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Kapitel 4 - Lucifer
ОглавлениеUm 500 vor Christus
Mit angewinkelten Beinen kauerte er in einer Ecke – nackt, wenn man von dem verdreckten Lendenschurz absah. Die eiskalte Höhle, seine feuchte Behausung, in die man ihn einst eingesperrt hatte, bestand aus grobem, dunklem Gestein.
Der rissige Boden, vielmehr die bevorzugten Felsstücke, auf denen er saß, war bestenfalls als uneben zu bezeichnen. Trotzdem war dies sein Lieblingsplatz.
Hier war es am Angenehmsten für ihn. An anderen Stellen seines Domizils kam der Aufenthalt eher einer zusätzlichen, filigranen Marter gleich, war der Untergrund doch scharfkantig oder zeigte Flächen mit unterschiedlich hohen, unangenehm piksenden Spitzen, die wie Nadeln die Haut ritzten.
Lediglich die einigermaßen glatte Fläche hinter ihm, an welche er lehnte, half ihm, etwas Linderung zu finden. Zusätzlich steckten beide Füße zum besseren Halt in einer kleinen Felsspalte, waren darin wie festgeklemmt.
Seine schwarzen Haare, ergraut vom Staub aus Jahrhunderten, hatten seit einer Ewigkeit keinen Kamm, geschweige denn Wasser gesehen. Wie lange er in diesem düsteren Verlies des Vergessens schon einsam eingekerkert war, ohne baldige Aussicht, das Tageslicht je wiederzusehen, wusste er nicht.
Irgendwann, vor endlos vielen Jahren, hatte er aufgehört, sich diese Frage zu stellen. Sein Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen.
Manchmal fühlte er sich wie ein Marathonläufer, der sich nicht bewegen durfte, für den die Ziellinie unerreichbar war. Es gab nichts, auf was er hätte hinarbeiten können, was ihm Freiheit gebracht hätte.
Selbst der Freitod, ein erbarmungsvoller, wenn auch unumkehrbarer Weg in eine folgenreiche Errettung, war ihm versagt. SIE erlaubte es ihm nicht, verweigerte ihm die endgültige Auslöschung seiner Existenz.
Gnade sah das Urteil nicht vor. Obwohl ihm zum Schreien zumute war, kam, einem Schweigegelübde gleich, kein einziger Laut über seine spröden Lippen.
Die Isolationshaft als immerwährende Folter forderte ihren Tribut, ließ ihn seit langem verstummen. Er sehnte sich nach Abwechslung, nach Sonnenschein, nach Tag und Nacht, nach Nahrung und Wasser.
Doch nur seine Erinnerung bot ihm verblassende Abbilder all dieser Dinge. Umso deutlicher bemerkte er, dass - urplötzlich, heute, jetzt - etwas anders war.
Er spürte es! Jemand war gekommen!
Zögernd und apathisch blickte er auf. Seine vom Dämmerlicht getrübten Augen, die sich an diese Umgebung angepasst hatten, versuchten das immer gleichbleibende, eine diffuse Helligkeit schaffende, milchige Blaulicht zu durchdringen, welches ihn stets umgab.
Er hoffte inständig, dass ihm sein Gehirn, einer Fata Morgana gleich, keine Bilder vorgaukelte, die es nicht gab, dass dies nicht der Beginn des Wahnsinns war, den er fürchtete. Er musste unbedingt bei Verstand bleiben, wollte er IHR, trotz aller Pein, widerstehen.
„Sollte ich wirklich Mitleid mit dir haben?“, hallte ihm eine tiefe Stentorstimme entgegen, kombiniert mit einem schnippischen Lachen.
Alarmiert erwachte er aus seiner Lethargie. In der Mitte einer klobigen Treppe, die halbkreisförmig in den Fels eingehauen war, baulich vom Boden bis an die Decke reichend, wo sie abrupt endete, stand ein männlicher Krieger in einer bronzefarbenen, hüftlangen Rüstung, über der ein purpurroter, feingewebter Umhang hing.
„Lucifer, der mächtige Lucifer“, redete er spöttisch weiter.
„Als einst oberster Engel, bist du wahrlich tief gefallen. Früher warst du nicht dermaßen schmutzig.“
Er lachte zynisch auf.
