Читать книгу Dwarfencast - Thomas Hoffmann - Страница 3
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ОглавлениеDie meisten Abenteuer fangen in einem Wirtshaus an. Ich habe keine Ahnung, warum. In Wirklichkeit fangen sie wohl zu gar keinem bestimmten Zeitpunkt an. Dinge geschehen, man begegnet Leuten und irgendwann findet man sich in einem Strudel von Ereignissen wieder, die unweigerlich ihren eigenen Lauf nehmen. Doch woran man sich im Nachhinein erinnert, ist die eine folgenschwere Begegnung in irgendeinem Wirtshaus.
Erst, als es zu spät war, wurde mir klar, dass es Abenteuer nur im Märchen gibt. Was anfangs wie ein Abenteuer anmutete, wurde ein Kampf ums nackte Leben, ein verzweifelter Versuch, noch zu retten, was mir geblieben war von allem, wofür ich lebte.
Dem Mann, dessen Visionen mein Leben verändert haben, begegnete ich zum ersten Mal im Landgasthof „Zum einäugigen Piraten“. Die aus Feldsteinen errichtete, schindelgedeckte Schänke stand nicht weit von meinem Heimatdorf an der Steilküste bei der Landstraße nach Torglund. Brögesand hatte damals vielleicht fünfzig oder sechzig Einwohner. Zwischen den gedrungenen Hütten und zum Trocknen aufgespannten Fischernetzen tobten magere Kinder umher. Sie hatten nur wenige Kleidungsfetzen auf dem Leib. Die Alten saßen im Schatten der niedrigen Reetdächer, rauchten ihre Pfeifen oder flickten an den Netzen.
Die Fischerhütten drängten sich in den hinteren Teil einer sandigen Bucht. Ein wenig abseits lag Bredurs Dorfschmiede. Aus dem gemauerten Schornstein der Schmiede stieg von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Rauch und den ganzen Tag über war Bredurs Schmiedehammer zu hören. Im Süden wie im Norden erstreckte sich hohe Steilküste. Am Südrand der Bucht ragte eine schmale Landzunge ins Meer. Bei Ebbe wurden zwei oder drei Steinwürfe vor der Landzunge die Felsen sichtbar, die dort unter der Wasseroberfläche lagen - eine ständige Gefahr für die zerbrechlichen Kähne, in denen wir mit unseren Vätern Tag für Tag durch die Brandung auf die See zum Fischen hinausruderten.
Die Landstraße, die an unserem Dorf entlangführte, war kaum mehr als eine sandige, von Händlerkarren in den Lehmboden gegrabene Spurrinne durch die grasbewachsene Küstenlandschaft, in der nur hier und da ein gedrungener Busch dem Wetter trotzte. Die Fahrrinne zweigte östlich von Brögesand von der Überlandstraße ab, welche die Kaiserstadt Klagenfurt mit der Hafenstadt Torglund im Norden verband. Die Händler, die diese Fahrrinne entlang kamen, waren raubeinige Leute auf von Eseln oder Schindmähren gezogenen Karren. Viele trugen schartige Schwerter und wurden von Männern begleitet, denen anzusehen war, dass sie für wenige Kreuzer jeden Auftrag annahmen. Die Karawanen der Tuchhändler und der reichen Kaufleute zogen mit ihren Söldnertruppen auf der Überlandstraße von Torglund nach Klagenfurt. Doch unser Dorf lebte vom Handel mit Krämern und armen Handelsleuten. Und sie lebten von dem, was sie in Brögesand erhandelten.
