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1Neurophysiologische Grundlagen

1.1Aufbau und Funktion des zentralen Nervensystems

Wahrnehmen, Erkennen, Verhalten und emotionales Erleben sind Leistungen unseres hochkomplexen Nervensystems, insbesondere des Gehirns, das eine gewisse Sonderstellung einnimmt: Im Grunde handelt es sich gar nicht um ein einzelnes Organ, sondern um ein vernetztes Geflecht verschiedenster Module und Steuerungseinheiten, die auf unterschiedlichste Weise zusammen agieren können. Ursprünglich hat sich auch das menschliche Gehirn evolutionär entwickelt, um seinen Trägern ein besseres Überleben zu ermöglichen: Wahrnehmung und Reaktion konnten umso besser und adäquater auf die Wirklichkeit abgestimmt werden, je mehr es gelang, eben jene Wirklichkeit in neuronalen Netzen zu rekonstruieren. Diese hochkomplexe Verschaltung ermöglicht es eben diesem Gehirn aber zumindest in Ansätzen auch, sich seiner selbst bewusst zu werden, Probleme zu antizipieren und abstrakt zu lösen (was wir als „Denken“ bezeichnen) oder seelische Empfindungen als solche wahrzunehmen.

Für die angewandte Heilpädagogik ist das Wissen um die Entwicklung des menschlichen, insbesondere des kindlichen Gehirns, mögliche Störungen im Reifungsprozess, die neuronalen Grundlagen der Wahrnehmung, der Motorik, der emotionalen Verarbeitung und der Kognition von großer Wichtigkeit. Nachdem das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zum „Jahrzehnt der Hirnforschung“ apostrophiert wurde, haben die in dieser Dekade gemachten neueren Erkenntnisse nicht nur unser Weltbild, sondern in Ansätzen auch die pädagogischen Grundlagen maßgeblich beeinflusst oder verändert. Insofern scheint es mir sinnvoll, auf die Grundlagen der neuronalen Verarbeitung auch in einem Lehrbuch der Heilpädagogik einzugehen.

Im folgenden Kapitel soll kurz auf die wichtigsten Grundbegriffe eingegangen werden. Vertiefungen – beispielsweise zur Neurophysiologie der visuellen Wahrnehmung oder der Motorik – finden sich jeweils in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches.

Aufbau und Funktion der Nervenzellen

Letztlich besteht das zentrale Nervensystem und auch das Gehirn aus einer unvorstellbar großen Zahl von 100 Milliarden Nervenzellen, von denen eine jede bis zu 10.000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen aufnehmen kann. Damit ist unser Gehirn wohl die komplexeste Struktur des uns bekannten Universums. Zum Vergleich: Hätten 100 Milliarden Menschen, das etwa 25fache der jetzigen Erdbevölkerung, die Möglichkeit zu jeweils 10.000 anderen Menschen Kontakt aufzunehmen oder dies nicht zu tun, so entspräche dies in etwa den 10.000 synaptischen möglichen Verbindungen einer Nervenzelle. Ein anderer Vergleich: Die 100 Milliarden Bäume des tropischen Regenwaldes und die möglicherweise 10.000 Blätter pro Baum mögen die im Grunde nicht mehr vorstellbare Komplexität unseres Gehirns versinnbildlichen.

Nervenzelle

Eine Nervenzelle besteht zunächst aus den üblichen Zellstrukturen wie Zellmembran, Zellkern, Mitochondrien etc. Darüber hinaus hat sie zahlreiche Ausläufer, die als „Dendriten“ bezeichnet werden und als „Antennen“ fungieren: Über sie gelangen gleich noch zu besprechende bioelektrische Signale zum Zell-inneren und insbesondere zum Axonhügel, wo sie „verrechnet“ werden. Neben den als Dendriten bezeichneten Empfangsstrukturen weisen Nervenzellen aber auch einen meist längeren Ausläufer, das Axon, auf, über den Impulse weitergeleitet werden können. Ein Axon hat also „Sendefunktion“. Zwar gibt es – im Gegensatz zu den Dendriten – nur ein Axon, doch kann dieses sich an seinem Ende ebenfalls verzweigen. Da das Axon eine erhebliche Länge betragen kann (die Nervenzelle ist nur ein 40-Tausendstel Millimeter groß, das Axon, das von der Großhirnrinde zum Rückenmark läuft, kann bis zu 1 m lang sein) muss es am zellfernen Ende mit Nährstoffen versorgt werden.

Gliazellen

Dies übernehmen Gliazellen, fetthaltige Stützzellen, die sich zwiebelschalenartig um das Axon wickeln und mehrere Funktionen haben: Zum einen versorgen sie das Axon mit Nährstoffen und Sauerstoff, zum anderen schützen sie es vor giftigen Substanzen, und zum Dritten tragen sie zu einer schnelleren Erregungsleitung bei (Hülshoff 2008, 14f).

Reizentstehung

Hauptaufgabe einer Nervenzelle ist es, bioelektrische Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Insofern ist der Vergleich mit einem Mikroprozessor statthaft. Trotzdem muss man sich klar machen, dass im Gegensatz zur Computertechnik im Gehirn auch chemische Vorgänge eine wesentliche Rolle bei der Informationsverarbeitung spielen. Wie aber entsteht die bereits genannte bioelektrische Aktivität? Unabdingbare Voraussetzung dafür sind elektrisch geladene Atome oder Moleküle, so genannte Ionen. Diese können, je nach Elektronenzustand, positiv (Na+) oder negativ (CL-) geladen sein. Befinden sich in einer Körperstruktur, beispielsweise einem Axon, negativ geladene Ionen im Überschuss, so ist diese Struktur gegenüber der Umgebung negativ geladen. Dies gilt insbesondere für Nervenzelle und Axon im Ruhezustand, wenn innerhalb des Axons durch negativ geladene Eiweißpartikel und Chlorionen eine negative Spannung von 70 Megavolt (MV) vorherrscht. Außerhalb der Zelle, im extrazellulären Raum, überwiegen positiv geladene Natronionen, so dass der extrazelluläre Raum positiv geladen ist.

Membran

Axoninnenraum und Extrazellularraum werden durch eine Axonmembran voneinander getrennt. Diese Membran ist unter bestimmten Umständen durchlässig, also semipermeabel. Normalerweise bleiben positiv und negativ geladene Ionen vonein-ander getrennt, was zu den oben beschriebenen Spannungsverhältnissen führt. Kommt es aber zu einer bioelektrischen Erregung am Axonhügel, also an dem Teil der Nervenzelle, an dem das Axon entspringt, so verändern sich die Membraneigenschaften des Axons an dieser Stelle. Die Membran besteht nämlich aus Eiweißbestandteilen, die ihrerseits bestimmte Oberflächenspannungen aufweisen.

Der bioelektrische Impuls vom Axonhügel führt nun dazu, dass sich kurzfristig „Ionenkanäle“ öffnen, die Axonmembran also für Natronionen durchlässig wird. Da sich unterschiedlich geladene Teilchen anziehen und die kleinen Ionenkanäle nur von Natrium, nicht aber vom Chlor passiert werden können, strömt Natrium im Überschuss ins Axon. Infolgedessen ändern sich die Spannungsverhältnisse, im Inneren des Axons wird ein Erregungspotenzial von 30 MV aufgebaut. Dies wiederum hat zur Folge, dass an benachbarter Stelle ebenfalls Membraneigenschaften verändert werden und sich Ionenkanäle öffnen. Somit kann auch an dieser Stelle Natrium einströmen. Dieser Prozess wiederholt sich, so dass die Erregung vom Nervenzellende in Richtung Peripherie weitergeleitet wird.

Um erneut einsatzbereit zu sein, muss die Nervenzelle anschließend aktiv die alten Konzentrationsverhältnisse wiederherstellen. Das gelingt mit Hilfe der so genannten Ionenpumpe, chemischen Prozessen also, bei denen das Natrium unter erheblichem Energieaufwand wieder aus dem Zellinneren herausgepumpt wird. Nun ist die Zelle erneut erregbar.

Erregung am Axonhügel

Wir wissen jetzt in groben Zügen, wie die Erregung vom Axonhügel bis zum Ende des Axons weitergeleitet wird. Es bleibt noch zu erwähnen, wie sie beim Axonhügel entsteht: Die einlaufenden Dendriten leiten ihrerseits mit analogen Mechanismen bioelektrische Erregung in Richtung Axonhügel. Laufen nach-einander eine Reihe bioelektrischer Erregungen ein oder kommt es es zu einer zeitlichen Summation solcher Erregungen, so entsteht ein Schwellenpotenzial am Axonhügel, das den o. g. Weiterleitungsprozess via Axon einleitet. Man kann also die Nervenzelle als Mikroprozessor sehen, die in der Lage ist, einlaufende Informationen miteinander zu verrechnen und im Sinne einer Ja-Nein-Entscheidung (ein Axon feuert oder feuert eben nicht) eine Erregung auszusenden oder im Ruhepotenzial zu bleiben.