„Du wirst es nicht glauben, ich hatte Sehnsucht nach dir. Nenne es einen Anfall von Sentimentalität.
Ich muss wohl alt geworden sein. Wie fühlst…?“
„Erzengel Michael!“, fiel ihm Lucifer mitten ins Wort.
Er betonte dessen Namen hochmütig, sein Kopf nickte abschätzig. Doch noch seltsamer war es für ihn, seine eigene Stimme wieder zu vernehmen, die ausgesprochen fremd klang.
„Und ich dachte gerade, schlimmer kann es nicht mehr werden!“
Lucifers Gesicht verzog sich zu einer Abscheu verheißenden Grimasse. Ungeachtet seiner ungewöhnlich langen Gefangenschaft war er alles andere als gebrochen, sein Scharfsinn oder seine Widerstandskraft gefährlich wie eh und je.
Michaels rechte Hand umklammerte fest den Griff seines Flammenschwerts, das noch in der ledernen Scheide steckte. Er wollte gewappnet sein.
Auch in Gefangenschaft galt das Verhalten dieses teuflischen Erzengels als unberechenbar. Allerdings wusste das Kontinuum, dass Michael ihn besiegen konnte, wie damals, als der Himmel brannte, als Lucifer ihre Erschafferin stürzen wollte.
Das Glück in Form göttlicher Vorsehung war ihnen einst hold. Der oberste Erzengel versagte, seine Armeen wie auch seine engsten Vertrauten gaben auf.
Dennoch gab es viele Opfer, viel Leid zu beklagen. Michael war sich bewusst, dass er erneut mit allem rechnen musste, selbst hier.
Seinen Antagonisten durfte er niemals unterschätzen, ihm nie den Rücken zukehren oder gar Vertrauen entgegen bringen.
„Ach, sieh an“, trieb Michael das Spiel weiter, „du erinnerst dich also an mich.
Dann weißt du auch, dass man seinem Bezwinger demütig auf Knien huldigt!“
Eine kurze Stille trat ein. Michael war sich seiner provokanten Worte bewusst.
Eine sich rasch aufbauende, spürbare Spannung schien die Luft knisternd zu elektrisieren.
„Fahr zur Hölle, Mika’il“, schleuderte ihm Lucifer gezielt entgegen.
Um seiner Verachtung Nachdruck zu verleihen, blieb er sitzen, senkte demonstrativ sein Haupt und würdigte ihn keines Blickes mehr.
Michael verstand die Nennung seines arabischen Namens als Warnung.
„Weißt du überhaupt wie dich die Menschen nennen?“, fuhr der Himmelskrieger ungeachtet dessen fort.
„Teufel! Das ist der Name, den sie dir heute in ihren Schauergeschichten geben.
Oh, Entschuldigung, ich vergaß, das kannst du nicht wissen, solange wie du schon weg bist. Je länger sie von dir nichts mehr hören, desto mehr wirst du zu einer fiktiven Gruselgestalt.
Aber eigentlich bin ich aus einem anderen Grund hier. Was planst du für den Fall, dass deine Strafe beendet sein wird.
Willst du die Menschheit erneut versklaven oder sie von neuem für deine Zwecke missbrauchen? Ich warne dich!
Du wirst zwar in Freiheit wieder unter ihnen wandeln, aber wir werden auch da sein. Wir lassen dich nicht aus den Augen, wenn du dein Gefängnis verlässt!“
Lucifer sah ununterbrochen auf den Boden, schien gar nicht hinzuhören. Was hätte er auch tun sollen, Ignoranz war derzeit seine einzige Waffe.
„Bis dahin“, ließ sich Michael nicht beirren, „vergehen zum Glück noch einige tausend Jahre.
Nicht auszudenken ist, welche evolutionäre Entwicklungsstufe die Erdenwesen bis dahin erreicht haben könnten. Vielleicht sind sie sogar aufgestiegen und ähneln unseresgleichen.