Die Händler kamen im Frühjahr, wenn die ersten Stürme vorüber waren und noch einmal im Herbst wenn das Wetter umschlug und der Wind kalte Regenschauer über die Küste peitschte. Sie kamen in den Tagen nach Neumond. Wenn die Händlerkarren heranzuckelten, wurde das Dorf lebendig. Kinder liefen jubelnd umher. Die Frauen legten Bretter über Böcke und stellten Bänke auf. Sie brachten getrockneten Fisch, Bier und Met in Tonkrügen. Die Männer standen schweigend dabei. Sie würden den Handel führen. Dabei ging es laut und derb zu. Es wurde viel getrunken. Oft dauerte der Handel bis in die Nacht. Die Kinder bekamen Zuckerbrötchen, Rosinen und Obst. In meiner Kindheit waren die wenigen Tage, die unser Dorf im Frühjahr und im Herbst von den Händlern besucht wurde, die großen Festtage im Jahr. Waren die Händler abgezogen, hatten wir Weizen, Öl, Tabak und Fässer voller Pökelfleisch. Neue Kleider und Gerätschaften waren eingetauscht worden. Der Wohlstand und der Reichtum, den die Händler uns brachten, war das Großartigste, was ich mir damals vorstellen konnte.
Später jedoch, als ich größer wurde, konnte ich keine Freude an diesen Festtagen mehr empfinden. Eine Zeit lang versteckte ich mich sogar und kam erst wieder aus der Ecke unserer Hütte hervorgekrochen, wenn der Festlärm vorbei und die Händler abgezogen waren.
Ich erinnere mich deutlich an den grauen Morgen, an dem ich den ertrunkenen Seemann am Strand fand. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Es war im Frühjahr in den Tagen nach Neumond. Ich war in aller Frühe aus dem Haus gerannt. Mutter hatte den Wasserkessel aufs Feuer gesetzt. Tante Lines Kinder und ich sollten der Reihe nach in dem großen Waschzuber mit Kernseife und Bürste abgeschrubbt werden. An diesem Morgen ergriff ich die Flucht vor der verhassten Prozedur. Und da fand ich ihn zwischen zerbrochenen Schiffsplanken, Fässern und Kisten an den Strand gespült, mit seltsam verrenkten Gliedern. Sein Haar und seine Kleider waren klatschnass. Die glasigen, gebrochenen Augen blickten zu den Wolken, die über den grauen Himmel jagten. Der Mund war aufgerissen und entblößte die gelben, schiefen Zähne.
Ich konnte es lange Zeit nicht fassen. Ich krallte mich in den Rock meiner Mutter, versteckte mein Gesicht in ihrem Schoß und heulte und schrie. Sie fuhr mir mit ihren rauen Händen durchs Haar, sagte kein Wort. Ich prügelte mit meinen kleinen Fäusten auf Vater ein.
„Warum?“ - „warum?“ schrie ich immer wieder.
Er fasste mich an den Schultern, biss auf seine Pfeife und blickte mir fest in die Augen. Sein wettergegerbtes Gesicht war in Tabakrauch gehüllt.
Zwischen den Zähnen hindurch erwiderte er mir: „Von getrocknetem Fisch allein kann man an dieser Küste nicht leben, Leif. Davon kann man nur ein Bettlerdasein fristen. Später wirst du es verstehen. Wenn du größer bist, nehmen wir dich in den Neumondnächten mit auf die Klippe.“
Mit der Zeit legte sich das Entsetzen. In dem Jahr, in dem ich zwölf wurde, war ich zum ersten Mal dabei, als die Männer in einer stürmischen Neumondnacht zu Beginn der Schifffahrtssaison nach Einbruch der Dunkelheit auf der Spitze der Landzunge ein großes, weithin sichtbares Feuer entfachten. In dieser Nacht geschah nichts. Die Männer waren missmutig. Die ganze Nacht hindurch bis zum Einbrechen der Morgendämmerung schlug mir das Herz bis zum Hals. Der tote Seemann stand mir vor Augen.
In den folgenden Nächten weigerte ich mich, hinauszugehen. Ich lag mit klopfendem Herzen auf meiner Schlafstelle und starrte in die Dunkelheit. Jeden Moment glaubte ich, das Splittern von Planken hören, glaubte durch den stürmischen Wind die Hilfeschreie und Stoßgebete Ertrinkender zu erahnen. Doch als die Männer am dritten Morgen durchnässt und erschöpft mit Kisten und Fässern, mit Segelbahnen voller Beutegut zu den Hütten zurückkamen, hatte ich in der Nacht überhaupt nichts gehört. Nur der immerwährende Wind hatte an Fensterläden und am Türriegel gerüttelt.