Synapse

Am Ende des Axons wird die bioelektrische Erregung zunächst nicht weitergeleitet. Das Axonende ist durch einen so genannten synaptischen Spalt vom dendritischen Ende der zweiten Nervenzelle getrennt. Diese Strukturen – Axonende der ersten Nervenzelle, dendritisches Ende der zweiten Nervenzelle und der Spalt, der beide voneinander trennt – werden als „Synapse“, Verbindungsstelle zweier Nervenzellen, bezeichnet. Die Weiterleitung der Informationen zwischen erster und zweiter Nervenzelle geschieht auf biochemischem Wege.

Neurotransmitter

Die am Axonende einlaufende bioelektrische Erregung führt zu Membranveränderungen, in deren Gefolge Vesikel, kleine Bläschen, kurzfristig mit der Membranwand verschmelzen. Diese Bläschen enthalten Botenstoffe, so genannte Neurotransmitter, die nun in den synaptischen Spalt diffundieren. Sie gelangen so an Empfängerstrukturen in der dendritischen Membran der zweiten Nervenzelle. Hinsichtlich ihrer Oberflächenstruktur passen Neurotransmitter und Empfänger (Rezeptor) wie ein „Schlüssel ins Schloss“ oder eine Hand in einen Handschuh: Docken Neurotransmitter an den für sie vorgesehenen Rezeptoren an, so verändern sie wiederum kurzfristig die Membranstruktur der Dendriten in der zweiten Nervenzelle. Das wiederum hat zur Folge, dass Ionen einströmen können. Es baut sich nun in der zweiten Nervenzelle ein bioelektrischer Strom auf und kann zum Axonhügel weitergeleitet werden. Nach „getaner Arbeit“ werden die Neurotransmitter abgebaut oder wieder von der aussendenden Zelle aufgenommen und „recycled“. Jedenfalls verlieren sie ihre Wirksamkeit, so dass die Zellstrukturen wieder zur Ruhe kommen können.

Verstärkung

Die Kopplung von bioelektrischer und biochemischer Erregung hat den Vorteil, dass Erregungen massiv verstärkt werden können. Es hängt nämlich nicht primär von der Erregungsstärke der ersten, abgebenden Zelle ab, sondern vor allem vom Aufbau und den Membraneigenschaften der zweiten Zelle, wie stark die nun weitervermittelte Erregung im zweiten Neuron ist. Auch kann eine erregende erste Zelle durch eine raffinierte Verschaltung dazu führen, dass eine ihr angeschlossene zweite Zelle nicht erregt, sondern gehemmt bzw. gedämpft wird: Öffnen sich nämlich Ionenkanäle für negative Ionen, (z. B. Cl-), so führt die Erregung dieser Rezeptoren dazu, dass negativ geladene Ionen ins Zellinnere einströmen. Damit wird das Milieu noch negativer und die Zelle noch weniger erregbar. So paradox es sich anhört: Die Erregung der ersten Nervenzelle hemmt aktiv die Erregungsbereitschaft der zweiten Nervenzelle.

Schließlich können Nervenzellen durch Botenstoffe u. a. Chemikalien massiv beeinflusst werden. Eine Reihe von chemischen Substanzen, beispielsweise Drogen und Psychopharmaka, aber auch körpereigene Substanzen können die Sensibilität neuronaler Empfangsstrukturen erhöhen. Zurzeit sind etwa 200 Neurotransmitter erforscht worden, 50 davon haben eine maßgebliche Bedeutung. Insbesondere Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Glutamat und Gamma-Aminobuttersäure werden weiter unten noch näher beschrieben, weil sie maßgeblich an Regelprozessen beteiligt sind.

Hormone

Neben Neurotransmittern, hauptsächlich im Dienste gezielter Nervenbahnen und neuronaler Regelkreise, können auch Hormone an Synapsen wirken: Sie werden durch den Blutkreislauf an unterschiedlichste Stellen in der Körperperipherie eingeschwemmt und können, etwa wie das Stresshormon Adrenalin, fast gleichzeitig unterschiedliche Körperfunktionen (Blutdruck, Atmung, Pupillenreaktion etc.) beeinflussen. Vereinfacht gesagt kann man die Signalübertragung von Neurotransmittern mit einem Telefon vergleichen, während Hormonen „Rundfunkcharakter“ zugeordnet werden kann.

Drogen

Neurotransmitter können blockiert, abgebaut, verzögert oder imitiert werden, oder ihre Wirkung kann verlängert werden: Praktisch alle Rausch- und Suchtstoffe sowie Psychopharmaka verändern die Wirkweise von Neurotransmittern. Sie können beispielsweise die Oberflächenstruktur von Rezeptoren verändern und entweder die Wirkung von körpereigenen Neurotransmittern verhindern, oder aber gerade diese Neurotransmitter so gut imitieren, dass sie an deren statt eine Erregung hervorrufen.

monosynaptischer Reflex

Nachdem wir den grundlegenden Aufbau der kleinsten Einheit unseres Nervensystems, des Neurons/der Nervenzelle kennen gelernt haben, wollen wir uns nun mit deren prinzipiellen Verschaltungen beschäftigen. Die einfachste Verschaltung zweier Neuronen ist die eines monosynaptischen Reflexbogens.


Wenn Sie bei übereinander geschlagenen Beinen mit der Handkante 1 cm unterhalb der Kniescheibe einen plötzlichen Druck auslösen, wird der Unterschenkel reflexartig nach vorne schnellen. Dehnungsrezeptoren an Bändern und Gelenken haben einen Dehnungsreiz wahrgenommen, der in ein bioelektrisches Signal umgewandelt und über das erste Neuron zur Umschaltstelle im Rückenmark weitergeleitet wurde. An dieser synaptischen Umschaltstelle tritt nun ein zweites Neuron in Aktion, das Signale zur Peripherie und damit zur Muskulatur des Unterschenkels weiterleitet und eine motorische Reaktion auslöst.

Im einfachsten Falle also besteht eine neuronale Verschaltung aus einem monosynaptischen Reflexbogen, an dem zwei Neuronen beteiligt sind.

komplexe Reflexe

Bereits beim Bauchdeckenschutzreflex sieht die Sache komplexer aus: Wenn nur der linke untere Quadrant der Bauchhaut berührt wird, zieht sich reflektorisch die gesamte Bauchdecke zusammen. Dies macht auch Sinn, da es lebenswichtige und im Übrigen sonst ungeschützte innere Organe zu schützen gilt. Die Verschaltung kann folglich keine monosynaptische mehr sein: Auf mehreren Ebenen des Rückenmarks werden Neuronen zusammengeschaltet und führen schließlich dazu, dass die gesamte Bauchdecke involviert wird.

Interneurone

Schließlich können Nervenzellen „dazwischen geschaltet sein“, um hemmende, erregende, in jedem Fall aber modulierende Funktion zu übernehmen und wesentlich zur Feinabstimmung beizutragen. Solche Zellen werden als „Interneurone“ bezeichnet. Aber auch die Verarbeitung und Repräsentation des Außenweltreizes, also des Sinnesreizes, kann bei komplex verschalteten Verarbeitungsstufen wesentlich differenzierter und aussagekräftiger werden. Letztlich sorgen also Millionen dazwischen geschaltete Interneurone für eine immer differenziertere Sinnesreizanalyse und eine ebenso differenzierte feinmotorische und zielgerichtete Aktion des Individuums. Am Ende der motorischen Leitungsbahnen finden wir die Muskeln, mit deren Hilfe Gliedmaßen und Gelenke bewegt werden können. Andererseits haben wir in der Peripherie Sinnesorgane mit Sinnesrezeptoren, die unterschiedliche Reize unserer Außenwelt in die bioelektrische Einheitssprache unseres Nervensystems übersetzen und zum Gehirn weiterleiten. Neben den „fünf aristotelischen Sinnen“ (Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Fühlen), kann man insgesamt etwa 20 Sinne unterscheiden: z. B. die Tiefensensibilität, das Schmerzempfinden, den Vibrationssinn, den Gleichgewichtssinn, Wärmerezeptoren etc.

Sinnesrezeptoren

Sinnesrezeptoren sind zum Ersten in der Lage, Modalitäten wahrzunehmen: Normalerweise unterscheiden wir zwischen Gehörtem, Gesehenem oder Gerochenem. Zum Zweiten können sie qualitativ differenzieren: Unterschiedliche Lichtfrequenzen werden als Farben, unterschiedliche Hörfrequenzen als Tonhöhen differenziert. Zum Dritten kann die Stärke des Reizes interpretiert werden: Eine Speise schmeckt uns mehr oder weniger süß, ein Ton ist mehr oder weniger laut, eine visuelle Wahrnehmung ist mehr oder weniger hell. Viertens können Reize zeitlich und periodisch strukturiert werden, und fünftens gelingt es uns oft, sie zu lokalisieren: Der Aufbau unseres Außenohres sorgt ebenso wie die Verschaltung der Hörbahnen dafür, dass wir stereophon hören können. Analoges gilt für das stereoskope Sehen oder die Ortung von Gerüchen.

