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Hinter dem Schleier der Natur

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„Die gesellschaftliche Funktion des Schamanen war es, als Dolmetscher und Vermittler zwischen dem Menschen und den Mächten hinter dem Schleier der Natur zu wirken“9, schreibt Joseph Campbell. Hier gilt es zu beachten, dass der Schamanismus per defintionem in Kulturen vorkommt, die von einer Art Allbeseelung oder Alldurchgeisterung des Kosmos ausgehen (Animismus): Die ganze Natur wird als heilig und belebt empfunden, und mit allen Dingen lässt sich – im ekstatischen Bewusstsein – kommunizieren. Denn hinter (besser: in) der materiellen Welt existiert eine dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgene Welt der Geister, in der gleichsam die metaphysischen Ursachen für die physischen Zustände und Ereignisse liegen. Als Meister der Ekstase ist es der Schamane, dessen Aufgabe es ist, mit den kosmischen Entitäten in Kontakt zu treten, um Einfluss auf die Wirklichkeit zu nehmen und für das Wohlergehen des Stammes zu sorgen. Ihrer Funktion entsprechend erscheinen ihm die Geister der Natur in personifizierter Form: als Mutter Erde, Herr der Tiere, Himmelsherrscher, Berg-, Baum- oder Flussgeist. In Trance verhandelt der Schamane mit den Geistern, einige sind persönliche Verbündete, andere gefährliche Feinde, und arrangiert sich mit ihnen, um die Heiligkeit und Harmonie des Kosmos zu erhalten.

Auch heute noch wird Schamanismus praktiziert, nämlich überall dort, wo Menschen noch in einer traditionellen, vermeintlich primitiven Kulturform leben. Das sind die letzten Winkel dieser Erde, in denen die Mechanismen der Zivilisierung noch nicht greifen konnten, im dichten Dschungel oder höchsten Hochgebirge. So haben die archaischen Ekstasetechniken im Regenwald von Südamerika bis heute eine enorme kulturelle Bedeutung, man denke an das stark psychoaktive „Nationalgetränk“ von Amazonien, Ayahuasca, mit dem dort jedes Kind vertraut ist: In nächtlichen Zeremonien singen die Ayahuasqueros (Ayahuasca-Schamanen) die Icaros genannten Heillieder, die sie von den Geistern selbst gelehrt bekamen und die die Ritualteilnehmer in eine Welt voll unfassbarer Visionen führen. Für den Schamanen ist diese Welt die wahre Wirklichkeit, in der die Alltagsrealität spirituell begründet liegt. Hier, hinter dem Schleier der Natur, behandelt er die Ursachen für Krankheiten und Not, weshalb man ihn auch Curandero („Heiler“) nennt.

Der Schamane, der hinter den Schleier der Natur blickt, ist ein praktischer Philosoph: Er unternimmt eine Seelenreise in die Welt der Ur-Ideen, der platonischen Ur-Bilder, von denen die materielle Welt bloß ein Abbild ist. Dort steht er in Kontakt mit den Dämonen wie schon der weise Sokrates. Die hellenischen Gelehrten hatten sogar einen philosophischen Fachbegriff für diese Sphäre hinter der Natur: „Metaphysik“ (metá „hinter, jenseits“ und phýsis: „Natur“).

Schamanismus bei den Germanen

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