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4.

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„Da vorn, das Leuchtfeuer von Zwiesund!“

Im fahlen Mondlicht hoben und senkten sich dunkle Wellenberge um unsere Jolle. Im Osten begannen die Sterne zu verblassen. Eine erste Ahnung des neuen Tages stieg hinter der schwarzen Küstenlinie auf. In den späten Nachtstunden vor dem Morgengrauen war der steife Wind aufgefrischt. Er jaulte in der Takelage und kräuselte die silbrig gischtenden Wellenkämme.

Kat saß in eine Decke gehüllt beim Mast an Backbord. Trotz der dicken Wolldecke zitterte sie vor Kälte.

„Was, wenn es sich um ein Irrfeuer handelt?“ fragte sie bibbernd.

Sven grinste. „Dann wird es gleich knirschen und splittern, wenn wir auf ein Riff laufen.“

„Sven hör auf, das ist überhaupt nicht lustig!“ schrie Kat.

Die gesamte Fahrt über hatte sie ängstlich die hohen Wellen beobachtet und sich bei jedem Schlingern an die Bank geklammert.

„Kat, sieh mal, das kann kein Irrfeuer sein, wir haben im Mondlicht ja völlig klare Sicht,“ versuchte ich sie zu beruhigen. „Schau, da vorn liegen die Zwiesunder Felseninseln, und dort ist deutlich das hohe Ufer mit der Landzunge und dem Leuchtfeuer zu sehen. Wenn hier irgendwo Felsen im Wasser lägen, könnte man sie sofort an der brechenden Brandung erkennen.“

Kat reckte vorsichtig den Hals aus der Wolldecke und blickte in die Richtung, die ich ihr zeigte. „Und wie weit ist es von Zwiesund noch bis Torglund?“

„Bei dem gutem Wind, den wir jetzt haben, noch zwei, drei Tage, heißt es - vorausgesetzt, das Wetter schlägt nicht um,“ meinte Sven. „Weiter als bis hier bin ich noch nie gesegelt.“

„Noch zwei Tage bis Torglund,“ stöhnte Kat. „Bis dahin bin ich tot!“

Vom Land her tasteten sich die ersten Sonnenstrahlen über die graugrüne See. Wir entdeckten eine kleine Bucht am steinigen Ufer, das sich jetzt südwestlich von uns hinzog. Wir hielten darauf zu und zogen die Jolle an Land. Sven und ich suchten Treibholz und trockenes Strauchwerk zusammen und Sven entfachte ein prasselndes Lagerfeuer. Die Wärme tat gut nach der durchwachten Nacht. Wir setzten uns dicht ans Feuer und hielten Spieße mit Brot und getrocknetem Fisch aus unserem Proviant über die Flammen.

Kat knabberte mit blassem Gesicht an einem Stück Brot und wärmte sich die Handflächen am Feuer. Noch immer hatte sie ihre Decke gegen den Wind um sich geschlungen. Sie blickte elend ins Feuer.

„Das ist meine erste Seereise überhaupt. Tut mir leid, wenn ich mich albern anstelle.“

„Schon in Ordnung,“ meinte Sven.

Ich ergänzte: „Wir haben einfach nicht dran gedacht, dass es Leute gibt, die nicht schon von Kindheit an mit Booten umgegangen sind. Wir hätten dich auf die Fahrt vorbereiten sollen.“

„Wart ab,“ versuchte Sven Kat zu aufzumuntern. „In ein paar Tagen kletterst du bei jedem Wellengang über Deck wie ein alter Seemann.“

Kat starrte ins Feuer.

Dann lachte sie bitter auf. „Ihr habt's geschafft, Jungs! Was keine Schlägertruppe besoffener Söldner in einem Kriegslager geschafft hat und auch kein in Sturm und Platzregen in knietiefem Drecksumpf versinkendes Zeltlager. Ich dachte immer, mich kann nichts mehr schrecken. Aber heute Nacht hat mir das Meer die Angst in die Knochen gejagt.“

„Dabei war da überhaupt nichts zum Fürchten,“ überlegte Sven. „Vor zwei Jahren haben wir mal einen Sturm erlebt, da dachte ich, ich seh' das Ufer nicht wieder. Und ich wär' auch ersoffen, wenn er da,“ er deutete auf mich, „mich nicht gerade noch am Schlafittchen gepackt hätte.“

Ich spann den Faden weiter. „Die Alten im Dorf erzählen von einem Orkan, der dem Kutter Mast, Segel und Takelage in einer einzigen Sturmbö abriss und davonwehte. Der Kutter schlug bis zum Bordrand voll. Die Männer standen bis zum Bauch im Wasser und lenzten um ihr Leben. Irgendwie sind sie dennoch wieder an Land gelangt.“

„Jungs, ihr macht mir richtig Mut,“ murmelte Kat.

„Ach was,“ tröstete Sven. „Die Jolle ist so leicht und wendig, die tanzt über jeden Sturm hinweg. Die ist kein schwerfälliger Kutter, der ewig braucht, bis er vor den Wind kommt. Mit der Jolle sind wir jedem Orkan gewachsen.“

Das war natürlich geflunkert, das wusste Sven genauso gut wie ich.

Ich blickte nachdenklich ins Feuer. „Ich glaub', jeder hat etwas, wovor er Angst hat. Das ist ganz normal.“

„Ja?“ Sven blickte mich kritisch an. „Wovor fürchtest du dich?“

Ich dachte nach.

Leise sagte ich: „Vor den Gesichtern der Toten. Manchmal wache ich nachts auf und denke, die Leichen der Seeleute steigen aus der Knochengrotte herauf, aufgeschwemmt und angefressen und mit kaputten Augen und verlangen ihr Leben von mir zurück.“

„Hör auf,“ rief Sven. „Das ist widerlich!“

Ein paar Stunden später stießen wir unser Boot vom Ufer ab und stachen in See. Der Wind blies stetig aus Südwest. Der Himmel war wolkenlos und die Sonne durchwärmte unsere klamme Kleidung. Kat schnupperte die frische Seeluft und blickte zwei Seemöwen hinterher, die das Boot mal in größerem, mal in kleinerem Abstand umkreisten. Ihr Gesicht hatte frische Farbe bekommen und das schaukelnde Wiegen auf den langen Wellen brachte sie nicht mehr aus dem Gleichgewicht. Sie knüpfte ihre Zöpfe auf und lies ihr hellblondes Haar im Wind fliegen.

„Kat,“ rief Sven, „du bist die schönste Frau, der ich je begegnet bin!“

„Wie viele Frauen außer den Mädchen in eurem Dorf hast du denn schon gesehen?“ wollte sie wissen.

„Äh - also, von den Mägden im „Einäugigen Piraten“ mal abgesehen - eigentlich keine.“

„Dann hab ich ja noch nicht viel Konkurrenz,“ lachte sie.

***

Die Jolle segelte auf einer feuerroten Lichtspur, die sich bis zum Horizont erstreckte, als wir eine Felseninsel vor der Küste fanden, in deren Windschatten wir Anker warfen. Wir kauten gedörrten Fisch und hartes Brot. Das letzte Tageslicht tauchte den Horizont über der endlosen Wasserfläche in flammendes Rot.

„In zwei Tagen in Torglund gibt's was Ordentliches zu essen,“ nuschelte Sven mit vollem Mund.

„Und ein gutes Bett in einem Wirtshaus,“ fügte ich hinzu.