Sinneseindrücke gelangen entweder über sensorische Leitungsbahnen aus der Peripherie, über das Rückenmark und das Stammhirn in das Gehirn. Oder sie werden über jeweils einen der zwölf Hirnnerven (z. B. den Riechnerv, den Sehnerv, den Gehörnerv) direkt in das Gehirn eingespeist. Das, was das Gehirn letztlich erreicht, ist nicht mehr Licht oder ein Ton, sondern die in die bioelektrische Einheitssprache des Gehirns umgewandelte Information.

Aufbau des Gehirns

Stammhirn

Wenn wir uns den strukturellen Aufbau unseres Gehirns ansehen, so bildet die Basis das so genannte Stammhirn. In dieses münden nicht nur die sensorischen Leitungsbahnen des Rückenmarks ein, sondern auch die Endigungen unserer Hirnnerven. Es handelt sich um den entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil unseres Gehirns, der die lebenswichtigen Steuerzentralen beinhaltet. Ob wir beispielsweise atmen oder nicht, entzieht sich bereits nach kurzfristiger Atempause unserem freien Willen: Reflektorisch sorgt das Stammhirn dafür, dass wir nach Luft schnappen. In ähnlicher Weise werden Körpertemperatur, Blutzuckerspiegel, Hungergefühl u. v. a. überlebenswichtige Parameter vom Stammhirn gesteuert. Vor allem der Grad unserer Erregung, unserer Wachheit oder unserer Schläfrigkeit wird – wie auch der Schlaf-Wach-Rhythmus – von einer so genannten Area retikularis des Stammhirns gesteuert. Ob wir ängstlich, wütend oder verliebt sind, entscheidet sich an anderen, gleich zu besprechenden Stellen unseres Gehirns. Der Grad der Erregung allerdings, mit dem diese Emotionen verspürt werden, wird im Stammhirn generiert. Das gilt auch für den Wachheits- und damit Bewusstseinszustand. Stammhirnläsionen können in der Regel nicht überlebt werden, weil dieser fundamentale und archaische Teil unseres Gehirns essenziell für die lebensnotwendigen Steuerungsfunktionen ist.

Zwischenhirn

Über das Stammhirn stülpt sich das Zwischenhirn, das sensorische Reize weiterverarbeitet und z. T. mit fest verankerten basalen Programmen beantwortet wird. Eine wichtige Struktur des Zwischenhirns ist der Thalamus, manchmal als „Vorzimmer des Bewusstseins“ apostrophiert. In seinen seitlichen Arealen werden beispielsweise Informationen der Sehnerven ein erstes Mal miteinander verglichen und ausgewertet. So veranlasst uns der Thalamus unbewusst, unseren Blick möglichen Gefahrenquellen zuzuwenden. Auch wenn wir erst später erkennen, dass die vermeintliche Schlange am Boden ein Gartenschlauch war, springen wir möglicherweise doch vor Schreck an die Seite. Wir entwickeln eine Stressreaktion, deren Ursprung vom Thalamus gesteuert wird. Abgebaut wird diese Reaktion erst, wenn das gleich noch zu besprechende Großhirn die Führung in der sensorischen Interpretation übernimmt. In seinen medialen Anteilen verarbeitet der Thalamus insbesondere Hörinformationen, die nach ganz ähnlichen Prinzipien wie die eben beschriebenen visuellen Verarbeitungsmodi ausgewertet werden. Der Thalamus ist also eine wichtige Schaltzentrale, die mit darüber entscheidet, welchen Ereignissen unser Bewusstsein Beachtung schenkt. Er hat mächtige Verbindungsbahnen zu den übergeordneten, von ihm mit Informationen verbundenen Hirnarealen.

Limbisches System

An der Grenze von Zwischen- und Großhirn befindet sich eine saumförmige Region, die als „Limbisches System“ (lat.: limbus – der Saum) bezeichnet wird. Das Limbische System besteht aus einer Reihe von untergeordneten Regionen, von denen der Mandelkern (Amygdala) und der Hippokampus (Seepferdchen) die wichtigsten sind.

Mandelkern

Der Mandelkern – der seinen Namen ebenso wie das See-pferdchen einer beschreibenden Anatomie vergangener Zeiten verdankt – wird auch als „Mischpult der Gefühle“ apostrophiert und färbt alle wahrgenommenen Ereignisse emotional ein. In seiner unteren Region differenziert er im Wesentlichen nach den Kategorien „Lust-Unlust“ und leitet uns damit auf noch vorbewusster Ebene an, bestimmte Situationen zu meiden, andere hingegen anzustreben. Hier generieren auch Primäraffekte wie „eine dumpfe Wut im Bauch“ oder eine noch namenlose, fast panische Angst. Analoges gilt auch für andere Emotionen wie z. B. Interesse, Erotik oder Trauer. Gleichzeitig sorgen die basalen und unteren Teile der Amygdala dafür, dass unser vegetatives Nervensystem reagiert: Angst beispielsweise geht mit einem Erregungszustand, der Ausschüttung von Adrenalin und vielen Parametern der so genannten „flight and fight reaction“ einher: Puls und Atemfrequenz beschleunigen sich, der Blutdruck steigt, die Pupillen werden schreckensweit, die Hände schwitzen (was über die damit verbundene Verdunstung zur Abkühlung führt) und dergleichen mehr. Die Emotion Angst ist also ein durchaus körperliches, vegetativ gesteuertes Ereignis. Analoges gilt für die Wut, die Freude, die Trauer oder erotische Gefühle: Sie alle äußern sich auch vegetativ, mimisch, motorisch, mitunter auch hormonell. Hierauf wird in Kap. 9 noch detaillierter eingegangen.

In seinem oberen Teil leitet der Mandelkern emotional relevante Informationen über breit angelegte Nervenfasern zur periobikulären (augennahen) Region des Frontalhirns. Diese Bahnen und ihre Endstrecken ermöglichen eine differenziertere Analyse, auch in emotionaler Hinsicht. Aus der dumpfen Wut wird nun Eifersucht, Rachegefühl oder ein „heiliger Zorn“. Auch emotional-kognitive Phänomene wie Scham oder Schuldgefühl können nun differenziert erlebt werden.

Schließlich ist das frontale Großhirn auch in der Lage, Emotionen in gewissen Grenzen zu steuern und den sozialen Gegebenheiten anzupassen. Dass wir wütend werden, können wir nicht verhindern – dies liegt in unserer Natur und ist im Wesentlichen im Limbischen System verankert. Wie wir mit unserer Wut umgehen, ist hingegen auch von unseren Großhirnfunktionen abhängig, nicht zuletzt auch von unserem Gedächtnis, das in unserem bisherigen Leben einiges über den Umgang mit Wut gelernt hat.

Hippokampus

Um aber im Gedächtnis abgespeichert zu werden, muss eine emotional relevante Information zunächst den Hippokampus (Seepferdchen) passieren. Diese Struktur wird auch als „Pforte des Gedächtnisses“ bezeichnet und sorgt dafür, dass emotional relevante Informationen, vom Hippokampus bearbeitet, in den Gedächtnisstrukturen insbesondere des Temporallappens abgespeichert wird. Ist der Hippokampus zerstört, kann dies nicht mehr geschehen. Alte Lebensereignisse sind zwar nach wie vor im Gedächtnis abrufbar, neue Ereignisse können hingegen nicht aufgenommen werden. Amygdala und Hippokampus liegen anatomisch dicht nebeneinander und sind auch funktionell sehr stark miteinander vernetzt.

Basalganglien

An den unteren Regionen des Großhirns befinden sich Zentren im Dienste der Motorik. Dies sind zum einen im archaischen Teil der Hirnrinde die Basalganglien, zum anderen das Kleinhirn (Zerebellum). Beide Strukturen können in gewisser Hinsicht als „Unterausschüsse“ der nichtwillkürlichen Begleitmotorik angesehen werden. Zwar sind gleich noch zu besprechende Großhirnareale für die Willkürmotorik zuständig und sorgen dafür, dass wir uns gemäß unseres Willens bewegen oder nach Objekten greifen. Aber die „Unterausschüsse“ der nichtwillkürlichen, extrapyramidalen Begleitmotorik sorgen dafür, dass dies in ad-äquater Weise geschieht: Dosierung der Muskelaktivität, Kraft, Neigungswinkel und die Abfolge diverser motorischer Unterprogramme werden aufeinander abgestimmt, ohne dass wir uns bewusst damit befassen müssen. Die Basalganglien sind bei diesem Geschehen vor allen Dingen für schnelle, so genannte ballistische Bewegungen zuständig: Wenn Sie einen Golfschläger bewegen und während dieser Bewegung merken, dass sie den Ball wohl nicht treffen werden, ist es für eine Kurskorrektur bereits zu spät. Die damit befassten Basalganglien haben das Bewegungsprogramm bereits gestartet.

