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Der Weltenbaum Yggdrasil
ОглавлениеIm Mittelpunkt der germanischen Mythologie steht der Weltenbaum, der älteste und schönste aller Bäume, an dessen Stamm die Götter alltäglich Gericht halten. In der nordgermanischen Überlieferung trägt der Weltenbaum den Namen Yggdrasil und ist eine immergrüne Esche. Im ältesten Lied der Edda beschreibt eine Seherin (Schamanin) den Weltenbaum:
Eine Esche weiß ich stehen, sie heißt Yggdrasil,
ein hoher Baum, überschüttet mit glänzendem Nass;
von dort kommt der Tau, der in den Tälern niederfällt,
sie steht immer grün über dem Urdbrunnen.
(Völuspa 19)
„Die Esche ist der größte und beste aller Bäume. Ihre Äste breiten sich über die ganze Welt aus und erstrecken sich über den Himmel“ (Gylfaginning 15). An den Wurzeln des Weltenbaumes sprudelt eine Quelle, der Urdbrunnen, der heilige Brunnen der Nornen. Die Nornen sind drei Göttinnen, die das Schicksal der Welt aus Runen lesen und die Schicksalsfäden der Menschen weben. Am Stamm des Weltenbaumes leben die Menschen; er ragt säulenartig hoch empor bis in den Götterhimmel. Die Krone ist der Wohnsitz der Götter. Ein Drache schlingt sich um die Wurzeln, vier Hirsche äsen an den Zweigen, ein Eichhörnchen flitzt entlang des Stammes und obenauf sitzt ein Adler. Der Tau, der vom Weltenbaum zur Erde fällt, wird Honigtau genannt.
Der Weltenbaum ist keine Fiktion, sondern ein philosophisches Gleichnis. Er ist ein Sinnbild für das harmonische Zusammenwirken aller Dinge und für die kosmische „All-Einheit“. Der Weltenbaum ist ein mikrokosmisches Abbild des Universums, in dem alles sinnvoll ineinandergreift und einen einheitlichen Organismus bildet. Alles steht in Beziehung zueinander, und aus dem Wechselspiel entsteht die Wirklichkeit. Er ist der Baum des Lebens und des Todes, der Baum der Erkenntnis und der Weisheit – der „Nabel der Welt“. Eliade nennt ihn den „Ausdruck der Heiligkeit, der Fruchtbarkeit und Ewigkeit der Welt“ sowie „der absoluten Realität“.10 Der Weltenbaum ist ein kosmisches Symbol und fungiert als eine „Weltachse“ (axis mundi), welche die drei Weltebenen miteinander verbindet: Erde, Mittelwelt und Himmel.
Es handelt es sich um ein Symbol für die kosmische Ordnung, das in der Mythologie zahlloser Naturvölker angetroffen werden kann: Der Weltenbaum ist ein Archetyp, ein Ur-Bild. Er kommt überall vor, kulturübergreifend und zeitlos, vor allem aber in schamanisch strukturierten Kulturen. In Sibirien zum Beispiel, wo der Begriff „Schamanismus“ ursprünglich herkommt, erzählt man sich,
[…] daß es einen Baum mit vielen Wipfeln gibt. Die Schamanen aus der ganzen Welt werden alle an diesem Baume aufgezogen. Je größer der Schamane nach Bedeutung und Kraft ist, um so höher liegt seine Seele auf dem Baum. Das heißt, die Seele liegt dort in verschiedener Höhe. Die Schamanen selbst sagen gewöhnlich, daß als Erzieher ein Rabe erscheint, der auf den Zweigen dieses Baumes sitzt und die Seele groß zieht.11
Eine andere Schamanengeschichte aus Sibirien besagt:
Im Himmel ist ein Baum mit Namen Yjyk-Mas. Sein Wipfel reicht bis in den neunten Himmel, seinen Umfang kann niemand feststellen. Von der Wurzel bis zur Spitze ist dieser Baum mit Auswüchsen bedeckt. Keine freien Zweige sind an ihm zu sehen. In diesen Auswüchsen werden die Schamanen geboren, die Schamaninnen und alle diejenigen, die mit Zauberei und Hexerei bekannt sind. Starke werden am Fuße des Stammes geboren, Schamanen mit voller Kraft entstehen an der Wurzel des Baumes in einem Auswuchs, der groß ist wie ein kleiner Grabhügel.12
Nun ist der Weltenbaum für den Schamanen aber nicht nur eine Metapher für die Harmonie des Kosmos, sondern auch – ganz praktisch – eine Verbindungsachse zwischen den Welten, an der er in das Reich der Götter, Geister und Dämonen klettert: Im veränderten Bewusstseinszustand imaginiert der Schamane diese Achse, um an ihren Sprossen in die Anderswelt zu klettern und sich bei der Reise in das Jenseits orientieren zu können. Der Weltenbaum wird auch Seelenranke genannt, weil der Schamane an ihr ins Wolkengeisterreich des Himmels fliegt. Der Weltenbaum ist gleichfalls die Liane, die der Schamane in den Händen hält, wenn er in das unterirdische Reich der Toten eintritt. Das Bild vom Weltenbaum ist eine Art kognitive Landkarte, die der Schamane stets vor Augen hat, wenn er in Ekstase tritt.
In der germanischen Mythologie heißt es übrigens, dass in der Krone des Weltenbaums eine „schwankende Himmelsstraße“ (bifröst) oder Regenbogenbrücke erscheint, die den Himmel und die Erde miteinander verbindet: Die Götter nutzen diese Brücke, um in die Menschenwelt zu reiten. Warum sollten nicht auch die Menschen auf demselben Weg das Götterreich begehen können?