***
Ich bin Leif Brogsohn. Das Handwerk, das ich von meinem Vater erlernt habe, ist das Seeräuberhandwerk. Wenn zu Beginn und zum Ende der schiffbaren Zeit Sturmböen von der See her landeinwärts wehten und die Handelsschiffe hart am Wind segeln mussten, um nicht gegen die Küste getrieben zu werden, dann entfachten die Männer unseres Dorfs draußen auf der Landzunge in den mondlosen Nächten ein großes Richtfeuer. Die Kapitäne, die sich zu diesen Jahreszeiten von den höheren Frachtgewinnen verleiten ließen, die Fahrt von den Häfen im Süden nach Torglund zu riskieren, mussten in der Nachtschwärze glauben, es handle sich um das Richtfeuer von Zwiesund, wo die Küste steil nach Osten abknickt und die Schiffe zwischen einer wenige Meilen im Meer liegenden Felsengruppe und der Küste hindurchsteuern mussten, um den letzten Küstenabschnitt vor Torglund zu erreichen. Die Schiffe steuerten vom Feuer geleitet nah ans Ufer heran, wo sie den unter der Wasseroberfläche liegenden Felsen kaum je entkommen konnten. Der Sturm tat sein übriges, die gegen die Felsen geschleuderten Schiffe zu zerbrechen. Unsere Männer hatten lediglich das treibende Frachtgut aufzufischen und in ihren wendigen Kähnen an Land zu schaffen. Häufig begaben sie sich dabei selbst in Lebensgefahr. Doch das Leben an der Küste war hart, und mein Vater brachte mir bei: Wer Wohlstand will, muss bereit sein, unter Einsatz des Lebens dafür zu kämpfen.
Darum, dass unsere Überfälle von Seeleuten verraten werden könnten, machten die Dorfbewohner sich wenig Sorgen. Die Steilküste bot den Schiffbrüchigen kaum eine Möglichkeit, das rettende Ufer zu erreichen - und wer hätte die Hilfeschreie eines Schiffbrüchigen hören sollen, der sich trotz Sturm und Nacht mit letzter Kraft an Land geschleppt hatte? In jedem Dorfhaushalt gab es eine solide Zimmermannsaxt aus Bredurs Dorfschmiede. Und in den Nächten, in denen sie gingen, das falsche Richtfeuer zu entzünden, hatten die Männer ihre Äxte dabei.
Und sollte ein Steuermann seinen Irrtum früh genug erkennen und sein Schiff gegen den landeinwärts drückenden Wind aufs Meer hinaus in Sicherheit bringen, was tat es, wenn er später in Torglund oder sonst einem Hafen erzählte, er habe an irgendeinem Küstenabschnitt in der schwarzen Nacht ein Irrfeuer gesehen? Die Gespräche in den Hafentavernen drehten sich immerfort um Dämonen, Seeungeheuer und Irrlichter, denen die Seeleute sich auf ihren Fahrten ausgesetzt sahen. Wer hätte aus diesem Seemannsgarn einen glaubwürdigen Hinweis heraushören sollen? Schiffe gingen verloren, gingen in die Irre oder kamen irgendwo an, manchmal endlich auch da, wohin sie unterwegs waren. Das war das Los der Seeschifffahrt. Es war das Risiko der Kaufleute, für die Reichtum und Verlust stets nah beieinander lagen. Und es war die Lebensader der armen Küstenbewohner, die einzige Möglichkeit, unser Dasein am Rande des Hungers und der Not lebenswert zu machen.
***
Hin und wieder kam ein Trupp Soldaten ins Dorf mit dem Befehl, Beutegut zu suchen und Piraten dingfest zu machen. Dann ging mein Vater zu ihnen hinaus, die Pfeife zwischen den zusammengebissenen Zähnen, und ließ sich vom Offizier das Befehlsschreiben zeigen. Er las es sorgfältig und stellte dem Obristen Fragen.