Kleinhirn

Auch das Kleinhirn ist als ein den Basalganglien ebenbürtiger motorischer Unterausschuss zu verstehen, wenngleich es hier um die Koordination von Außenreizen aus der Umwelt mit Innenreizen aus Gleichgewichtsorgan und Tiefensensibilität im Sinne einer motorischen Koordination geht. Manchmal wird das Kleinhirn auch als „Autopilot“ des motorischen Systems bezeichnet. In einem mitunter nicht ganz einfachen Prozess lernen wir z. B. zu tanzen, Auto zu fahren oder mit einem Fahrrad umzugehen. Einmal gelernt, stehen uns diese „Programme“, die im Kleinhirn abgespeichert sind, automatisch zur Verfügung. Wir müssen beim Schalten des Getriebes oder dem Treten des Pedals unser Bewusstsein nicht dieser motorischen Aktion zuwenden – dies läuft quasi automatisch ab. Auch beim Tanzen können wir, haben wir die Schritte einmal gelernt und im motorischen Gedächtnis unseres Kleinhirns gespeichert, uns wichtigeren Angelegenheiten, beispielsweise der Unterhaltung mit dem Tanzpartner zuwenden.

Großhirnrinde

Über die bisher genannten basalen Strukturen unseres Großhirns wölbt sich die Großhirnrinde, deren tiefe Faltung und Windungen vor allem beim Menschen eine außerordentliche Oberflächenvergrößerung ermöglichen. Diese „grauen Zellen“ sind Sitz unseres bewussten Erlebens, unserer Handlungsplanungen, aber auch differenzierter Repräsentationen und Sinnesverarbeitung sowie gezielter Willkürmotorik. Das Gehirn kann in zwei Hemisphären (Halbkugeln) sowie vier unterschiedliche Lappen aufgeteilt werden: Hier sind Stirn- oder Frontallappen, Schläfen- oder Parietallappen, Scheitel- bzw. Temporallappen sowie Hinterhaupts- oder Okzipitallappen zu nennen.

sensomotorische Hirnrinde

Wir wissen heute, dass das Großhirn eine Reihe von Arealen aufweist, die für bestimmte kognitive Funktionen unverzichtbar sind, ohne sie zugleich vollständig erklären zu können. Es gibt beispielsweise eine sensomotorische Hirnrinde, in der verschiedene Aspekte der von uns ertasteten Welt parallel verarbeitet werden. So kann in eng benachbarten Arealen dieser sensorischen Hirnrinde z. B. die Kälte, aber auch die Härte, die Vibrationseigenschaften o. a. taktile Qualitäten eines von uns getasteten Metallstuhls analysiert und zu einem ganzheitlichen sensorischen Erleben integriert werden. Vor der sensorischen Hirnrinde findet sich das primäre motorische Hirnrindenareal, in dem die Willkürmotorik generiert wird. Wie in Kap. 6 noch zu zeigen ist, findet die Planung einer motorischen Aktion bereits in der präfrontalen Kortexregion statt: Sie wird aktiviert, wenn ich den Plan fasse, eine Banane zu schälen. Die motorische Hirnrinde hingegen tritt in Aktion, wenn der konkrete Plan ausgeführt wird, die Finger also in entsprechender Weise stimuliert werden.

Weder in der motorischen Hirnrinde noch in der sensorischen Hirnrinde geht es gerecht zu: Bestimmte Regionen unseres Körpers, insbesondere die Hände, aber auch die Mundregion sind deutlich überrepräsentiert. Evolutionsbiologisch ist es von außerordentlich großer Bedeutung, dass baumhangelnde Primaten ein gutes Gespür in ihren Händen haben: Ein Affe, der den Ast verfehlt, nachdem er springt, gehört nicht zu unseren Vorfahren. Dies gilt in gleicher Weise für motorische wie sensorische Repräsentation der Handregion in unserer Großhirnrinde. Es ermöglichte letztendlich die Evolution zum Homo faber, dem werkzeuggebrauchenden und manipulierenden Menschen. Auch die relative Überrepräsentation der Mundsensorik und -motorik deutet auf besondere Überlebensvorteile hin: Ein Säugling muss bereits bei der Geburt saugen können, und die Mundregion ist zunächst das führende Organ bei der Erkundung der (taktilen) Welt. Noch ein sechs Monate alter Säugling steckt das, was er „begreifen will“, in den Mund. Aber auch für die Artikulation und damit für das Sprechen sind Mundsensorik und insbesondere Mundmotorik von ausschlaggebender Bedeutung.

Sehrinde

Im hinteren Teil des Okzipitallappens finden wir die primäre Sehrinde, in der Sehinformationen primär verarbeitet werden. Über unterschiedliche Kanäle wird gemeldet, dass sich Formen, Bewegung oder Licht bestimmter Frequenzen gezeigt haben. Diese Informationen werden parallel verarbeitet und an eine Reihe nachgeschalteter visueller Hirnrindenareale weitergeleitet. So gibt es komplexe Zellen, die Kanten zu erkennen in der Lage sind, sowie hyperkomplexe Zellen, die auf bewegte Kanten reagieren. Noch weitere Spezialisierungen können auf Gesichter, Hände o. a. spezifische Objekte reagieren. Wie in Kap. 5 noch detailliert beschrieben wird, setzt sich der Wahrnehmungsprozess aus einer komplexen Verschaltung unzähliger Module zusammen, an der letztendlich bis zu einem Drittel der gesamten Großhirnrinde beteiligt sein kann. Auch auf Ausfälle in diesem Bereich, die als „Agnosien“ bezeichnet werden, wird in diesem Kapitel eingegangen.

Großhirnareale

Es gibt zahlreiche Befunde von Schlaganfallspatienten, bei denen bestimmte und spezifische Hirnareale zugrunde gegangen sind. Dadurch weiß man heute, dass hochspezifische Zentren existieren, die bei speziellen kognitiven u. a. Großhirnleistungen involviert sind:

■So gibt es beispielsweise das Wernicke-Zentrum zum Erkennen und Kodieren von Substantiven sowie das Broca-Sprachzentrum, das vor allem für das Nutzen von Verben und grammatikalische Aspekte der Sprache von Wichtigkeit zu sein scheint (s. hierzu Kap. 7).

■Andere Hirnrindenareale wie z. B. der Gyrus angularis scheinen bei der räumlichen Vorstellung und der Symbol- wie Zahlenzuordnung von besonderer Bedeutung zu sein.

■Wieder andere Hirnareale befassen sich mit taktilen, auditiven oder visuellen Prozessen des Erkennens.

■Auch die Hörrinden (rechts und links) an den Schläfenlappen haben sich spezialisiert – nämlich auf die Verarbeitung auditiver Information, die hier erkannt und teilweise ins Gedächtnis weitergeleitet wird.

■In der präfrontalen Kortexregion schließlich finden wir Aktivitäten bei Handlungsplanung, beim Verstehen komplexer und sozialer Situationen, bei der Verarbeitung emotionaler Erlebnisse (auch in Verbindung mit Gedächtnisinhalten) sowie dem Generieren einer ausgewogenen und adäquaten Reaktion auf das Wahrgenommene.

Der frontale Bereich des Großhirns ist also ganz wesentlich mit Vorgängen verbunden, die wir in gewisser Hinsicht unserer Persönlichkeit zuordnen.

Integration

Das bisher Gesagte könnte zu zwei Missverständnissen führen. Zum einen könnte man meinen, dass es einzelne, möglicherweise sehr viele voneinander unabhängige Zentren gibt, bei deren Ausfall man entweder gar nichts oder fast gar nichts mehr sieht, nicht mehr rechnen kann oder was dergleichen Funktionen mehr sind. Dem ist aber nicht so. Das Gehirn versucht stets, unter allen erdenklichen Umständen die jeweils verfügbaren Informationen zu einer Einheit zusammenzufassen und im Sinne eines ganzheitlich erfahrbaren Erlebnisses zu integrieren. Natürlich kann es beim Ausfall bestimmter Areale dazu kommen, dass bestimmte Details nicht verarbeitet werden können – z. B. können manche Menschen keine Farben wahrnehmen. Dennoch leben sie in einer in sich stimmigen und von ihnen als „echt“ erkannten visuellen Welt. Analoges gilt auch für andere, beispielsweise auditive, Wahrnehmungsstörungen.