„Bis dahin müssen wir's uns hier bequem machen.“

„Habt ihr denn Geld?“ fragte Kat. „In einer großen Hafenstadt wie Torglund ist alles ziemlich teuer.“

Betroffen sah Sven auf.

„Wird schon reichen,“ meinte ich beiläufig.

Sven blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an, sagte aber nichts.

Nach der kargen Mahlzeit wickelten wir uns in unsere Decken und drängten uns im engen Heck nebeneinander auf die feuchten Planken.

„Kat?“

„Hm?“

„Schläfst du?“

„Nein.“

Dicht an meiner linken Seite hatte Kat sich in ihre Wolldecke eingerollt. An meiner Rechten schnarchte Sven, als wollte er das Boot zersägen. Sein Knie bohrte sich mir ins Kreuz. Der Nachtwind sang leise in der Takelage. Langsam hob und senkte sich das Boot in den Wellen, zerrte knarrend am Ankertau.

„Woran denkst du, Kat?“

„Frag nicht.“

„Weißt du, Kat, mir geht immerzu diese Sache durch den Kopf, als Beorn gestolpert ist. Wir gingen gerade zu Maras Hütte. Du hattest mich zum Met eingeladen. Erinnerst du dich?“

„Hm.“

„Du sagtest, du hättest ihm gesagt, dass er stolpern soll. Weißt du noch?“

„Hmm.“

„Kat, kannst du mir nicht zeigen, wie das geht?“

Kat richtete sich seufzend auf. „Also gut. Bei diesem Geschaukel kann ich eh kein Auge zu tun. Setzen wir uns vorne hin?“

Sie schälte sich aus ihrer Decke, rieb sich gähnend die Augen und kletterte aufs Vordeck. Leise, um Sven nicht zu wecken, kroch ich hinterher. Wir setzten uns an den Bug und ließen die Beine über Bord baumeln. Wolkenschatten huschten im fahlen Mondlicht über die dunkle See. Die Insel ragte als schwarze Masse vor dem Boot auf.

„Pass auf.“

Katrina hob eine Handfläche und hielt sie vor sich. Leise murmelte sie etwas und schaute dabei auf ihre Hand. Es klang wie „elean.“

Auf der Handfläche erschien ein weiß glühender Lichtball. Das stille Licht wurde heller und heller, bis Katrinas Gesicht, ihre Brust, der Schiffsbug und das Wasser im Umkreis von zwei, drei Manneslängen in hellem Licht erschienen. Kat wendete den Kopf und blickte mir in die Augen. Das Licht auf ihrer Hand erlosch.

„Hast du gesehen?“ fragte sie leise.

Ich konnte vor Verblüffung nur stottern. „Das... Ich... Wie machst du das?“

Kat suchte nach den richtigen Worten. „Eigentlich ist es ganz einfach, wenn man begriffen hat, wie es geht. Du darfst nicht versuchen, Licht zu machen, du musst wissen, dass du es kannst. Verstehst du?“

„Nein.“

Sie seufzte. „Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. In dem Moment, wo du es tust, willst du nicht, dass in deiner Hand Licht aufleuchtet - du weißt, dass es aufleuchten wird. Du weißt einfach mit absoluter Sicherheit, dass es so ist. Mit deinem Willen hat das nichts zu tun. Ich hab keine Ahnung, wie ich es anders beschreiben soll.“

„Du meinst, entweder man kann es, oder man kann es nicht?“

„Nein, was ich sagen will, ist, solange du dir unsicher bist, passiert es nicht. Wenn du es weißt, hast du es. Dann sagst du dem Licht, dass es in deiner Hand aufleuchten soll.“

„Ich sage dem Licht...?“

„Du verwendest ein ganz bestimmtes Wort. Die Zauberworte sind seit Generationen überliefert. Ich glaube aber, die Wörter als solche haben für den Zauber überhaupt keine Bedeutung. Sie helfen nur deinem Bewusstsein, sich auf die richtige Weise zu öffnen oder zu konzentrieren - nenn' es, wie du willst.“

Ich blickte sie zweifelnd an. Ich verstand nicht im Mindesten, wovon sie redete.

„Man kann nicht beliebig alles Mögliche wirken,“ erklärte sie weiter. „Jeden Zauber muss man intensiv üben. Die meisten Zauber, die wirklich mächtigen vor allem, kann man aus irgendeinem Grund nur lernen, wenn jemand dabei ist, der es schon kann. Für manche Sachen gibt es Erläuterungen - Lernanleitungen in Büchern. Aber irgendwie gelingt es besser, wenn man einen Lehrmeister hat.“

„Aha - “ in meinem Schädel drehte sich alles.

„Manchen fällt es leichter, andere tun sich schwerer damit. Es gibt Menschen, die kriegen überhaupt keinen Zauber hin. Andere lernen die schwierigsten Sachen mit erstaunlicher Leichtigkeit. Magie hat offenbar was mit Begabung zu tun, genauso wie Bogenschießen oder Bildhauerei.“

„Ich kapier' das vermutlich nie!“

„Versuch es.“ Sie nahm meine Hand in ihre und drehte meine Handfläche nach oben. „Konzentrier' dich auf deine Handfläche.“

Wir saßen dicht beieinander, ihre Oberschenkel berührten meine. Die Berührung ihrer Hände fühlte sich weich und sanft an. Sprachlos schaute ich sie an.

„Kat...“ flüsterte ich.

Sie guckte böse. „Auf deine Handfläche sollst du dich konzentrieren!“

„Ja - “ verwirrt starrte ich auf meinen schwieligen Handteller.

Sie hielt meine Hand immer noch. „Jetzt denkst du an das Licht. Das Wort heißt elean. Du kannst es! Sag es.“

Ihr warmer Atem war nahe meiner Wange.

Ich könnte sie umarmen, meinen Mund auf ihren legen und sie küssen.

„Leif?“ ihre Stimme klang ungeduldig.

Nein, dachte ich. Wahrscheinlich lande ich beim geringsten Versuch mit eingeschlagenem Zwerchfell im Wasser. Aber warum bei allen Sternen macht sie das?

„Wo bist du mit deinen Gedanken? Willst du nun zaubern lernen oder nicht?“

„Ja, schon, ich...“

„Also - sag es!“

Ich blickte wieder auf meine Hand. Undeutlich sah ich die Handlinien im fahlen Mondlicht.

„Elean,“ murmelte ich.

Nichts. Wie hätte das auch klappen sollen!

„Das geht gar nicht,“ meinte ich niedergeschlagen.

„Nein, nicht so!“ sagte Kat eindringlich.

„Stell dir die Lichtkugel vor. Stell dir vor, wie sie in deiner Hand aufleuchtet. Sieh das Licht aufleuchten. Und dann sag es.“

Ihre Stimme klang beschwörend. „Sag' dem Licht, dass es aufscheint - jetzt!“

Ich dachte an das Leuchten in Katrinas Hand. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir vor, wie das Licht aus meiner Handfläche strahlte.

Elean...“

In meiner Handfläche erschien ein schwaches Leuchten. War es Einbildung? Sofort verschwand es wieder.

„Das ist es!“ rief Kat leise.