In diesem Fall kämest du eh zu spät.“
Erzengel Michael war unverkennbar im Vorteil. Lucifer konnte gegen ihn in seiner jetzigen Lage nichts ausrichten, wusste andererseits, mit seiner alten Macht in sich, würde dieser Vasall des Himmels nicht in dieser arroganten Weise mit ihm reden können, es nicht schaffen, ihn erneut zu schlagen, wie ehemals.
Seine Gelegenheit, den Spieß umzudrehen, würde sich irgendwann ergeben, davon war er überzeugt. Zeit hatte er mehr als reichlich, außerdem spielte ihm diese wohlwollend zu.
Er ahnte, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen, dass es lediglich eine Frage der Zeit war, seinen Vormachtsanspruch im Universum erneut anzumelden. Gabriel, Michael und die anderen Himmelsgeschöpfe durften nur nicht damit rechnen – noch nicht!
Sie sollten sich in Sicherheit wiegen, einer satten, trügerischen Zufriedenheit!
„Hast du eigentlich schon von den Römern gehört?“, nahm Michael nach einer Verschnaufpause den Dialog wieder auf.
„Ein prächtiges Volk. Leider furchtbar kriegerisch, aber wir erfreuen uns enorm an dem, was sich da tut.
Sie bringen ihren Göttern Opfer, richten ihr Leben nach ihnen aus. Der eingeschlagene Pfad ist vielversprechend und wird sie in der Stufe ihrer Entwicklung unweigerlich vorwärts bringen.
Wohl wissend, dass die Kriege, die Eskalation der Gewalt und die Streitereien ausschließlich die Nachwirkungen deines schlechten Einflusses auf die Menschen waren, erwarten wir, dass sich die Konflikte auch bei ihnen nach und nach legen werden. Schließlich hatten wir, seit deinem Verschwinden, keinen Grund mehr zu intervenieren.
Die Richtung stimmt. Du würdest die Erde nicht wiedererkennen, könntest du heute auf ihr wandeln.
Außerdem, wenn es nach mir ginge, würde ich dich hier verrotten lassen, bis das Jüngste Gericht das Harmageddon des Universums einläutet.“
Lucifer war bezüglich der Menschen nicht so optimistisch, wie sein Gegenüber. Er kannte jene sehr genau, weil er lange als gefallener Engel unter ihnen leben musste.
Die Erleuchtete ignorierte allzu gerne deren Wankelmut sowie deren immenses Gewaltpotenzial, weil die Erdenwesen im gesamten Universum ihr Lieblingsspielzeug waren. Er hoffte darauf, dass deren ständig präsente Bereitschaft zu Kampf und Krieg als auch ihr anwachsender Wille, sich irgendwann von IHR in einem finalen, emanzipatorisch-atheistischen Akt loszusagen, ihm letztendlich zum Vorteil gereichen würde.
Dazu passte, dass er die Gabe hatte, Visionen zu empfangen. Die Bilder schienen aus der Zukunft zu kommen, zeigten ihm Geschehnisse, die sein würden oder sein könnten.
Darin triumphierte er, erreichte alles, was er wollte, sah eine Erde ohne Menschen.
„Wie geht es eigentlich der Alten?“, übernahm Lucifer mit gespielter Gelassenheit spontan das Gespräch.
Er blickte dabei provozierend auf. Seiner Mimik, seinem spöttischen Tonfall haftete etwas Beängstigendes an.
Sein Ziel war es, Michael zu irritieren, womöglich aus dessen Anwesenheit einen Vorteil für sich herauszuschlagen. Dieser ließ tatsächlich einen kurzen, halb erstickten Schrei los.
Ruckartig zog er sein Flammenschwert aus der Scheide.
„Du weißt, du sollst SIE so nicht nennen. Niemand darf SIE so titulieren.
SIE ist die Allmächtige, für dich, für mich, für alle! Bist du tatsächlich derart lernresistent, wie du tust?
Fällt es dir so schwer, zu kapieren, dass die Dinge sind, wie sie sind?“
Mit schnellen Schritten stürmte er die Treppe herab, blieb erst unmittelbar vor Lucifer stehen. Er drückte Isril, so nannten die Engel die feurige Waffe, bedrohlich an dessen Hals.
„Nein, Mika’il“, schnaubte Lucifer unbeeindruckt zurück, „Umstände ändern sich, geschwinder als du denkst, schneller als es dir lieb sein kann.