Ich-Funktionen

Ein zweites mögliches Missverständnis besteht darin, letztlich eine übergeordnete Stelle in der Hirnrinde zu vermuten, die all die unterschiedlichen Informationen und Hirnaktivitäten zusammenfasst, bewertet oder steuert – sozusagen ein Homunkulus (Menschlein), das von uns dann als Ich erlebt wird, das alles sichtet und nun entscheidet, was zu tun ist. Einen solchen Homunkulus, eine solche übergeordnete Zentrale gibt es nachweislich nicht. Stattdessen entsteht das subjektive Empfinden unseres ichhaften Bewusstseins, wenn unzählige neuronale Zellverbände synchron zusammenarbeiten und miteinander in Verbindung treten. Dabei entscheidet unsere gezielte Aufmerksamkeit, was in der jeweiligen Situation bewusst wahrgenommen und was vernachlässigt wird. Außerdem kommt es bei dieser hochkomplexen integrativen Verschaltung in der Regel eindeutig zu der Fähigkeit, externe Reize und innere Befindlichkeiten zu unterscheiden (eine Fähigkeit, die bei schizophrenen Schüben zeitweilig verloren gehen kann). Der Zugriff zu Gedächtnisinhalten schließlich führt dazu, dass sich das Individuum auch lebensgeschichtlich als Ich definiert: „ich war, ich bin, ich werde sein“.

So kann man zusammenfassend sagen, dass das Gehirn, das komplexeste unserer Organe, aus sehr unterschiedlichen Hirnarealen, quasi Modulen, zusammengestellt ist. Sie sind netzartig miteinander verbunden, und ihre Wirkungen beeinflussen sich gegenseitig. Auf der Grundlage von bioelektrischer Aktivität und chemischer Signalübertragung an den Synapsen gelingt es dem Gehirn, zunächst sehr basal-archaisch, mitunter reflexartig auf äußere Gegebenheiten zu reagieren. Je weiter eine Spezies entwickelt ist und je differenzierter die den basalen Hirnregionen überlagerten Strukturen sind – in letzter Konsequenz das menschliche Großhirn –, desto genauer können Eindrücke der Außenwelt (Sinnesreize) dazu führen, dass eben jene Außenwelt im Gehirn rekonstruiert wird. Das Bild der Welt, das wir uns machen, entspricht zwar nicht der realen Wirklichkeit, ist ihr allerdings angemessen und erlaubt ein adäquates und zielgerichtetes Reagieren auf die Eindrücke von außen. Je differenzierter die Rekonstruktion und Repräsentation der Wirklichkeit im Gehirn, desto genauer und differenzierter ist auch eine motorische Antwort möglich.

Kognition

Letztendlich können menschliche Gehirne auch Probleme ohne Agieren lösen. Ein solches inneres Problemlösen, das, wie Konrad Lorenz formuliert, eine Hypothese sterben lassen kann, ohne dass das Individuum sterben muss, ist evolutionär von Vorteil und wird als „Denken“ oder Kognition bezeichnet. Ursprünglich also als Überlebensorgan gedacht, ermöglicht uns unser Gehirn in Ansätzen, uns selbst bewusst zu werden und die Welt auch in abstrakter Hinsicht zu begreifen.

Die sehr differenzierten und fein abgestimmten Verbindungen und Assoziationen ungezählter neuronaler Subsysteme ermöglichen ein individuelles, dem jeweiligen Zeitpunkt und Ereignis angepasstes Erleben und Verhalten. Die Welt wird mit Hilfe unserer sensorischen Areale in einem neuronalen Muster der Hirnrinde rekonstruiert, mit im Gedächtnis gespeicherten Mustern verglichen, von den Assoziationsbezirken weiterverarbeitet, moduliert und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst. Sie wird z. T. bewusst erlebt, emotional gefärbt und in der Regel durch gezielte und bewusste, mitunter auch unbewusste Reaktionen (Mimik, Gestik, Haltung) beantwortet. Mit Einschränkung wissen wir heute schon sehr viel darüber, welche Läsionen oder biochemische Dysfunktionen zu Ausfällen bestimmter Teilaspekte dieses Geschehens führen. Ein großes Rätsel allerdings ist immer noch, wie diese z. T. schon durch bildgebende Verfahren nachweisbaren Funktionsabläufe in ein inneres Erleben unserer Psyche umschlagen.

Entwicklung

Schließlich ist anzumerken, dass sich die grundlegenden neuronalen Netzwerke nach einem genetisch vorgegebenen Programm entwickeln. Dies geschieht teils schon vor der Geburt, zu einem großen Teil (jedenfalls beim Menschen) nach der Geburt und in der Interaktion mit sensorischen Reizen, die verarbeitet werden müssen. Vor allem durch die Schaffung unzähliger Synapsen, der so genannten Synaptogenese, in den ersten, prägenden Entwicklungslagen eines Kindes reift jedes Gehirn zu einem individuellen, hochkomplexen und einzigartigen Organ, das das Substrat des persönlichen Erlebens ist. Mit diesen Entwicklungsvorgängen befasst sich das folgende Kapitel.

1.2Die Entwicklung des kindlichen Gehirns

Wie wir gesehen haben, beruhen die Leistungen unseres Großhirns, von der willkürlichen Steuerung unserer Grob- und Feinmotorik über die Verarbeitung unterschiedlicher Sinneseindrücke bis hin zu emotionalen und kognitiven Prozessen, auf einer sinnvollen, adäquaten und synchronisierten Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher und hochdifferenzierter neuronaler Subsysteme. Wie entsteht aber diese Anbahnung adäquater Assoziationen?


Nehmen wir an, wir betrachten eine Vase. Angeborene Strukturerwartungen reagieren dabei auf Dunkel-Helligkeits-Merkmale und die damit verbundenen Konturen. Dies führt zu bestimmten visuellen Strukturerwartungen, und unsere Erinnerung lässt darüber hinaus uns bekannte Objekte erkennen. Mit anderen Worten: Dass wir überhaupt etwas erkennen, verdanken wir angeborenen Strukturerwartungen. Um aber eine Vase zu erkennen, muss man bereits zuvor eine Vase gesehen haben.

Nature vs. Nurture

Damit befassen wir uns mit der grundlegenden Frage des „nature versus nurture“, also der Frage, was und wie viel unserer kognitiven Fähigkeiten angeboren ist und was als Prozess eines (möglicherweise lebenslangen) Lernens anzusehen ist. Mitunter wird diese Frage simplifizierend, ggf. sogar in Prozentzahlen beantwortet. So einfach liegen die Dinge in der Wirklichkeit nicht.

Epigenetik

Gene legen fest, was aus uns werden könnte, die Interaktion mit der Umwelt hingegen bestimmt, was aus uns wird. So könnte man holzschnittartig die alte Diskussion des „nurture versus nature“ (Umwelt/Nahrung versus Natur/Veranlagung) umreißen. Wobei wir unter einem Gen (grob vereinfacht) den Abschnitt der DNA verstehen, der für die Bildung jeweils eines spezifischen Eiweißes in der Zelle verantwortlich ist (sog. Ein-Gen-ein-Eiweiß-Hypothese). Doch neben den Genen spielen epigenetische Prozesse (epi: darüber) eine wichtige Rolle. Entscheidend ist nicht nur, welche Gene vorhanden sind und damit potenziell Eiweiße bilden können, mindestens ebenso entscheidend ist, ob sie es tatsächlich tun. Gene können blockiert, an- oder abgeschaltet werden. Dies geschieht maßgeblich über das Andocken von Methyl- oder Acetylgruppen (wobei die Methylgruppen vor allem einen hemmenden und blockierenden Effekt haben). Es sind nun Umweltfaktoren, insbesondere das biochemische Milieu, das bereits in der frühen Keimphase je nach Position der Zelle sehr unterschiedlich ist, die dafür sorgen, ob Gene aktiv oder blockiert werden. Und in dieser frühen Entwicklungsphase des Menschen führen Methylierungs- und Blockierungsprozesse dazu, dass Gene gänzlich abgeschaltet, andere in besonderer Weise zur Funktion angeregt werden – dass sich also mithin Zellen spezialisieren. Eine Nervenzelle kann – abgesehen von der Fähigkeit, sich zu teilen, sich mit Nährstoffen zu versorgen und zu überleben – im Wesentlichen elektrische Informationen weiterleiten. Eine Muskelzelle hingegen hat sich darauf spezialisiert, sich zu kontrahieren. Diese Zellen sind – anders als die erste befruchtete Eizelle und einige Stammzellen – nicht mehr omnipotent, sie haben sich spezialisiert.