Atemlos sah sie mich an. „Du bist großartig! Ich hab vier Tage gebraucht, bis ich so weit gekommen bin!“

***

In den folgenden Tagen blieb der Wind stetig. Am dritten Reisetag huschten leichte Regenschauer aus den schnell ziehenden Wolken über unser Boot hinweg. Wir machten gute Fahrt. Abend für Abend übte ich unter Katrinas Anleitung, Licht auf meiner Handfläche hervorzubringen. Es sah so einfach aus, wenn sie die helle Leuchtkugel auf ihrer Hand erscheinen ließ. Doch es gelang mir kein einziges Mal mehr, den Ansatz eines Leuchtens zustande zu bringen, egal, wie ich mich abmühte. Kat sagte, das sei normal bei Anfängern. Aber so nahe wie an unserem ersten Tag saß sie nie wieder bei mir.

Am frühen Morgen des vierten Tages erblickten wir in der Ferne an der steilen, zerklüfteten Küste die Leuchttürme von Torglund. Dahinter ragten auf einem Felsen die Zinnen einer Burg über den Morgennebel.

Wir segelten eine aschfarbene Felsenküste entlang, die sich nahezu dreihundert Fuß hoch aus dem Meer erhob. Die Küste war von tiefen Einschnitten durchbrochen. Sie erstreckten sich schräg in nordöstlicher Richtung ins Landesinnere. Mehrere Felseninseln lagen draußen im Meer.

Torglund lag geschützt vor der Brandung im Innern eines Küsteneinschnitts. Steile Felsen ragten zu beiden Seiten der natürlichen Hafeneinfahrt ins Meer hinaus. Oben auf den Felsen thronten die gemauerten Leuchttürme mit ihren Tag und Nacht brennenden Feuern. Vor der meerseitigen Felsnase brachen sich die Wellen an einer langen Feldsteinmole.

Ich steuerte das Boot dicht an die Küste heran. Der steife Südostwind trieb uns geradewegs auf die Hafeneinfahrt zu. Zwischen den Felsen, die sich majestätisch zu beiden Seiten erhoben, erhaschten wir einen ersten Blick auf die Stadt. Reihe um Reihe drängten sich ein- und zweistöckige, windschiefe Holzhäuser das Ufer hinauf bis zur oben auf der Ebene dunkel aufragenden Stadtmauer. Spitze Giebeldächer und Türme lugten dahinter hervor. An der Ostseite der Stadt drohten die klobigen Burgmauern vom steilen Felsen herab.

Kat war aufgestanden. Sie hielt sich mit einer Hand an den Wanten und schaute zum Hafen hinüber, aus dem uns die Masten unzähliger Schiffe entgegenstarrten.

„Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich...“ murmelte sie.

Sie hockte sich auf die Seitenbank und begann, ihre Stiefel auszuziehen.

„Sven, kannst du mir ein Kleid aus meinem Gepäck geben?“ Rasch streifte sie ihr Wams und ihre Hosen ab.

„Was?“ Sven starrte sie an.

Katrina saß nur mit einem Leinenhemd bekleidet, das ihr knapp zu den Oberschenkeln reichte, auf der Bordbank. Der Wind presste ihr das Hemd gegen den Körper. Ihre Brüste, ihre schlanke Taille und ihre Hüften zeichneten sich deutlich unter dem Stoff ab.

„Mein Kleid! Irgend eins aus meinem Gepäck. Und meine Schuhe. Und vielleicht kannst du dich ein bisschen beeilen? Mir wird kalt im Wind.“

„Ja - sicher, Kat...“

Sven zerrte ihren Rucksack aus der Luke. Kat seufzte ungeduldig, während er darin kramte, bis er ihr endlich mit rotem Kopf die geforderten Sachen reichte. Ich versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.

„In der Stadt sollte ich vielleicht ein bisschen traditioneller aussehen,“ meinte sie, während sie sich das Kleid überwarf.

Nachdem sie mit ihren Schuhen fertig war, beugte sie sich unter die Bank und holte ihr Schwert hervor. Sven und ich beobachteten ungläubig, wie sie sich das Schwert um die Taille gürtete.

„Legt lieber eure Waffen an, Jungs,“ sagte sie mit einem misstrauischen Blick auf den Hafen. „Wer weiß, was uns da erwartet.“

„Kat, Torglund ist eine zivilisierte Weltstadt,“ wandte ich ein.

Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zur Stadt hinüber.

„Wart's ab,“ meinte sie.

Sven und ich wechselten einen Blick. Mit einem unbehaglichen Gefühl band ich mir mein Schwert um. Sven steckte kopfschüttelnd seine Axt in den Gürtel. Dann löste er Groß- und Fockfall und die Segel sanken aufs Deck. Die Jolle glitt an der Mole vorbei in ruhiges Hafenwasser. Wir rafften die Segelbahnen zusammen, holten die Ruder hervor und setzten uns an die Riemen.

„Übernimmst du das Steuer, Kat?“

Kat rückte an die Steuerpinne und starrte auf den Mastenwald vor uns.

„Wo bei allen Sternen kann man hier anlegen?“ überlegte sie zweifelnd.

Langsam glitt die Jolle zwischen den Schiffsrümpfen hindurch. Große Handelsschiffe, Briggs und Barken ankerten wild durcheinander. An hölzernen Stegen, die vom Quai ins Hafenbecken hinausliefen, lagen kleine Schiffe und Ruderboote dicht an dicht. Es roch nach Brackwasser, Teer und verrottendem Fisch.

Am landseitigen Quai, direkt unter den Mauern der Burg, erhoben sich die Masten eines Kriegsschiffs über den Wald von Spieren hinaus. Bunte Fahnen und Wimpel schmückten die Takelage. Fasziniert blickte ich auf die hohen Schanzdecks, an denen farbige Wappenschilde angebracht waren. Die Geschützluken standen offen, um die Decks zu belüften. Im Inneren sah ich die Mündungen der bronzenen Geschützstücke blinken. Kat blickte nach den Fahnen des Schiffes.

„Das Flammenschwert - das Wappen des Kaisers,“ erläuterte sie leise.

„Schaut mal, da drüben scheint Platz zu sein.“ Sven zeigte in die gegenüberliegende Richtung.

An einem links von uns gelegenen Steg waren mehrere Fischkutter vertäut. Fischkisten und Netze stapelten sich auf dem Steg. Als wir an den vertäuten Fischerbooten vorbei auf die leere Stelle am Steg zuruderten, warfen die Männer auf den Schiffen uns feindselige Blicke zu. Ihre Kleidung war ebenso abgerissen und von Sonne und Meer ausgeblichen, wie die von Sven und mir. Braungebrannte Gesichter zeugten von langen Jahren harter Arbeit.

Von Quai aus beobachtete eine Gruppe Soldaten unser Anlegemanöver. Ihre Hellebarden lehnten nachlässig an ihren Schultern. Sven vertäute die Jolle am Steg.

„Ich freu' mich auf das Wirtshaus,“ meinte er, „und auf ein ordentliches warmes Essen.“

Ich war dabei, das Focksegel zusammenzulegen und Sven und Kat knoteten das zusammengewickelte Großsegel an der Gaffel fest, als ein großer, reich gekleideter Mann mit mächtigem Wanst den Steg heraufkam, gefolgt von fünf Hellebardieren.

„Schaut euch den mal an,“ meinte ich zu Sven und Kat.

