auf.
Sie glänzten in der Sonne, schimmerten frisch wie Morgentau. Auf diese Weise brauchte er nur einige Minuten, um zu spüren, was er nicht zu hoffen wagte.
Er empfand, tief in seinem Innern, die Präsenz seiner Familie, seiner ihm tief ergebenen Verbündeten, wohlwissend, dass jene ihn in diesem Moment ebenso bemerkten. Lucifer wurde bewusst, dass ihnen, irgendwann während der vergangenen 5000 Jahre, erfreulicherweise die Flucht aus der Paralleldimension, ihrem dortigen Gefängnis, gelungen sein musste.
Es erfüllte ihn mit Stolz, mit anerkennender Freude, dass sie vollbracht hatten, was ihm nicht glücken wollte. Nebenbei wurde ihm bewusst, dass er außer seinem schmutzigen Lendenschurz nichts weiter an hatte.
Es störte ihn zunächst auch nicht, schließlich konnte er nicht ahnen, welche Kleidung die Erdenwesen, sofern diese noch existierten, heutzutage anzulegen pflegten. In Windeseile reifte ein grober Plan, den er kurzentschlossen umsetzte.
Hierzu hob er, nach einigen Minuten der meditativen Konzentration, mit kräftigen Schlägen seiner Schwingen ab, gewann deutlich an Höhe und raste mit einer Geschwindigkeit, die schneller war, als menschliche Maschinen leisten konnten, seinem Instinkt folgend, Richtung Rom, nicht wissend, was das war, welche Metropole ihn erwartete. Niemand ahnte, was sich da durch die Luft bewegte, was am Firmament entlang schoss, welcher unheilvolle Abgesandte des Himmels, hoch oben in der Atmosphäre, wieder die Freiheit eines geflügelten Himmelskriegers genoss.
Ein Mensch hätte zwischen den Wolken nur einen schnell verwehenden, schwarzen Strich wahrnehmen können, vergleichbar eines harmlosen, weißen Kondensstreifens einer Passagiermaschine.