Mein Vater konnte lesen.
„Übe dich im Lesen, Leif,“ forderte er mich wieder und wieder auf. „Wer nicht lesen kann, wird in dieser Welt von Händlern, Grundherren und Richtern, von allen Mächtigen bis aufs Blut betrogen. Du hast keine Rechte, wenn du nicht lesen kannst.“
Während mein Vater mit dem Obristen sprach, bauten die Frauen Tische und Bänke auf. Bier und Met kamen auf den Tisch und auch vom zurückbehaltenen Beutewein wurde aufgetragen. Die Soldaten lachten und setzten sich zum Trinken. Sie hatten einen anstrengenden Marsch hinter sich. Dann verhandelte mein Vater mit dem Befehlshaber über den Preis. Schließlich wurde die Kiste mit den erbeuteten Goldtalern aufgeschlossen und dem Befehlshaber die geforderte Summe herausgebracht. Er teilte die Goldmünzen mit seinen Männern. Man grinste, klopfte sich auf die Schultern und nach wenigen Stunden zogen die Soldaten ab, schwankend die meisten, aber alle hoch zufrieden.
„Bis zum nächsten Mal,“ riefen sie uns zu. „Ist ja bald wieder Saison!“
Oft zogen sie zum Gasthof „Zum einäugigen Piraten“, wo sie die Nacht durch mit den Mägden des Gastwirts feierten und zechten, um sich erst spät am nächsten Tag auf den Rückweg zu machen.
***
Im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren waren die Jungen unseres Dorfs, ich unter ihnen, mit der Küste, den Gewässern vor der Bucht und den häufig umschlagenden Winden vertraut. Wir konnten einen leichten Kahn zwischen den Unterwasserfelsen durch die nach allen Seiten brechende Gischt rudern und waren in der Lage, einen großen Kutter bei jedem Wetter aufs Meer hinauszusegeln. Wir kannten uns mit Netzen und Reusen aus und mit den günstigen Zeiten für den Fischfang. Wir wussten mit Enterhaken umzugehen und alle von uns hatten Erfahrung mit der dreckigen Arbeit mit den Zimmermannsbeilen.
Und noch etwas hatte ich gelernt: das Lesen. Unter dem Beutegut, das mein Vater in der Hütte zurückhielt, befanden sich mehrere nur stellenweise vom Wasser beschädigte Bücher. Den Leseunterricht meines Vaters ließ ich anfangs nur unter Zwang über mich ergehen. Aber nachdem ich die ersten Fortschritte gemacht hatte, begann ich zwischen den brüchigen, angeschimmelten Buchdeckeln ungeahnte Welten zu entdecken. Nicht alles, was ich in den Büchern meines Vaters las, faszinierte mich. Da gab es eine Grammatik der alten Hochsprache, ein nautisches Werk über Meeresströmungen, Winde und den Verlauf der Westküste von den Mangrovensümpfen im Süden bis zu den bergigen Küsten hoch im Norden und einen Band mit Tabellen über Maße und Gewichte, der einmal einem Kaufmann gehört haben musste. Aber in der Büchertruhe meines Vaters fand ich auch eine Reisebeschreibung über Wanderungen an der Nordgrenze des Reichs. Über den "Reisen in die nordwestlichen Wetterberge", geschrieben von einem Leonhard Knobloch, verbrachte ich Stunden über Stunden. Manchen Tag saß ich bis in die Dämmerung über die verblichene Schrift gebeugt und war blind und taub für alles, was um mich her vorging.