Der grauhaarige Mann trug ein dunkelrotes Samtwams und eine opulente Kopfbedeckung aus demselben Stoff. Um seinen Hals hing eine schwere Goldkette. Die Soldaten hatten unrasierte Gesichter und machten in ihren abgetragenen Stiefeln und fleckigen Lederjacken einen schäbigen Eindruck. Sie beobachteten uns misstrauisch. Der Samtwams baute sich vor der Jolle auf und holte schnaufend Luft.

„Das hier ist die Anlegestelle von Mark Blaubutts Kutter. Hier könnt ihr nicht festmachen,“ sagte er mit einer Kellerstimme, die wohl autoritär klingen sollte.

„Wo denn dann?“ fragte ich.

Er musterte mich gerinschätzig. „Von welchem Schiff kommt ihr denn?“

„Wieso Schiff?“ fragte Sven. „Das hier ist unser Boot. Mit dem sind wir in den Hafen gekommen.“

„Soo,“ der Fettwanst runzelte die Augenbrauen. „Mit diesem Boot seid ihr in den Hafen gekommen?“

„Und?“ wollte Kat wissen. „Was ist daran so besonderes?“

Der Dicke triumphierte boshaft. „Wisst ihr Kinder, Torglund ist nicht irgendein Strandnest, sondern eine Reichshandelsstadt. Hier gibt es eine Hafenordnung. Und,“ schnaufte er wichtig, „als Hafenmeister ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie eingehalten wird.“

„Haben wir denn dagegen verstoßen?“ fragte ich wütend.

Der Fettwanst begann, mich aufzuregen.

„Die Hafenordnung besagt,“ leierte er wichtigtuerisch herunter, „dass der Kapitän jedes Schiffes, welches in den Hafen von Torglund einfährt, sich unverzüglich in der Hafenmeisterei zu melden hat, woselbst er sein Kapitänspatent nebst dem Ermächtigungsschreiben der Schiffseigentümer und den Frachtbrief vorzulegen hat.“

Er sah uns böse an. „Ich glaube kaum, das einer von euch ein Kapitänspatent vorzuweisen hat. Vermutlich könnt ihr nicht einmal nachweisen, dass ihr diese Jolle da nicht geklaut habt. Wir dulden hier nämlich keine Schmuggler und Seeräuber.“

Er nickte den Soldaten zu. Die Männer packten ihre Hellebarden und rückten näher.

„Das Boot gehört meinem Vater. Wir sind Fischer,“ rief ich bebend vor Wut.

„Soo,“ rollte der Wanst mit den Augen. „Fischer seid ihr? In Torglund benötigt man aber ein Fischereipatent, um fischen zu dürfen. Und um dir gleich weitere dumme Fragen zu ersparen: Fischereipatente müssen bei der Torglunder Fischereigilde beantragt werden und werden einzig an Bürger mit vollen Stadtrechten vergeben, gegen Patentgebühr, versteht sich. Und Stadtrecht erhält in Torglund nur, wer wenigstens acht Jahre unbescholten hier gelebt hat. Verstehst du, Junge?“

„Aber wir wollen hier gar nicht handeln oder fischen,“ schrie ich. „Wir wollen nur eine Nacht ankern und Proviant kaufen, um weiter nach Norden nach Lüdersdorf zu segeln.“

„Nach Lüüdersdorf wollt ihr segeln? Nie davon gehört. Nördlich von hier gibt es überhaupt nichts mehr. Torglund ist die nördlichste Handelsstadt im Reich. Woher kommt ihr denn eigentlich, ihr Schlitzohren?“

„Wir kommen aus Brögesand. Südlich von Zwiesund,“ meinte Sven.

„Süüdlich von Zwiesund? Mit dieser Nußschale?“ rief er spöttisch.

„Wieso denn nicht?“ fragte Kat empört.

„Wir haben das gute Wetter ausgenutzt, so lange es noch möglich ist,“ sagte ich schnell.

„Soo, das gute Wetter habt ihr ausgenutzt,“ grollte er. „Und das Seemannsgarn soll ich euch glauben?“ Er winkte seinen Soldaten. „Solche Schmuggler wie ihr wandern bei uns nämlich in den Zwingturm!“

Die Soldaten machten Anstalten, in die Jolle zu steigen. Katrina richtete sich auf.

„Ich bin Ärztin,“ sagte sie mit Kommandostimme. „Meine Mutter in Lüdersdorf ist schwerkrank. Ich habe diesen Jungs die Passage bezahlt, damit sie mich so schnell wie möglich nach Lüdersdorf zu meiner Mutter bringen. Wenn ich sie nicht behandeln kann, stirbt sie.“

Sven und ich sahen uns mit großen Augen an. Die Soldaten zögerten und schauten über die Schulter zum Hafenmeister.

„Also soo verhält sich das?“ der Wanst strich sich das Kinn. „Warum sagt ihr das nicht gleich? Eine Ärztin bist du? Habe mich schon gewundert, wie eine junge Dame mit diesen abgerissenen Gaunern in dasselbe Boot kommt.“

Die Soldaten traten langsam einen Schritt zurück.

„Hör mal, junge Dame,“ überlegte der Schmerbauch. „Wenn du wirklich eine Medizinerin bist, dann könntest du doch auch meinen Bruder kurieren. Der liegt seit Wochen mit der Wassersucht danieder. Die hiesigen Kurpfuscher bringen es nicht zustande, ihn zu heilen.“

Er schaute zweifelnd auf Katrina herab.

„Klar kann ich das,“ sagte sie hochmütig. „Hat er Atemnot?“

„Das kann man wohl sagen, junge Dame. Er schnauft ganz entsetzlich. Und stöhnt vor Qual.“

Kat nickte wissend. „Vermutlich sitzt er ständig angelehnt im Bett, will sich nicht hinlegen und kann keinen Schritt mehr laufen. Hat er blaue Lippen?“

Der Dicke machte große Augen. „Woher wisst Ihr das? Ganz genau so verhält es sich. Die Doktoren sagen ihm immer, er solle sich hinlegen, er müsse ruhen, aber er will nicht, er schreit und sagt, er bekommt Angst, wenn er liegt.“

Kat verzog das Gesicht. „Typische Anzeichen für Wassersucht im letzten Stadium. Wenn sie ihn flach aufs Bett legen, bringen deine Herren Doktoren ihn um. Ich schau ihn mir an. Vielleicht kann ich etwas für ihn tun.“

Erschrecken und Hoffnung spiegelten sich im Gesicht des Dickwanstes.

„Jaa soo,“ überlegte er. „Dann kommt Ihr am besten gleich mit zu meinem Bruder. Und wegen eurer Jolle - wenn ich es mir recht überlege, ist Mark Blaubutt mit seinem Kutter für ein paar Tage auf See. Er wollte zum Drusensteiner Archipel hinaus, um Robben zu fangen. Meinetwegen könnt ihr bis morgen hier liegen bleiben. Aber nur eine Nacht! Wenn ich euch morgen früh, wenn die Sonne dort oben über den Felsen kommt, noch hier erwische, wandert ihr alle drei in den Zwingturm, verstanden?“

„Ist ja gut. Sehr gnädig von Euch,“ knurrte Sven.

Der Fettwanst machte ein Schlangengesicht. „Die Hafengebühr muss ich euch dennoch abnehmen. Einen Silberling berechne ich euch für die Nacht.“

„Einen Silberling?“ rief Kat empört. „So viel Geld für eine Nacht am Steg?“

Sie sah Sven und mich hilflos an.