Hinsichtlich der Entstehung von Behinderungen bzw. Entwicklungsstörungen ist festzuhalten, dass genetisch bedingte Veränderungen nur dann vorliegen, wenn die Erbinformation auf der DNA verändert ist, also bereits im Stadium der befruchteten Eizelle (beispielsweise als Folge von Genmutationen). In den überwiegenden Konstellationen hingegen handelt es sich um das Vorliegen einer Vulnerabilität (Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen) durch das Zusammenwirken sehr vieler verschiedener Gene. Diese genetischen Prädispositionen interagieren jedoch ihrerseits mit Faktoren, die auf den werdenden Menschen im Mutterleib einwirken. So können Teratogene (Gifte) zu Fehlfunktionen führen oder die Entwicklung behindern. Aber auch andere Einwirkungen können Einfluss auf die weitere Entwicklung bzw. Fehlentwicklung nehmen. Neben akuten und chronischen Erkrankungen der werdenden Mutter können auch schwere psychische wie physische Belastungen der Mutter negative Folgen für die kindliche Entwicklung haben (beispielsweise Hunger, Situationen von Krieg, Flucht und Vertreibung, Traumen und posttraumatische Belastungsstörungen, Gewalterfahrungen usw.).

Genetische wie epigenetische Faktoren führen dazu, dass sich das menschliche Gehirn in der Embryonal- und Fetalphase in einer bestimmten Weise entwickelt, dass insbesondere überlebenswichtige Erkenntnis- und Reaktionsprogramme sowie die hierfür notwendigen Hirnareale ausgebildet werden und jedem Menschenkind bei der Geburt zur Verfügung stehen.

Schauen wir uns die Entwicklung des menschlichen Gehirns etwas genauer an.

Intrauterine Entwicklung

Neurogenese

Intrauterin beginnt sie mit dem Entstehen der so genannten Neuralplatte in der dritten Schwangerschaftswoche. Daran schließt sich die Neurogenese, die Entstehung der ersten Nervenzellen, an. In der Embryonalzeit (den ersten drei Schwangerschaftsmonaten) werden wesentliche Teile des Gehirns angelegt, wenngleich noch nicht voll entwickelt: das Stammhirn, diverse Zwischenhirnstrukturen sowie in Ansätzen die Großhirnrinde. In der sich daran anschließenden Fetalzeit werden diese Strukturen weiterentwickelt, vergrößert und differenziert. Während der Organanlage in der Embryonalzeit ist das kindliche Gehirn besonders empfindlich und muss insbesondere vor toxischen Schädigungen geschützt werden. Dies könnte möglicherweise eine starke Empfindlichkeit der Mutter vor potenziell verdorbenen Speisen sowie das häufig anzutreffende Schwangerschaftserbrechen erklären.

Die Nervenzellen entwickeln sich in unterscheidbaren Entwicklungsschüben. Die Entstehung der Nervenzellen (Neurogenese) setzt in der dritten Schwangerschaftswoche ein, erreicht ihren Höhepunkt in der siebten Schwangerschaftswoche und ist nach 18 Wochen weitgehend abgeschlossen. Man mache sich klar: Da danach so gut wie keine Nervenzelle neu entsteht, besitzt der Embryo bereits alle Nervenzellen, die der 70-jährige Erwachsene später aufweist. Die Geschwindigkeit der Neurogenese ist atemberaubend. Im Durchschnitt werden in der Embryonalphase eine halbe Million Nervenzellen pro Minute gebildet.

Migration

Eine zweite Phase wird als „ Migration“ bezeichnet: Darunter verstehen wir den Prozess, in dem Nervenzellen an den Ort ihrer Bestimmung wandern und somit erste, basale Hirnstrukturen bilden. Dieser, ebenfalls pränatale Prozess ist weitgehend genetisch gesteuert und biochemisch getriggert. Nervenwachstumsfaktoren und Oberflächensubstanzen des Gewebes weisen den Nervenzellen den Weg. Folglich können nicht nur genetische Fehlinformationen (mitunter reicht die mangelhafte Synthese eines einzigen Proteins), sondern auch toxische Einflüsse während der Schwangerschaft diesen Prozess erschweren. Wenn man also angesichts unterschiedlicher Behinderungen und psychischer Erkrankungen von einer „Vulnerabilität“ spricht, meint man in vorgeburtlicher Hinsicht ein mögliches Zusammenwirken genetischer sowie intrauterin-milieubedingter Störungen.

Synaptogenese

Um die Mitte der Schwangerschaft haben die meisten Nervenzellen ihre endgültige Position erreicht, und sämtliche wichtigen Hirnstrukturen sind entstanden. Sie können allerdings größtenteils noch nicht ihre Funktion aufnehmen, da sie nur sehr wenige Verbindungen zueinander haben. Das ändert sich mit der beginnenden Synaptogenese, der Bildung der Verschaltung der Nervenzellen untereinander, die sehr viel länger dauert als die bisher beschriebenen Phänomene der Neurogenese und Migration. Wie in Kap. 1.1 bereits gesagt, kann jede einzelne Nervenzelle bis zu 10.000 synaptische Verbindungen zu anderen Nervenzellen aufnehmen. Diese „Verdrahtung“ dauert die gesamte zweite Hälfte der Schwangerschaft und einen großen Teil des ersten extrauterinen Lebensjahres an. Viele Prozesse reichen bis in das zweite Lebensjahr, und letztendlich ist die gesamte Kindheit und Pubertät, ja das gesamte menschliche Leben von Lernerfahrungen und den damit verbundenen neu entstehenden Synapsen gekennzeichnet.

Myelinisierung

Bevor wir auf die Zusammenhänge zwischen Lernprozess und Synaptogenese noch etwas näher eingehen, soll noch auf den letzten Schritt der Hirnreifung, die Myelinisierung, eingegangen werden: Wie wir in Kap. 1.1 gesehen haben, werden die Axone von markhaltigen Stützzellen umwickelt, was als „Myelinisierung“ bezeichnet wird und nicht zuletzt die Erregungsweiterleitung wesentlich verbessert. Eine abgeschlossene Myelinisierung ist also mit einer endgültigen Reifung des Nervensystems gleichzusetzen. Es fällt auf, dass bei der Geburt hauptsächlich und wesentlich Stammhirn- und z. T. Zwischenhirnstrukturen diesen Myelinisierungsprozess aufweisen. Das Kleinhirn und insbesondere das Großhirn hingegen myelinisieren weitestgehend nicht, sind also unreif. Damit kommen wir neben den genetisch festgelegten Entwicklungsbahnen des Gehirns zum zweiten wesentlichen Phänomen der kindlichen Hirnentwicklung – der Plastizität und Prägbarkeit dieses Organs.

Entwicklung nach der Geburt

Hirnreifung1. Lebensjahr

Das Neugeborene kommt mit einem proportional großen Kopf auf die Welt, was die Geburt für Mutter wie Kind zu einem mühseligen Unterfangen macht. Es braucht aber hinsichtlich der Reifung basaler Fähigkeiten noch fast ein volles extrauterines Jahr, weswegen der Mensch von Portman als „pyhsiologische Frühgeburt“ apostrophiert wird. Die relative Unreife des menschlichen Gehirns (im Vergleich zu seinen nächsten tierischen Verwandten) ermöglicht andererseits eine hohe Plastizität und Prägbarkeit dieses Organs durch peristatische, also umweltbedingte, Einflüsse. Darin dürfte wohl auch der evolutionäre Sinn dieses Geschehens liegen.

Motorik

Bei der Geburt sind vor allem die lebenswichtigen Stammhirnfunktionen voll ausgereift: Sie ermöglichen das Atmen, die Regulierung der Kreislauffunktionen und des Darmhaushaltes (jedenfalls in gewissen Grenzen, weswegen Säuglinge einer besonderen Pflege bedürfen), der Reaktion auf Hungergefühle sowie zahlreiche motorische Automatismen: Bei Berühren der Wange wird beispielsweise der Mund dem taktilen Reiz zugewandt, woraufhin das Kind zu saugen beginnt – gleichgültig ob es sich um die mütterliche Brust oder den väterlichen Finger handelt. Zweifellos ist dieser Saugreflex überlebensnotwendig. Andere im Stamm- und Zwischenhirn verankerte motorische Programme, die ebenfalls ausgereift sind, werden in Kap. 6, das sich mit der Motorik befasst, näher beschrieben.

Andererseits ist, wie bekannt, das motorische Repertoire des Säuglings durch Massenbewegungen und basale, archaische Reflexe geprägt. In einem über ein Jahr dauernden Entwicklungsprozess reifen die motorischen Strukturen des Gehirns (vor allem des Kleinhirns und der motorischen Großhirnrinde) dergestalt heran, dass hinsichtlich der Grobmotorik das Kind über das Krabbeln, Robben und Aufrichten zum freien Laufen gelangt. Analog kann die Feinmotorik von den primitiven Haltereflexen über das Fäusteln und die Mund-Hand-Koordination zum Pinzettengriff fortschreiten. Dies alles ist genetisch festgelegt – einem gesunden Kind braucht nicht beigebracht zu werden, wie man läuft oder greift. Es erlernt dies von alleine, sofern es in diesem natürlichen Entwicklungsprozess nicht behindert wird.