Das Buch weckte mir zum ersten Mal den Wunsch, auf Abenteuerfahrt zu gehen. Knobloch berichtete von Hexen und Zauberern, von wilden Küsten, an denen Menschen auf geheimnisvolle Weise verschwanden. Wo sich die Ausläufer der Wetterberge ans Meer erstrecken, würden die Klippen vor der Küste von Geistern heimgesucht. Ich las von Urwäldern, bevölkert mit seltsamen Wesen und von ungesunden, giftigen Sümpfen. Vor anderthalb Jahrtausenden, zur Zeit der ersten Königreiche, habe dort an der Küste ein großes Reich bestanden, Barhut mit Namen. Die Barhuter eroberten in aufeinanderfolgenden Kriegen die von Zwergen besiedelten Südhänge des Gebirges. Sie setzten sich gegen kriegerische Stämme zur Wehr, die in schnellen Schiffen von der See her kamen. Auch diese wurden besiegt und vertrieben. Nach vielen Jahrhunderten zerfiel das Reich Barhut. Heute fehle jede Spur dieses mächtigen Königreichs aus der Frühzeit der Menschheit.
Die Sagen in den „Reisen in die Wetterberge“ wirkten so viel farbiger und ruhmreicher als unser ärmliches Dasein als Fischer und Küstenpiraten, dass ich, sinnend über meinem Buch, bald den Ruf eines Tagträumers weg hatte.
„Bücherwurm!“ riefen die Dorfjungen. „Bücherwurm, komm raus, wir fahren mit dem Kutter auf See!“
Sie ließen mir keine Ruhe, bis ich blinzelnd und mit zerrauften Haaren vor die Hütte kam und mit ihnen zum Strand hinunterlief, wo zwischen den flachen Kähnen die großen Kutter lagen. Wenn die Männer, und wir mit ihnen, nicht in aller Frühe zum Fischen hinausgefahren waren, schoben wir häufig einen der Kutter in die Brandung, um vor der Küste zu segeln.
Oft segelten Sven Bredursohn und ich allein hinaus. Sven war der Sohn des Schmieds, ein kräftiger Bursche mit wilder Haarmähne und Fäusten, die nicht nur mit Schmiedewerkzeug umgehen, sondern wenn es sein musste, auch einen Schädel einschlagen konnten. Obwohl wir uns in vielem voneinander unterschieden, waren der ein Jahr ältere Sven und ich gute Freunde. Manchen späten Nachmittag saßen wir oben auf der Steilküste, schauten aufs Meer hinaus und sannen nach über die Länder und Häfen, aus denen die Handelsschiffe Güter und Reichtum an unserer vom Wind und Salzwasser ausgezehrten Küste vorbeitrugen.
***
An einem kalten Frühjahrsmorgen saßen wir beide hinter der Schmiede, abseits von den Dorfleuten, die Kisten und Fässer aus der Brandung holten und auf Segelplanen am Stand stapelten. Die Rückwand der Schmiede und das tiefe Strohdach schützten uns halbwegs vor dem nassen, schneidenden Wind und der Beuterum, den wir becherweise hinunterkippten, wärmte uns, so dass wir unsere klamme Kleidung nicht mehr spürten. Wir sagten kein Wort. Die gellenden Schreie des Seemanns verfolgten mich in Gedanken, sein blutüberströmtes Gesicht, das dumpfe Geräusch von Svens Beil, wenn er wieder und wieder zuschlug.
Der Seemann hing außen an unserem Ruderkahn. Er klammerte sich mit einem Arm ans Dollbord, mit der anderen Hand versuchte er, Svens Beilhiebe abzuwehren. Sein von Wasser und Blut nasses Haar hing in Strähnen über sein schreiendes Gesicht. Er wollte nicht loslassen, er brüllte, brüllte um sein Leben. Ich nahm die Enterstange, setzte ihm den Spitzhaken zwischen Hals und Schlüsselbein auf die Brust und drückte ihn mit aller Kraft vom Boot weg. Als seine blutige Hand sich endlich vom Bootsrand löste, merkte ich, dass auch ich schrie. Ich stieß mit dem Enterhaken nach, zweimal, dreimal in das schäumende Wasser, bis ich keinen Widerstand mehr fand.