„Wenn ihr nicht zahlen wollt, könnt ihr eure Schmugglerjolle gleich wieder aus dem Hafen herausbuxieren! Allerdings werde ich euch dann eine Karavelle mit Wachmannschaften hinterherschicken, um die Küste von euch Kroppzeug zu reinigen!“

„Der Silberling ist schon in Ordnung,“ sagte ich beschwichtigend.

Ich holte das Ledersäckchen heraus, das Mutter mir in die Hand gedrückt hatte und reichte ihm die Münze.

Als seine fleischigen Finger sich um das Geldstück schlossen, warf er mir einen tückischen Blick zu. „Ich werde dich jetzt nicht fragen, woher du diese Börse hast, Junge! Und nun - “ er sah Katrina an, „ - darf ich Euch ersuchen, mir zu meinem Bruder zu folgen, junge Dame?“

Katrina zerrte die Arzttasche aus ihrem Gepäck hervor und warf sich ihren grauen Kapuzenmantel um.

„Begleitest du mich, Leif?“ fragte sie.

Ich sprang aus dem Boot.

Sven wollte mir folgen, aber Kat bestimmte: „Einer muss beim Boot bleiben!“

Sven guckte böse, aber er fügte sich.

***

Am Quai angelangt, entließ der fette Hafenmeister drei seiner Soldaten mit einem Kopfnicken. Jedoch nach einem kurzen Blick auf mich winkte er zweien von ihnen, ihm weiter zu folgen. Wir folgten dem schnaufenden Wanst durch das Menschengedränge am Hafen. Am Quai reihte sich ein hölzerner Speicher am anderen. Männer in abgerissenen Fetzen, barfuß die meisten, entluden Ruderbarken, schleppten Fässer, Säcke und Kisten. Frachtgut stapelte sich am Wasser, zwischen den Stapeln lagen Kabel, Taue und tote Fische.

Durch das Gewirr kleiner Holzhäuser hinter den Speichern schlängelte sich eine gepflasterte Straße hinauf zu den wuchtigen Stadtmauern. Mir stockte der Atem angesichts der Menschenmenge in der Straße. Zu beiden Seiten reihten sich Handwerkerläden aneinander. Die Buden der Seiler, Schreiner, Tischler, Schmiede und Segeltuchmacher standen dicht an dicht. Dazwischen hingen die Schilder kleiner Tavernen auf den Gehsteig hinaus. Tabakqualm und Lärm drang aus den niedrigen Türen. Unbehaglich sah ich mich um. Die zivilisierte Weltstadt Torglund hatte ich mir anders vorgestellt.

Kat ging neben mir. Wir blieben dicht hinter den beiden Soldaten, die den dicken Hafenmeister flankierten. Die Menge machte ihnen bereitwillig Platz.

„Zeig deine Geldbörse lieber nicht so öffentlich her,“ raunte Kat mir zu. „Das könnte unliebsame Folgen haben.“

Im Stadttor standen Wachen. Ihre metallenen Helme und Brustpanzer blinkten, die roten Jacken unter den Panzern waren sauber und ihre polierten Stiefel glänzten. Im Stahl ihrer Hellebarden spiegelte sich das Tageslicht.

Der Hafenmeister hob beiläufig die Hand zum Gruß, als wir an den Wachen vorbei durchs Tor gingen. Die Wache salutierte. Eine Frau im verschlissenen Kleid stand ratlos zwei Hellebardieren gegenüber. Am Arm trug sie einen Korb, aus dem Hühner ihre Köpfe reckten.

„Ich will doch nur meine Hühner auf dem Markt verkaufen,“ sagte sie schüchtern.

Der Wachposten wehrte ab. „Um in die Stadt zu kommen, benötigst du eine Genehmigung vom Stadtrat. Geh deine Hühner woanders verkaufen.“

Wir folgten dem Hafenmeister durch eine gewundene Gasse zwischen zwei- und dreistöckigen Fachwerkhäusern hindurch. sie neigten die schiefen Dächer gegeneinander. Menschen drängten sich auf der Gasse. Sie waren sauberer und besser gekleidet als das Volk unten am Hafen.

Vor einem reinlich getünchten Haus blieb der Wanst stehen. Eine Reihe von Stufen führte zum Eingangsportal hinauf. Auf energisches Klopfen öffnete ein Diener in guten Kleidern.

Der Hafenmeister blickte sich zu mir um. „Du wartest mit den Wachen hier draußen.“

Aber Kat sagte mit Befehlsstimme: „Er kommt mit!“

Der Schmerbauch blickte mürrisch, aber er sagte nichts.

Drinnen führte eine knarrende Stiege ins erste Stockwerk auf einen engen Gang. Es roch nach Kalk und Scheuerseife. Ich musste aufpassen, mir nicht den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen. Über die ächzenden Dielen brachte der Hafenmeister uns zu einer Tür am Ende des Gangs.

„Hier,“ flüsterte er.

Hinter der Tür war es dunkel. Röchelnde Atemgeräusche waren zu vernehmen. Die Vorhänge waren zugezogen. Ein Becken mit glühenden Kohlen verbreitete Hitze, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb. Beinahe die Hälfte der Kammer nahm ein großes Bett ein. Eine massige Gestalt in einem weißen Hemd saß darin. Sie stöhnte, als wir den Raum betraten.

Der Hafenmeister wandte sich dem Bett zu. „Mergel, ich bringe dir eine Ärztin.“

„Ich will keine Ärzte mehr,“ keuchte der im Bett Sitzende. „Verschafft mir Luft!“

Ohne einen Blick auf den Kranken zu werfen, ging Katrina zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und riss das Fenster auf. Tageslicht flutete die Kammer. Kühle Luft strömte herein. Der Hafenmeister starrte Kat entsetzt an. Ein seufzendes Aufatmen war aus dem Bett zu hören.

Der Kranke war ein großer, schwerer Mann. Er lehnte nur mit einem Nachthemd bekleidet in den Kissen. Die Bettdecke hatte er zurückgeschlagen. Seine Haut war blass und aufgeschwemmt, schwere Lidsäcke verbargen beinahe die halb geschlossenen Augen, die im Licht blinzelten. Sein Gesicht war teigig mit aufgedunsenen Wangen, die Haare schweißnass. Der Mann war über die Maßen fett, die nackten, schwammigen Beine unglaublich dick.

Katrina drehte sich zu dem sprachlosen Hafenmeister um. Mit dem Finger wies sie auf das Kohlenbecken.

„Schafft das raus!“

Die Augen des Hafenmeisters weiteten sich vor Schreck.

„Aber die Doktoren sagen...“ stotterte er.

Kat fiel ihm ins Wort. „Zum Henker mit deinen Doktoren, raus damit!“

Der Wanst wurde blass. Er gab einem Diener einen Wink. Das Kohlenbecken wurde hinausgetragen.

„Die Krankheit ist schlimm genug,“ schimpfte Katrina. „Muss man ihn da noch zusätzlich quälen?“

Der Kranke gab mit geschlossenen Augen zustimmende Seufzer von sich. Er atmete keuchend. Der Hafenmeister war verstummt. Mit betroffenem Gesicht und großen Augen beobachtete er Katrina, wie sie sich über den Kranken beugte, sein Handgelenk ergriff und mit den Fingern nach der Pulsader tastete. Nach einer Weile, in der niemand etwas sagte, blickte sie zu der kleinen Kommode neben dem Bett. Darauf stand eine braune Glasflasche. Ein Silberlöffel lag daneben.