Sehen

In weiten Teilen verläuft auch die Sehentwicklung ähnlich, doch gibt es hier bereits erste Unterschiede, auf die einzugehen an dieser Stelle wichtig ist: Wie in Kap. 5 noch näher zu zeigen ist, sind die Augen des Neugeborenen zwar voll entwickelt, seine Netzhaut und vor allem seine visuelle Hirnrinde hingegen sind noch relativ unreif und reifen in den ersten sechs Monaten nach. Was ein Kind erkennt, hängt maßgeblich von der Reife seiner Hirnrinde ab. Die allerdings reift in Auseinandersetzung mit der visuellen Umwelt, also den optischen Reizen, die dem Säugling angeboten werden. Ist beispielsweise ein Auge sehgeschädigt, so kann es geschehen, dass die Hirnrinde vorrangig die Sehinformationen des „stärkeren“ (bzw. gesunden) Auges verarbeitet. Die für das kontralaterale Auge zuständigen Areale verkümmern also oder treten in den Dienst des „gesunden“ Auges. Die Folge kann im harmlosen Fall ein Verlust des räumlichen, biokularen Sehens sein. Im Extremfall ist aber auch eine „Erblindung“ möglich, und zwar selbst dann, wenn das Auge später z. B. durch Operationen geheilt wird – die notwendigen Hirnareale sind nicht rechtzeitig angelegt worden.

Entwicklungs-fenster

Offensichtlich gibt es „Entwicklungsfenster“, in denen sich unwiderruflich entscheidet, was unser Gehirn wahrzunehmen und zu verarbeiten in der Lage ist. Dies zeigt sich auch bei der Sprachentwicklung. Einerseits hat jedes gesunde Kind die Fähigkeit, prinzipiell eine jede auf Erden gesprochene Sprache zu erlernen. Die bei zunehmender Reifung der dafür vorgesehenen Hirnzentren entstehenden „Sprachmodule“ und ihre Vernetzungen ermöglichen es dem Säugling in einer wohl definierten, zeitlichen Reihenfolge, zunächst Objekte sprachlich zu kodieren (und somit zum Einwort-Satz zu kommen). Mit der Reifung weiterer Hirnareale können auch Handlungen kodiert werden, was Verben, ihre Flexion und die Grammatik in die Welt bringt. Auch diese Entwicklung wird an anderer Stelle, nämlich in Kap. 7, näher beschrieben. Wichtig ist nun, dass eine genetisch festgelegte Reifung der dafür notwendigen Hirnareale dazu führt, dass im Normalfall jedes Kind seine Muttersprache ohne große Probleme erlernt, und zwar im Dialekt seiner Umgebung. Dies ist allerdings nur innerhalb der ersten drei bis vier Jahre problemlos möglich. Kinder, die in dieser Zeit sprachlich depriviert werden, haben extreme Schwierigkeiten, diese Defizite nachzuholen. Bei völliger Isolation kann der Spracherwerb sogar unmöglich sein.

Wir sehen: Dass ein Kind eine Sprache erlernt, ist genetisch angelegt. Welche Sprache es erlernt, ist kulturabhängig. Wir sehen weiterhin: Die relative Unreife des menschlichen Gehirns kann durchaus als evolutionärer Fortschritt gewertet werden – ermöglicht sie dem Gehirn doch, in wichtigen Prägephasen (vielleicht sollte man besser von Entwicklungsfenstern sprechen) in der Interaktion mit der Umwelt Lernerfahrungen zu machen, die sich auch auf die neuroanatomische Feinstruktur des Gehirns auswirken. Vereinfacht kann man sagen: Die Grobverschaltung des Gehirns ist genetisch festgelegt und wird vor allem intrauterin durch chemische Substanzen getriggert. Dabei entstehen in etwa doppelt so viele Nervenzellen, als der Mensch später benötigt. Auch die Synaptogenese führt zu einem erheblichen Überschuss an Synapsen. Das macht die Verschaltungen relativ „grob“ und führt zu zahlreichen Überlappungen und Ungenauigkeiten.

Feinabstimmung

Die „Feinabstimmung“ allerdings vollzieht sich in der Interaktion der bereits gereiften neuronalen Subsysteme mit den peristatischen Informationen aus der Umwelt in prägenden Entwicklungsphasen. Dabei werden zum einen die neuronalen Module und Bahnen, die häufig gebraucht werden, gefestigt. Auch entstehen mit jedem Lernvorgang zahlreiche neue Synapsen, die durch wiederholten Gebrauch ebenfalls gefestigt werden. Andererseits gehen nicht nur etwa die Hälfte aller (überflüssigen) Synapsen, sondern auch ein Großteil nicht gebrauchter Neurone im Laufe dieses Entwicklungsprozesses zugrunde. Die Hirnreifung besteht also darin, dass genetisch angelegte neuronale Systeme verfestigt und verfeinert werden, indem überschüssige Zellen und Synapsen eliminiert und die tragfähigen, brauchbaren Strukturen erhalten und gefestigt werden. Den Abschluss dieser Entwicklung bildet die Myelinisierung, die die nun entstandenen und oft dauerhaften neuronalen Netze in ihrer Effizienz verstärkt. Erst mit diesem letzten Schritt bildet sich beispielsweise die Fähigkeit des bleibenden episodischen Gedächtnisses, das wir etwa ab dem dritten bis vierten Lebensjahr erwarten dürfen.

Entwicklungs-störungen

Dieser Prozess der kindlichen Hirnentwicklung ist durchaus störungsanfällig – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wie schon erwähnt, können genetische sowie intrauterine „Störungen“ zu einer Verletzlichkeit (Vulnerabilität) neuronaler Subsysteme führen. Aber auch physische (Infektionen, Flüssigkeitsmangel, Impfschäden) wie psychosoziale (Deprivation, Traumen, Stresssyndrome) Schädigungen vor allem im ersten Lebensjahr können sich in erheblichem Maße negativ auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns und seine Funktionen auswirken. Dies gilt nicht nur für den motorischen und sensorischen, sondern in besonderem Maße auch für den emotionalen, sprachlichen und kognitiven Bereich. In den entsprechenden Kapiteln wird hierauf detaillierter einzugehen sein. Was heißt dies nun für die Pflege und Erziehung des Kindes?

Pflege und Erziehung

Das Gehirn entwickelt sich stürmisch in der pränatalen Phase und im ersten Lebensjahr. Die Entwicklungsgeschwindigkeit verlangsamt sich zwar, doch kommt sie, was den physiologischen Prozess angeht, erst gegen Ende der Pubertät zum Stillstand. Auch danach ist das Gehirn bis an unser Lebensende plastisch. Aber die eben beschriebenen Vorgänge weisen darauf hin, dass es für zahlreiche motorische, sensorische und kognitive Fähigkeiten des Menschen sensible Phasen, Entwicklungsfenster, gibt, in denen Fähigkeiten wie das Gehen, die Sprache o. a. optimal erlernt werden. Manche dieser Fenster sind relativ breit und unspezifisch, andere sehr eng und hoch spezifisch: Den Dialekt unserer Muttersprache erlernen wir nur in den ersten Lebensjahren. Das Wissen um solche Entwicklungsfenster kann gar nicht ernst genug genommen werden und wird deswegen für jede in diesem Buch beschriebene kognitive Fähigkeit an gegebener Stelle vertiefend erläutert.

1.3Biochemische Grundlagen

Wie wir gesehen haben, können spezifische Rezeptorstellen an den Dendriten durch für sie charakteristische chemische Substanzen so verändert werden, dass Ionenkanäle geöffnet werden und somit ein bioelektrischer Reiz entsteht.

neurotrop/psychotrop

Solche chemischen Substanzen beeinflussen also die Erregung und werden als „neurotrop“ oder „psychotrop“ – auf das Nervensystem bzw. die Psyche wirkend – bezeichnet. Zu diesen Substanzen gehören zunächst die Neurotransmitter, spezifische Botenstoffe unseres Nervensystems, die wesentlich im Dienst der Erregungsübertragung stehen. Sie versorgen oft zielgerichtet ganz bestimmte Erregungsbahnen. Neurotransmitter können einfache Aminosäuren sein, wie z. B. das Glutamat. Sie können aber auch aus Nahrungsbestandteilen zu Monaminen synthetisiert werden, wie etwa das Dopamin oder Noradrenalin. Schließlich gibt es großmolekulare Peptide, die als Neurotransmitter fungieren können.

Hormone

Hormone haben einen größeren Wirkradius, da sie in der Regel über das Blutsystem viele Organe erreichen. Auch sie können gezielt das Nervensystem beeinflussen, beispielsweise die körpereigenen Endorphine, die an zentralen Stellen der Schmerzbahnen eingreifen. Auch in der Natur vorkommende pflanzliche Stoffe (bzw. Pflanzengifte) können beim Menschen psychische oder neurophysiologische Wirkungen hervorrufen: z. B. das eine Atemlähmung verursachende indianische Pfeilgift Curare, aber auch das aus der Koka-Pflanze gewonnene Kokain oder die Opiate des Schlafmohns.