Gut, wenn man dann auf der richtigen Seite steht. Auf der Seite der Sieger - deines neuen Gottes!
An meiner Seite!“
„Träume, Geschwätz, nichts als inhaltsleeres Gesabber“, ließ Michael nicht locker.
„Ich sollte dir besser dein gottloses Haupt abschlagen, es hier und jetzt beenden. Ich sollte deinen verdammten Kopf als Trophäe der Allwissenden zu Füßen legen.
Aber das würde SIE nicht zulassen - niemals! SIE glaubt weiterhin an das Gute, sogar an das Göttliche in dir.
IHRE Weisheit und Gnade, welche ebenso grenzenlos, zugleich unendlich gütig, wie IHRE Schöpfung ist, wird IHR eines Tages noch zum Nachteil gereichen.“
Michaels Drohgebärde wuchs:
„Wenn du wirklich Mumm in den Knochen hast, ein Fünkchen Anstand in dir ist, dann bettle um deinen Tod. Möglicherweise kann es sein, dass ich mich über die Erbarmungsvolle hinwegsetze, dass ich dir diesen einen Wunsch erfülle.“
„Tue es doch!“, reagierte Lucifer seelenruhig, mit fester Stimme.
Er war weder eingeschüchtert noch ängstlich.
„Tue es doch, du Hurensohn der Allgegenwärtigen. Für mich ist SIE nur die Dirne, die euch Bastarden euer Leben einhauchte.
Erlöse mich von dieser Kurtisane des Paradieses, der obersten von allen. Oder, noch besser, erlöse SIE von mir.
Ist doch egal. Soll ich dir etwa entgegenkommen?
Tue es endlich! Hole dir den Lorbeerkranz als Überbringer meines Kopfes. Sei der folgsame Vasall deiner Königin!
Tue es!“
Erzengel Michael zitterte vor Zorn und Wut. Gleichwohl tat er es nicht.
Er konnte es nicht - er durfte es nicht! Er hätte, mit Lucifers Tod, die erhabene, alles bestimmende Ordnung vom Anbeginn der Zeiten empfindlich gestört.
Seine Göttin brauchte Lucifer. Ohne ihn wäre auch sie nicht mehr.
Das Gute war ohne das Böse nicht denkbar. Außerdem vertraute er bedingungslos dem ewigen himmlischen Gefüge, dessen Teil er war, weil er es immer tat, weil es so sein musste.
Langsam zog er Isril zurück.
„Du kannst es nicht, Narr!“, triumphierte Lucifer mit gehässiger Stimme.
„Niemals würdest du SIE hintergehen. Ich wusste es schon immer.
Während meine Verbannung irgendwann endet, ist dein Gefängnis für die Ewigkeit. Du bist in Wirklichkeit der Gefangene.
Geh mir aus den Augen. Deine Anwesenheit ist jämmerlich.
Aber wisse“, drohte Lucifer nun unverhohlen, „ich werde keine Hemmungen haben, mir deinen Kopf zu holen.
Du wirst brennen – ihr alle werdet brennen -, im Himmel, denn dorthin werde ich etwas bringen, was die Menschen als die Hölle bezeichnen. Oh, ich glaube, diesen Begriff kennst du noch nicht.
Meine Armeen von Nephilim werden das Kontinuum solange erbeben lassen, bis ihr Staub der Geschichte sein werdet, den der kosmische Wind in die immerwährende Bedeutungslosigkeit verwehen wird. Ich werde der Allmächtige sein, der einzige und sie die neuen Erzengel!“
Die Augen von Lucifer waren nicht mehr getrübt, sondern leuchteten von innen heraus. Sie erstrahlten, als würde ein gelb- bis rotglühendes Feuer in ihnen brennen, funkelten, als könnte man in einen unendlichen Schlund des Verderbens blicken, als hätte der Abgrund seine Pforten geöffnet, bereit, die apokalyptischen Reiter loszuschicken, den Weltuntergang einzuleiten.
Michael schüttelte enttäuscht den Kopf. Resignierend entmaterialisierte er, zischende Luft hinterlassend, noch bevor die letzte Silbe von Lucifer verklungen war.