„Was für Medizin wurde ihm bisher gegeben?“

„Das Rezept steht auf der Flasche,“ stotterte der Wanst. „Ich habe es in der Apotheke anmischen lassen. Das letzte Rezept haben die Doktoren vor zwei Tagen zusammengestellt, weil die vorherigen nicht gewirkt haben.“

Kat griff nach der braunen Flasche. „Orthosiphon, Fenchel, Kamille, Süßholz, Birkenblätter, Goldstaub und Quecksilber,“ las sie.

„Quecksilber!“ Sie schaute den Hafenmeister wütend an.

„Der Apotheker sagt, ohne Goldstaub und Quecksilber wirkt die Medizin nicht,“ murmelte er wie auf der Anklagebank. „Allerdings wird das Rezept dadurch auch sehr teuer.“

Katrina blickte auf den aufgequollenen Leib des Kranken. Sie schüttelte den Kopf.

„Diese Rezeptur kann bei Krankheitsbeginn helfen. Bei Wassersucht im Endstadium führt sie nur zu Verschlimmerung.“

Sie öffnete ihre Arzttasche. „Sein Körper ist voller Wasser, es drückt ihm auf die Lungen. Ich muss ihm die Beine aufschneiden, um ihn zu entwässern. Sonst erstickt er.“

Der fette Hafenmeister schaute besorgt, wagte aber nicht, etwas zu erwidern.

„Ich brauche einen Kessel mit kochendem Wasser und eine Schüssel, am besten zwei. Und sauberes Leinen für die Verbände,“ kommandierte Katrina.

Dienstboten rannten, die geforderten Gegenstände zu holen.

Katrina tauchte ein kleines Messer in das kochende Wasser und schnitt dem Kranken vorsichtig beide Unterschenkel auf, ohne dabei sehr tief zu schneiden. Etwas Blut strömte in die Schüssel, dann aber begann ein stetiges Rinnsal durchsichtiger Flüssigkeit aus den Wunden zu fließen. Katrina beobachtete den Kranken gespannt.

Schüssel um Schüssel füllte sich und wurde hinausgetragen. Nach einer Weile beruhigte sich der Atem des Kranken. Er schloss die Augen, sank in die Kissen zurück und schlief ein. Die Beine und sein ganzer Körper sahen weniger aufgeschwemmt aus als noch vor einer Stunde. Katrina betupfte die nassen Wunden, aus denen immer noch Flüssigkeit sickerte, mit einer roten Tinktur und legte Verbände an. Der Kranke schlief. Sein Atem ging ruhig.

Kat packte ihre Arzttasche zusammen und stand auf.

„Lasst den Apotheker einen alkoholischen Auszug aus Blättern vom roten Fingerhut herstellen,“ ordnete sie an. „Davon soll Euer Bruder morgens, mittags und abends zwei bis drei Tropfen zu sich nehmen, nicht mehr. Und der Apotheker soll sein Gold und sein Quecksilber oder Kupfer oder was ihm sonst noch einfällt, beiseite lassen. Nur Fingerhutblätterauszug, nichts sonst! Und Euch - “ sie tippte dem erstaunten Hafenmeister auf den Bauch, „ - empfehle ich, täglich eine Messerspitze Bleipulver einzunehmen.“

„Weshalb denn das?“ fragte er.

„Für Eure Gesundheit und weil Ihr auch schon recht wohlbeleibt seid - zur Vorbeugung. Aber nur eine Messerspitze voll. Wenn Ihr zu viel davon einnehmt, wirkt es schädlich.“

Damit ließ sie ihn stehen und ging hinaus.

Ich folgte ihr auf die Straße.

„Warum hast du dem Fettwanst das mit dem Bleipulver gesagt?“ fragte ich sie, während wir die Gasse hinuntergingen.

Kat lächelte boshaft. „Blei ist ein langsam wirkendes Gift. Über mehrere Monate in kleinen Portionen eingenommen bewirkt es zuerst Verwirrtheit, dann Wahnzustände und schließlich den Tod.“

„Du meinst, wenn er sich an deinen Rat hält, bringt ihn das um?“

Kat sah mich mit Raubtieraugen an. „Hat er etwas anderes verdient?“

Ich blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. „Sag mal Kat, wie viele Menschen hast du eigentlich schon auf dem Gewissen durch solche Methoden?“

Kat schien sich außerordentlich für den Rauch zu interessieren, der vom Schornstein des gegenüberliegenden Hauses aufstieg.

„Die Leute, bei denen ich nachgeholfen habe, verdienten allesamt, zu sterben,“ sagte sie entschieden. „Ich hab keine unschuldigen Seeleute auf dem Gewissen!“

Entschlossen ging sie weiter.

„Ob die Seeleute gute oder schlechte oder unschuldige Menschen waren, kann man ja gar nicht wissen,“ meinte ich, während ich mich bemühte, mit ihr Schritt zu halten. „Vielleicht haben sie durch uns ja nur ihr gerechtes Schicksal empfangen.“

Kat schwieg verbissen.

Schließlich fauchte sie: „Bei denen, wo ich nachgeholfen habe, weiß ich es!“

Ich hielt lieber den Mund.

Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander. Als wir um eine Ecke auf die Torgasse einbogen, blickte Kat in die dem Tor entgegengesetzte Richtung.

„Wenn wir schon mal hier sind, können wir doch auch kurz über den Markt schlendern, was meinst du?“

„Über den Markt?“

„Warum nicht? Komm!“

Kat lief die Gasse hinauf in die Stadt hinein. Mir blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

Der Marktplatz war umgeben von großen Steinhäusern. Alle hatten vier oder mehr Stockwerke. Auf dem Platz drängte sich eine bunte Menschenmenge um Buden und Marktstände. Marktschreier riefen ihre Waren aus. Kat blieb vor einem Stand mit getrockneten Früchten stehen. Nach längerem Aussuchen erstand sie ein kleines Säckchen voll.

„Koste mal,“ sie hielt mir das Säckchen entgegen.

Die hellbraunen, verschrumpelten Früchte waren länglich und etwas kleiner als mein Daumen. Sie rochen süß.

„Was ist das?“ Ich nahm eine der seltsamen Früchte in die Hand.

„Datteln,“ sagte Kat, während sie sich eine in den Mund steckte. „Von ziemlich weit her aus dem Süden. Probier mal, die sind gut!“

Ich kostete. die Frucht hatte einen harten Kern. Das mürbe Fruchtfleisch schmeckte süß und aromatisch.

„Lecker!“ meinte ich. „So was hab ich noch nie gegessen.“

Kat grinste. „Besser als getrockneter Fisch, nicht?“

An einem Stand drängte sich eine Gruppe junger Leute mit schweren Rucksäcken um eine Salbenverkäuferin. Sie trugen schmutzige Stiefel und abgewetzte Kleidung und waren mit Schwertern und Bögen bewaffnet. Einer hatte den Kopf kahlgeschoren bis auf einen schwarzen Zopf im Nacken. Auf dem Rücken trug er eine große Zweihänderaxt. Ein anderer hatte eine Armbrust oben auf den Rucksack geschnallt. Lauthals feilschten sie mit der Marktfrau um Heilpasten und Schutzamulette.

„Ich möcht' gern wissen, wie die in die Stadt gekommen sind,“ meinte ich zu Kat.