Vom Menschen extrahiert, chemisch verändert oder synthetisiert können solche Stoffe als Drogen genommen werden, um eine höchstmögliche (oft gefährliche) psychische Wirkung zu entfalten. Schließlich können, völlig neu synthetisiert oder sich von pflanzlichen Wirkstoffen herleitend, psycho- oder neurotrope chemische Substanzen entwickelt werden, die als Psychopharmaka eingesetzt werden. Als Beispiel wären hier Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer zu nennen.

Wirkmechanismen

Prinzipiell sind unterschiedliche Wirkmechanismen vorstellbar, um die Wirkung von psychotropen Substanzen – seien sie Drogen oder Arzneimittel – zu erklären: So kann bereits die Produktion eines Neurotransmitters in der „Senderzelle“ blockiert oder gehemmt werden, wie dies z. B. bei manchen Antidepressiva der Fall ist. Das Medikament kann aber auch – wie im Falle des Naloxons, eines Mittels, das bei Opiatvergiftungen gegeben wird – den Rezeptor der Empfängerzelle blockieren. Somit kann der Neurotransmitter (oder das zuvor gegebene Rauschmittel) nicht mehr „andocken“. Auch der Abbau des spezifischen Neurotransmitters kann verzögert oder manipuliert werden: Er ist dann länger wirksam. Beispiele für diesen Mechanismus finden wir bei manchen Neuroleptika und Antidepressiva. Schließlich können psychotrope Substanzen massiv in den Stoffwechsel der empfangenden postsynaptischen Strukturen eingreifen, was als Beeinflussung des „second messenger systems“ (indirekte Wirkung über „zweite Boten“) bezeichnet wird.

Oft sind es strukturelle Ähnlichkeiten auf molekularer Ebene, die, beispielsweise bei Morphin und seinem Gegenspieler Naloxon, am Rezeptor wirken: An bestimmten Stellen kann sich Naloxon im Rezeptor einklinken, so dass das Morphin an dieser Stelle seine Wirkung nicht mehr entfalten kann. Eine solche Strukturähnlichkeit liegt immer dann vor, wenn Medikamente oder Suchtstoffe einen Neurotransmitter „imitieren“, am Rezeptor andocken und somit den natürlichen Botenstoff blockieren (so dass das Medikament hemmend wirkt). Bei anderen Wirkstoffen kann dieses Andocken aber auch dazu führen, dass das Medikament selbst die Neurotransmitterfunktion erfüllt und somit die Zelle erregt.

Hemmung und Erregung

Neurotransmitter können, so wurde bereits gesagt, prinzipiell erregenden oder hemmenden Einfluss haben. Ob ein Neuro-transmitter hemmende oder erregende Wirkung entfaltet, hängt von der Beschaffenheit der Membran ab, an deren Rezeptoren er andockt. Manche Neurotransmitter, wie z. B. das Dopamin und das Noradrenalin, wirken fast ausschließlich an erregenden Synapsen, andere, wie etwa die Gamma-Aminobuttersäure (GABA), praktisch nur hemmend. Acetylcholin schließlich kann, je nach Wirkungsort, hemmend oder erregend wirken.

Es wäre also völlig falsch, einem bestimmten Neurotransmitter eine grundsätzliche und ausschließliche Funktion zuzuordnen. Dies gilt insbesondere für komplexere Verhaltensweisen oder psychisches Erleben: Serotonin beispielsweise ist maßgeblich an unseren Stimmungen, insbesondere auch der Trauer, beteiligt. Ein Mangel an dieser Substanz kann durchaus zur Emotion der Trauer beitragen. Dennoch ist Serotonin nicht „der Grund der Trauer“ (dies sind in der Regel erlebte Ereignisse, vor allem Verluste), sondern lediglich ein biochemisches Korrelat in einem sehr komplexen Verarbeitungssystem. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass erst sehr komplexe neuronale Verschaltungen, Module mit zehntausenden, manchmal Millionen beteiligter Nervenzellen, im Zusammenhang mit den ihnen zugrunde liegenden Neurotransmittern dazu beitragen, eine Reaktion, Stimmung oder ein psychisches Erleben hervorzurufen. Dies ist aber bereits die kombinierte physiologische und chemische Reaktion auf einen inneren (z. B. Hungergefühl) oder äußeren (z. B. Bedrohung) Stimulus, der nun zerebral verarbeitet wird. Mit anderen Worten: Trauer lässt sich nicht biochemisch „heilen“. Allerdings lassen sich neuronale Systeme und die ihnen zugrunde liegenden biochemischen Prozesse durch chemische Substanzen beeinflussen, meist noch relativ ungezielt, wie weiter unten zu zeigen ist.

Von den 50 mittlerweile gut untersuchten Neurotransmittern unseres Gehirns (es gibt wesentlich mehr potenzielle Neuro- transmitter) und einigen anderen chemischen Substanzen listet Tab. 1.1 die wichtigsten auf. Dabei werden die Neurotransmitter und die Hauptbahnen, an denen sie beteiligt sind, sowie die damit assoziierten Funktionen und Funktionsstörungen kurz benannt. Eine weitere Rubrik listet Drogen bzw. psychotrope Medikamente auf, die mit diesen Neurotransmittern und Bahnen in Verbindung gebracht werden können. Vor allem hinsichtlich der Funktionen sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Neuro-transmitter einen zwar nicht unwichtigen, aber dennoch nur partiellen Beitrag an komplexen Reaktionen und Erlebnisweisen leisten. Sie sollten demnach keinesfalls als „Verursacher“ verstanden werden.

Tab. 1.1: Die wichtigsten Neurotransmitter und psychotropen Substanzen (nach Hülshoff in Trost/Schwarzer 2009, 56)

Neurotrans-mitter oder Hormon Haupt-Wirkort Wirkung Auswirkungen von Störungen chemisch verwandte Substanzen (Drogen, Medikamente)
Acetylcholin Motorische Endplatte, Zwischenhirn, Basalganglien Stabilisierung des Muskel-tonus, Gedächtnis-modulation a) Lähmungen b) Mb. Alzheimer
Dopamin a) Hypothalamus- Hypophyse b) Basalganglien c) Limbisches System/Stirn- lappen Erregender Neurotrans-mitter im „Belohnungssystem“ a) Mb. Parkinson b) Schizo- phrenie Neuroleptika verringern, Dopaminergika verstärken Dopaminwirkung.
Noradrenalin vom Lokus coeruleus ins gesamte Gehirn Regulierung von Wachsamkeit und Erregung Depression, Sucht-verhalten selektiveAntidepressiva, Amphetamine, Kokain
Serotonin vom Stammhirn zum gesamten Gehirn Schlaf-Wach-Rhythmus, Gefühlserleben u. a. Depression selektive Antidepressiva, LSD
Gamma-Amino-Buttersäure erregungs-hemmender Neurotransmitter Feinsteuerung, Erregungs-hemmung u. a. Angstsyndrome, Sucht Alkohol, Barbiturate, Tranquilizer
Endorphine Zwischenhirn, Limbisches System Belohnungs-system, analysierend, euphorisierend Sucht Morphium, Opium, Heroin, Methadon
Adrenalin u. a. vegetatives Nervensystem Stresshormon, „flight and fight reaction“ Stress, Erschöpfungssyndrom

1.4Übungsfragen und Literaturhinweise


Überprüfen Sie Ihr Wissen!

1.Wie erklären Sie sich die Plastizität des menschlichen Gehirns in der Kindheit?

2.Erläutern Sie die Prinzipien, nach denen Informationen im zentralen Nervensystem weitergeleitet werden.

3.Warum kann man den Thalamus als „Vorzimmer des Bewusstseins“ bezeichnen?

4.Warum ist es möglich, dass Psychopharmaka und Drogen das Bewusstsein beeinflussen können?


Literaturhinweise

Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R. F. (Hrsg.) (2001): Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. Berlin/Heidelberg/New York

In diesem gut illustrierten, nicht immer leicht zu lesenden Fachbuch werden grundlegende Aspekte tierischen und menschlichen Erlebens ebenso informativ wie detailliert behandelt.

Eliot, L. (2010): Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. Berlin

Gut verständliche, ausführliche Übersicht über die neuro- und sinnesphysiologischen Entwicklungsprozesse vor und nach der Geburt sowie in den ersten fünf Lebensjahren.

Hülshoff, Th. (20083): Das Gehirn. Funktion und Funktionseinbußen. Göttingen/Bern/Toronto/Seattle

Übersicht über Gehirnfunktion und Funktionseinbußen, die sich an pflegende, beratende und soziale Berufe wendet.

Hüther, G. (20094): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen

In leicht lesbarer, bildreicher Sprache befasst sich der Neurobiologe und Arzt mit der Frage, wie man mit seinem Gehirn umgehen sollte, damit es zur vollen Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten kommen kann.

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik

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