Ich schrie noch immer, als Sven mir den Enterhaken aus der Hand riss und brüllte: „Hör auf jetzt! Er ist weg! Er ist weg!“
Ich sank auf die Ruderbank und heulte.
„Verdammte Scheiße,“ schrie Sven. „Hilf mir, die Ladung zu bergen. Hör auf mit dem Geplärr, verdammte Scheiße nochmal!“
An diesem Morgen entstand eine Übereinkunft zwischen uns.
Mitten in das Schweigen hinein sagte Sven: „Man müsste weggehen. Man kann es doch auch als Abenteurer zu etwas bringen. Das hier ist doch ekelhaft.“
Ich antwortete nicht und auch Sven sprach kein Wort mehr. Wir tranken, bis unsere Gedanken ausgelöscht waren. Aber wir hatten einen Bund miteinander geschlossen.
***
Mit sechzehn besaß ich als einziger in Brögesand ein Schwert. Das kam so:
Hin und wieder kamen zwei oder drei Söldner ins Dorf, traten auf die Alten zu, die im Schatten eines Hüttendachs ihre Pfeifen rauchten, und murmelten etwas von einem Vorschuss auf die nächste Patrouille. Mein Vater sorgte dafür, dass sie immer ein paar Silberlinge bekamen, mit denen sie in den „Einäugigen Piraten“ zogen.
„Das sind arme Teufel,“ sagte er. „Die leben auch nur von dem, was sie sich holen. Wenn wir ihnen Geld geben, versuchen sie nicht, mit ihren Waffen an unsere Vorräte zu kommen.“
Damals verbrachte ich die Nachmittage häufig im Schankraum des „Einäugigen Piraten“. Ich saß auf der Bank am Fenster, vor mir ein Honigmet oder ein Gerstenkaffee und las in Knoblochs „Reisen in die Wetterberge“. Im „Einäugigen Piraten“ war es dank des großen Herdfeuers, das an der Stirnseite des Schankraums in einer rechteckigen Steineinfassung brannte, stets warm und trocken und dicht bei den kleinen, mit Pergamenthaut bespannten Fenstern war es im Sommer hell genug zum Lesen, heller und weniger verraucht als in unserer engen Hütte.
Der „Einäugige Pirat“ hatte selten viele Gäste, abgesehen von der kurzen Zeit zu Beginn und zum Ende der Schifffahrtssaison. Hin und wieder kamen ein paar Söldner, deren Truppe in Grünau stationiert war, einem an die zehn Meilen im Landesinneren gelegenen Flecken. Zuweilen kehrte ein staubiger Reisender ein, der es aus Gründen, die er selbst wissen würde, vorzog, nicht auf der großen Überlandstraße zu reisen, sondern stattdessen die wenig begangenen Nebenwege durch die Einöde der Küstenlandschaft entlangzuziehen. An den Abenden trafen sich ein paar Alte aus dem Dorf am Herdfeuer der Schenke. Ansonsten war es ruhig. Auch die Mägde im „Einäugigen Piraten“ ließen mich in Ruhe, nachdem sie begriffen hatten, dass ich tatsächlich kam, um zu lesen, und nicht, um mein Geld mit ihnen zu teilen, damit sie mich auf das Lager in ihrer Kammer mitnahmen.
Nicht, dass sie es nicht versucht hätten.
„Das muss ja spannend sein, was du da liest, wenn dich das mehr interessiert, als ich?“
“Lass mich in Ruhe, Sella. Ich will wirklich lesen. Da stehen Dinge über fremde Länder drin, von denen du keine Ahnung hast. Versunkene Königreiche und so.“
„Schon gut. Kommst du Sterntagabend?“
„Vielleicht.“
***
Narun war ein alter Söldner, an dem die Jahrzehnte des Soldatendienstes ihre Spuren hinterlassen hatten. In seiner speckigen Lederrüstung und mit seinem sonnenverbrannten Gesicht unterschied er sich in nichts von anderen Soldaten, die zuweilen im Gasthof aufkreuzten. Er war mit zwei ebenso abgerissenen Kameraden hereingepoltert, nachdem sie sich aus dem Dorf einen „Vorschuss“ geholt hatten. Über seinen Bierkrug hinweg musterte er mich misstrauisch, während die beiden anderen lautstark mit zwei Mägden verhandelten. Als sie mit den Mädchen nach hinten abgezogen waren, rief er mich an. Seine Stimme ähnelte dem reibenden Geräusch eines über den Strand geschobenen Kahns.
