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Odin erklettert den Schamanenbaum
ОглавлениеDass der Weltenbaum auch in der germanischen Mythologie eine schamanische Funktion erfüllt, belegt der Mythos von Odin und Yggdrasil. Wie ein Schamane erklettert dieser Gott den Weltenbaum und verharrt neun Tage und neun Nächte kopfüber in den Zweigen, vom eigenen Speer verwundet, hungernd, dürstend:
Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum
neun ganze Nächte,
vom Speer verwundet und Odin geopfert,
selber mir selbst,
an dem Baum, von dem niemand weiß,
aus welchen Wurzeln er wächst.
(Hávamál 138)
Im körperlichen und geistigen Ausnahmezustand – in Ekstase – gelangt Odin zur Erleuchtung:
Da begann ich zu gedeihn und klug zu sein
und zu wachsen und mich wohl zu fühlen;
Wort gab mir Wort aus dem Wort,
Werk gab mir Werk aus dem Werk.
(Hávamál 141)
Sakrales Wissen offenbart sich ihm, Runen fallen von den Zweigen. Er wird eingeweiht in die geheimen Künste der Magie, lernt zu ritzen und zu röteln, lernt magische Lieder und Zaubersprüche:
Weißt du, wie man ritzen soll, weißt du, wie man raten soll?
Weißt du, wie man färben soll, weißt du wie man prüfen soll?
Weißt du wie man beten soll, weißt du wie man opfern soll?
Weißt du wie man darbringen soll, weißt du wie man vernichten soll?
(Hávamál 144)
Man zählt dieses Gedicht der Edda zur Weisheitsliteratur. Die Neunzahl (neun Nächte) ist wohl symbolisch zu verstehen: Es sind die neun Welten, die Odin am Stamm des Weltenbaumes durchwandert. Sein Geist durchdringt den Kosmos und gelangt noch in die letzten Winkel der neun Welten. Nach neun Tagen und neun Nächten kehrt er als „weiser Mann“ zurück – als ša-man.
Der germanische Mythos erinnert deutlich an die Selbstopfer, die anzugehende Schamanen im Zuge ihrer Ausbildung erbringen müssen: durch isoliertes Fasten in der Einsamkeit des tiefen Waldes, umgeben von den Tieren und den Geistwesen der Wildnis. Sie sind am ganzen Körper angemalt, stigmatisiert, und für den Rest des Stammes verkörpern sie die ‚Anderen‘, die ‚Toten‘ und die ‚Ahnen‘. Sie sind „aus-der-Kultur-ausgetreten“. Irgendwann beginnt der Initiand zu ‚fantasieren‘ und mit den Waldgeistern zu ‚sprechen‘; diese werden dann zu seinen Freunden und Verbündeten, Krafttieren und Hilfsgeistern. Schließlich wird er selbst zum wilden Tier, dann ist er ein Schamane.
Bei den Burjat-Mongolen in Sibirien gibt es einen schamanischen Initiationsritus, bei dem der Einzuweihende – er ist am ganzen Körper angemalt mit dem Blut eines geopferten Bockes – auf eine Birke klettert, in die neun Einkerbungen geritzt sind, welche die neun Welten symbolisieren. In der Hand trägt der Initiand ein Schwert (bei Odin ist es der Speer). Auf dem Baum sitzend fällt der Jungschamane in Ekstase. Nicht nur in Sibirien, auch bei den amerikanischen Indianern gibt es diese rituellen Baumbesteigungen. Deshalb haben einige Forscher vermutet, dass es sich bei Odins Runenlied und Weltenbaumgeschichte um das mythische Modellverfahren einer Initiation zum Odinskrieger und Ekstasekünstler handelt – eine ‚Proto-Initiation‘. Odin hat es vorgemacht, er ist der erste Eingeweihte und der Ur-Schamane, nun gilt es, es ihm gleichzutun.
Durch die Initiation wird der junge Mann zum Krieger Odins und eingeweiht in die ‚wütige‘ Schar, das ‚wilde Heer‘ der Toten. Das Ritual enthält: Scheinhängen und Speermarkierung und (vielleicht) Mutproben. Durch Speermarkierung (Ritzen mit einem Speer, der Waffe Odins) wird der Initiand Eigentum des Kultgottes. Und Scheinhängen ist eine Technik, ekstatische Erlebnisse zu induzieren (andere Kulturen bedienen sich dazu asketischer und meditativer Praktiken, bestimmter Körperhaltungen, des Tanzes, verschiedener Rauschgifte und narkotischer Getränke): der Einzuweihende wird an einem Strick (um den Hals) hochgezogen, bis er das Bewusstsein verliert, dann wieder heruntergelassen. Er erfährt an sich den ‚kleinen Tod‘, eine neue, tiefere Dimension des Seins, das Außer-sich-Sein, die spirituelle Wirklichkeit. […] Der Mythus von der Einweihung Odins dürfte die wichtigsten Elemente des männerbündischen Aufnahmerituals und seiner Wirkungen – auf menschliches Maß reduziert – wiedergeben. Die Initiation in den Männerbund eröffnet dem jungen Mann den Zugang zum Training bestimmter Ekstatsetechniken, die ihn befähigen, an sich die sog. Berserker-Wut zu erzeugen, eine Kampfekstase, die mit Unverwundbarkeit durch Eisen und Unempfindlichkeit gegen Feuer und mit Gestaltwandel oder Seelenexkursion verbunden ist: der Kämpfer vermag sich in ein wildes Tier (Bär oder Wolf) mit dessen Eigenschaften zu verwandeln oder seelische Kräfte in Tiergestalt (Bär) von seinem Körper zu trennen und in den Kampf auszusenden, während der Körper in Untätigkeit (Schlaf) verfällt.15