„Ach,“ raunte sie, „solche Leute finden Mittel und Wege, überall hinzukommen. Manchmal werden die sogar von Königen angeheuert für irgendwelche zwielichtigen Aufträge. Das sind Abenteurer. Denen geht man besser aus dem Weg. Mit solchen ist nicht gut Kirschen essen.“

„Wir sind auch Abenteurer!“ sagte ich.

Aber Kat sah nur spöttisch an mir herunter.

Kat bummelte zwischen den Marktständen umher, besah sich Kleider und Stoffe, steckte ihre Nase in Gewürzdosen und drehte Zinnbecher und Glaskelche in ihren Händen, während sie mit den Händlern über die Herkunft der Waren plauderte. Mit taten Füße und Rücken weh. Ich begriff nicht, wie sie sich in dem Gedränge wohlfühlen konnte zwischen lauter Dingen, die sie ja doch nicht kaufen würde. An einem Schmuckstand besah sie sich lange Zeit die Auslagen.

„Findest du, diese Ohrringe stehen mir?“

„Was?“

„Leif, steh nicht so gelangweilt herum! Schau, die Ohrringe. Stehen die mir?“

„Die Ohrringe? Ja, schon, glaube ich.“

Sie warf mir einen bösen Blick zu.

Schnell stotterte ich: „Bestimmt sogar, doch, ganz bestimmt.“

Kat erstand die Ohrringe.

„Das war mein letztes Geld.“ Mit einem schelmischen Seitenblick auf mich meinte sie: „Jetzt bin ich vollkommen von Sven und dir abhängig!“

***

Wir verließen die Altstadt und bahnten uns einen Weg zwischen den Handwerkerbuden zum Hafen zurück. Ich warf einen Blick auf den Eingang einer rauchigen Taverne. Essengeruch und Tabakqualm drangen mir entgegen.

„Wir sollten uns mal umsehen, wo wir über Nacht Quartier beziehen wollen.“

Kat machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir hier gar nicht übernachten, sondern gleich weitersegeln. Ich hab so den Eindruck, wir finden unser Boot sonst morgen nicht wieder.“

Ich wollte etwas erwidern, als auf der Straße oberhalb von uns wütendes Geschrei erscholl. Wir drehten uns um. Aus dem Gedränge kam ein Mädchen in einem wehenden roten Kleid die Straße herunter geradewegs auf uns zu gerannt. Sie war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als wir. Ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare wurden von einem ledernen Stirnband gehalten. Sie hatte keinen Überwurf und ihr Kleid war ihr beim Rennen über die Schulter heruntergerutscht. Im Gedränge hinter ihr tauchte aus einer Seitengasse eine Gruppe von Hellebarden auf, die versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Eine Männerstimme brüllte: „Platz da, durchlassen! Haltet sie!“

Das Mädchen rannte geradewegs auf die Gasse zu, an der Kat und ich vorbeigingen. Es war eine mit Kisten und Fässern vollgestapelte Sackgasse. Als das Mädchen keine drei Schritt von uns entfernt merkte, dass die Gasse eine Falle war, hielt sie im vollen Lauf an und sah sich atemlos nach einem anderen Fluchtweg um. Die Hellebarden hatten sich fast durch die Menschenmenge durchgekämpft.

Ohne Vorwarnung riss sich Katrina ihren Kapuzenmantel herunter und warf ihn dem Mädchen über.

„Rein da, versteck' dich zwischen den Fässern. Wir halten sie auf!“

Sie schob mich und das Mädchen in die Gasse, gerade als aus der Menge ein Offizier in Lederrüstung mit blank gezogenem Schwert hervordrängte und mit langen Schritten die Straße herabgerannt kam. Die Hellebardiere folgten ihm auf dem Fuß.

„Aufhalten! Haltet sie auf!“ brüllte er die Straße herab.

Kat drückte sich am Eingang der Gasse an die Hauswand. Das Mädchen hatte sich Katrinas Mantel umgeschlungen und verkroch sich zwischen den Fässerstapeln. Ich stand hinter Kat in der Gasse.

„Bleib dicht hinter mir!“ befahl Kat. „Wenn ich jetzt sage, dann rennst du mit mir auf die Straße raus! Achtung!“

Polternde Stiefel näherten sich.

„Jetzt!“

Katrina fegte aus der Gasse. Ich rannte ihr hinterher.

Das ist Wahnsinn, blanker Wahnsinn! schoss es mir durch den Kopf.

Katrina raste direkt auf den Offizier zu. Sie kreischte und hielt sich schützend den Arm vors Gesicht. Der Offizier prallte im vollen Lauf mit der Nase gegen ihren Ellenbogen. Brüllend taumelte er zurück. Blut schoss ihm aus der Nase. Seine Soldaten stoppten und senkten die Hellebarden.

Alle Sterne, das geht nicht gut aus!

Katrina stand breitbeinig vor dem Offizier. Blitzschnell zog sie ihr Schwert.

„Was fällt euch ein,“ kreischte sie, „harmlose Spaziergänger über den Haufen zu rennen! Der da hätte mich beinahe zu Boden getrampelt!“

Mit einer raschen Kopfgeste deutete sie mir an, mein Schwert zu ziehen. Sechs Hellebarden waren auf uns gerichtet. Der Offizier hustete und nieste Blut, unverständliche Flüche herausbrüllend. Die Soldaten starrten ihn unsicher an. Sie warteten auf einen Befehl. Ich holte tief Luft und zog mein Schwert. Wie von selbst ging mein Körper in Kampfstellung. Ein Blitz lief die Klinge entlang, als ich sie den Hellebarden entgegenstreckte. Die Soldaten wichen einen Schritt zurück. Furcht malte sich auf ihren Gesichtern. Ein fetter Mann im Fellmantel und mit Pelzmütze keuchte heran.

Mit krebsrotem Gesicht japste er: „Fangt die Diebin! Sie hat mir die Geldbörse gestohlen!“

An seinen fleischigen Fingern prangten edelsteinbesetzte Ringe.

„Hilfe, Überfall!“ schrie Kat. „Man rennt mich um und trampelt mich zu Boden!“

Die ganze Zeit über tanzte ihre Schwertspitze gefährlich nahe vor dem Gesicht des Offiziers. Der ging einen Schritt rückwärts.

„Wo ist sie? Sie hat meine Börse!“ kreischte der Mann im Pelz.

Der Offizier wischte sich mit dem Lederärmel Blut aus dem Gesicht. Es floss ihm noch immer aus der Nase.

„Verzeiht, meine Dame, war ein Versehen,“ nuschelte er erstickt.

Er beobachtete vorsichtig Kats Schwertspitze.

„Meine Börse!“ jammerte es im Hintergrund.

„Ihr hättet mich beinahe totgetreten,“ schrie Katrina. „Was soll das überhaupt bedeuten?“

Der Offizier hielt sein Schwert gesenkt. Mit der Linken machte er eine beschwichtigende Handbewegung. Die Soldaten lockerten ihre Haltung.

„Wir verfolgen eine Diebin,“ sagte der Offizier, Blut aus seinem Gesicht wischend. „Kleines Mädchen in leuchtend rotem Kleid. Muss hier lang gekommen sein.“

„Hier ist niemand lang gekommen,“ rief Kat wütend. „So ein kleines Biest im rotem Kleid hab ich dahinten lang rennen sehen, gerade in dem Moment, als Ihr mich umgerannt habt.“

Sie zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite.