„Du, liest du das wirklich, oder guckst du dir nur die Bilder an?“
„Hier sind überhaupt keine Bilder drin. Ich lese in dem Buch. Es gehört meinem Vater.“
Mit einem Blick auf ihn und einem Blick zur Tür versuchte ich, meine Chancen für eine Flucht abzuschätzen. Bücher waren kostbar. Wenn der Söldner vorhatte, das Buch zu plündern, würde ich ihn kaum daran hindern können. Er stand umständlich auf, nahm seinen Bierkrug und stiefelte zu mir herüber. Schweigend schaute er über meine Schulter auf die aufgeschlagene Buchseite. Der Geruch von altem Schweiß, ranzigem Leder und Bier umgab ihn. Mehrere Atemzüge lang sagte er gar nichts und ich überlegte fieberhaft, wie ich entkommen könnte. Dann nahm er einen kräftigen Schluck aus seinem Bierhumpen und legte mir seine Pranke auf die Schulter.
„Lies vor!“ polterte er.
Geistesabwesend und stockend begann ich zu lesen. Ich musste die ganze Zeit daran denken, was mein Vater sagen würde, wenn er erfuhr, dass ich mir eins seiner Bücher in der Schänke von einem Soldaten abnehmen lassen hatte. Narun hörte mir eine Weile lang zu. Schließlich ließ er meine Schulter los, setzte sich rittlings neben mich auf die Bank, stellte seinen Bierhumpen auf den Tisch und wischte sich den Bierschaum aus dem Bart. Er sah mich aufmerksam an. Ich versuchte, seinen Blick fest zu erwidern, obwohl ich zu zittern begonnen hatte. Von hinten war Juchzen aus den Kammern der Mägde zu hören.
„Kannst du mir das beibringen?“ fragte Narun mit seltsam leiser Stimme.
„Was?“
„Kannst du mir das beibringen? Das Lesen?“ Zweifelnd schaute er mich aus seinen wässrigen Augen an.
Ich starrte mit offenem Mund zurück.
„Hier - “ er zog sein schartiges Schwert und hielt es mir entgegen.
Ich zuckte zurück.
„Kannst du mit so was kämpfen?“
Ich starrte abwechselnd auf ihn und auf die vor mir tanzende Schwertspitze. „Ich kann mit der Axt umgehen und mit dem Enterhaken.“
Er schnaubte. „Eure Zimmermannsbeile, das sind doch keine Waffen. Die reichen doch gerade mal hin, 'nen Halbertrunkenen zu erschlagen. Damit kann man doch nicht kämpfen.“
„Wir sind Fischer, wovon redest du eigentlich?“
Er lachte dröhnend. „Ja, ja, ihr seid Fischer. Und ich bin der Steuereintreiber des Kaisers. Deshalb bin ich auch hergekommen. Um die Fischsteuer einzutreiben.“
Er wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen. Ich schwieg. Bei aller Angst begann ich wütend zu werden. Der alte Soldat wischte sich Lachtränen aus den Augen.
„Hör zu,“ sagte er, immer noch glucksend. „Ich bring dir bei, wie man mit 'nem Schwert kämpft und du bringst mir bei, wie man liest. Wenn ich in einem Monat was gelernt habe, kannst du das ausgediente Schwert hier behalten. Als Bezahlung für den Unterricht.“
„Aber ich kann dir das Buch nicht geben, es gehört meinem Vater. Er wird es niemals verkaufen.“
Narun zuckte mit den Schultern. „Ich will dein beklopptes Buch nicht haben. Ich will bei der nächsten Soldauszahlung lesen können, wie hoch die Summe ist, verstehst du? Ich hab's satt, Jahr um Jahr für den dreckigen Dienst übers Ohr gehauen zu werden. Wenn ich meinen Abschiedsbrief bekomme, will ich wissen, was da drinsteht, was mir vom Kaiser für all die Jahre Söldnerdienst vermacht wird.“
Er musterte mich mit einem langen Blick. „Du bekommst nichts, wenn du nicht lesen kannst, was dir zusteht. Wenn du nicht lesen kannst, bist du gar nichts. Alle Welt haut dich übers Ohr.“
„Das sagt mein Vater auch,“ murmelte ich.
„Na, siehst du! Da hat er Recht, dein Alter. Also - “ er streckte mir seine dreckige Pranke entgegen, „ - abgemacht? Du bringst mir lesen bei und ich zeig' dir, wie man mit dem Schwert kämpft. Und wenn ich in einem Monat was gelernt habe, dann bekommst du das Schwert hier. Nicht mein richtiges, das hab ich in Grünau bei meinen anderen Waffen. Ich geb' dir dieses hier. Eigentlich hat's ausgedient, aber für einen wie dich ist es allemal gut genug. Also? Was sagst du?“
Zögernd sah ich ihn an. Er hielt die Hand ausgestreckt. Sein Atem ging schwer. In den trüben Augen des alten Soldaten lag hinter aller Müdigkeit, Kampfverdrossenheit und Härte etwas, was mich dazu brachte, Vertrauen zu fassen. Langsam ergriff ich seine schwielige Hand.
„Na also,“ grollte er. „Ich bin Narun.“
„Leif. Leif Brogsohn.“
***
So kam es, dass ich in den folgenden Wochen jeden Nachmittag mehrere Stunden im „Einäugigen Piraten“ verbrachte. Dicht am Fenster saß ich neben dem ungeschlachten Narun, Knoblochs „Reisen in die Wetterberge“ vor uns auf dem Tisch. Narun stützte den Kopf in beide Hände, ließ sein fettiges Haar wirr hängen. Der riesige Soldat blinzelte, rutschte auf der Bank hin und her, fluchte und stöhnte, während er auf die Buchstaben starrte.
„Das sieht ja wieder ganz anders aus als da oben, du hast gesagt, das da ist ein G.“
„Dies hier ist ein kleines g, oben ist es als Großbuchstabe geschrieben.“
„Klein, groß, Mensch, was für einen Scheiß haben sich die Schreiberlinge ausgedacht? Das ist doch nur, damit unsereiner es nicht verstehen soll!“
Er fluchte und wetterte, aber jeden Tag setzte er sich wieder neben mich auf die Bank. Wenn seine Kameraden uns in der Ecke am Fenster entdeckten, machten sie sich über ihn lustig, aber er drohte nur, ihnen den Bierkrug ins Gesicht zu werfen. Was er auch tat, wenn das Gelächter nicht aufhörte.
Im Anschluss an die quälenden Stunden in der Gaststube standen wir einander auf dem freien Feld zwischen dem Gasthof und der Klippe gegenüber und übten Schwertkampf.
Nach einem Monat konnte er sich durch einen Abschnitt, den er noch nie zuvor gelesen hatte, hindurchstottern, ohne hinterher völlig vergessen zu haben, was er las. Und draußen auf der Klippe maß er mich mit den Augen, wie ich mit dem Schwert in der Hand dastand, und brummte: „Na, immerhin kannst du's jetzt so in der Hand halten, dass du weder dich noch jemand anders aus Versehen damit verletzt. Das ist schon mal viel wert, glaub mir.“
So kam ich zu meinem Schwert.
Ein paar Wochen später nahm ein von weither gekommener Reisender im „Einäugigen Piraten“ Quartier. An der Begegnung mit diesem Fremden lag es, dass ich zwei Jahre später Brögesand verließ, um auf Abenteuerfahrt zu gehen.