„Wo?“ Offizier, Soldaten und der pelzbehangene Mann drehten sich in die Richtung, die Kat zeigte.

„Da, in die Gasse da drüben muss sie gerannt sein,“ schimpfte Kat.

Der Pelzmantel kreischte: „Hinterher!“

Die Meute lief los. Passanten stieben auseinander, als sie zur gegenüberliegenden Straßenseite preschten. Bald waren sie in der Seitengasse verschwunden.

Kat steckte ihr Schwert in die Scheide und inspizierte ihren Ellenbogen auf Blutflecken.

„Das war knapp,“ meinte sie trocken.

Ich merkte, dass mir die Beine zitterten.

„Kat!“ keuchte ich. „Das hätte ganz verdammt schief gehen können. Die hätten mit ihren Hellebarden Hackfleisch aus uns gemacht!“

„Ach was!“ Kat zog mich in die Gasse hinein. „Die paar Männeken konnten uns nichts anhaben.“

Sie musterte mich. „Angst gehabt?“

Natürlich schüttelte ich den Kopf.

„Ich mein' ja nur so,“ murmelte ich.

Meine Beine zitterten immer noch.

Das Mädchen kroch aus dem Fässerstapel hervor. Sie hatte die Kapuze von Katrinas Mantel über den Kopf gezogen und hielt den Mantel mit einer Hand über der Brust zu. Sie hatte feine, blasse Gesichtszüge.

„Danke,“ sagte sie. „Warum habt ihr das getan?“

„Nicht der Rede wert,“ winkte Kat ab.

Sie schaute das Mädchen an. „Können wir dir sonst noch irgendwie helfen?“

Die Kleine schüttelte den Kopf. „Ich glaub' nicht. Ich werd' mich für einige Zeit aus dem Staub machen müssen.“ Mit dem Ansatz eines Schmunzelns fügte sie hinzu: „Ein bisschen Geld hab ich ja jetzt!“

„Wo willst du hin?“ fragte Kat.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Weiß ich noch nicht. Werd' mich schon durchschlagen, wie bisher auch. In den letzten Wochen hab ich's als Schankmädchen versucht, oben in den Gasthöfen vor der Altstadt, wo die reichen Kaufleute absteigen. Aber da kann ich mich jetzt erst mal nicht mehr blicken lassen.“

„Komm doch mit uns,“ rief Kat.

Ich fuhr zusammen. „Aber Kat...“

Sie brachte mich mit einem Blick zum Schweigen.

Zu dem Mädchen sagte sie: „Die beiden Jungs, mit denen ich unterwegs bin, haben eine Einladung auf ein Rittergut im Norden. Schlimmer als anderswo kann es da auch nicht sein.“

Das Mädchen zögerte. „Und ihr würdet mich mitnehmen?“

„Klar doch,“ rief Kat. „Zu viert kommt man besser durch als allein!“

„Ich weiß nicht - “ überlegte die Kleine, „ - wenn die Männer auch einverstanden sind?“

Sie warf mir einen prüfenden Blick zu.

„Die sind einverstanden,“ bestimmte Kat.

Ich fühlte mich irgendwie überflüssig.

Kat reichte dem Mädchen die Hand. „Ich bin Katrina.“

„Lyana,“ antwortete sie.

Dann streckte die vielleicht Siebzehnjährige mir ihre schmale Hand entgegen. Ich ergriff sie.

„Ich bin Leif,“ meinte ich zögernd.

„Unsere Jolle liegt unten im Hafen, bei den Fischkuttern. Vermutlich werden wir heute schon wieder in See stechen,“ erklärte Kat.

Lyana machte große Augen. „Ihr seid auf dem Wasser unterwegs nach Norden? Mit einer Jolle?“

„Klar, warum nicht?“ wollte Kat wissen.

Ich murmelte schnell etwas von ungewöhnlich gutem Segelwetter für die Jahreszeit. Das junge Mädchen sah mich misstrauisch an.

„Die Jungs kennen sich mit Booten wahnsinnig gut aus, die sind schon gesegelt, als sie noch in den Windeln lagen. Die segeln so eine Jolle locker durch jeden Sturm,“ erklärte Kat zuversichtlich.

Lyana maß Kat und mich mit dem Blick, als wollte sie herausfinden, ob sie es mit Verrückten oder mit Idioten zu tun habe.

„Wir segeln halt dicht unter Land,“ murmelte ich.

„Wenn ihr meint - “ Lyana zuckte mit den Achseln. „Ich müsste nur noch mal hoch, meine Sachen holen. In einer Stunde oder so könnte ich am Quai sein.“

Sie streifte sich den Mantel ab und wollte ihn Katrina zurückgeben, aber Kat meinte: „Nein, behalt' ihn erst mal. Besser, du fällst nicht so auf.“

„Sie scheint nicht so viel Ahnung von der Seefahrt zu haben,“ meinte Kat zu mir, als wir uns auf den Weg zum Boot machten.

Ich antwortete lieber nichts darauf.

***

Zurück beim Boot berichteten wir Sven, was sich ereignet hatte.

„Eine Diebin in unserem Boot?“ schimpfte er. „Was ist das denn für eine bescheuerte Idee?“

Kat sah ihn ironisch an.

„Bei Seeräubern und Giftmischerinnen ist sie doch in guter Gesellschaft,“ meinte sie mit einem Seitenblick auf mich. „Und überhaupt fänd' ich es schön, auch mal eine Frau als Reisegefährtin zu haben. Nichts gegen euch, Jungs - “

„Wir haben schon zu dritt kaum Platz in der Jolle,“ polterte Sven. „Für vier Mann ist das Boot auf jeden Fall zu klein!“

Kat machte ein finsteres Gesicht.

„Sie kommt mit!“ entschied sie.

Und dabei blieb es.

Nach einigem Hin und Her, wobei Sven sich bitter beklagte, dass aus der warmen Tavernenstube nichts wurde, beschlossen wir, noch am selben Tag wieder in See zu stechen. Zu diesem Entschluss trug nicht zuletzt eine Gruppe abgerissener, gewalttätig aussehender Gestalten bei, die von Quai aus unser Boot beobachteten.

Kat teilte Sven und mich zum Proviantbesorgen ein und entschied, selbst beim Boot zu bleiben. Außerdem wollten wir herausfinden, wie weit es noch war bis Lüdersdorf und woran wir das Fischerdorf erkennen würden.

Wir fragten bei den Mannschaften der Fischkutter und bei denen der Handelsbriggs, aber außer stummem Kopfschütteln bekamen wir keine Antworten. Niemand hatte von einem Fischerdorf namens Lüdersdorf gehört.

„Außer dem Ende der Welt kommt im Norden nichts mehr,“ erklärte ein ungewöhnlich gesprächiger Seemann. „Da ist nur Wildnis. Alle Schiffe von Torglund gehen nach Süden.“

Ratlos gingen wir am Quai entlang. Sven zeigte auf einen heruntergekommenen Schoner, der am äußersten Ende des Quais vertäut lag.

„Vielleicht bekommen wir dort eine Auskunft.“

Obwohl die Takelage in gutem Zustand war, machte der Zweimastschoner einen schäbigen Eindruck. Farbe blätterte vom Rumpf, der unterhalb der Wasserlinie von Muscheln und Algen bedeckt war. Das Deck war dreckig, Kabel und Taue lagen unordentlich durcheinander. Zwei Männer hockten nahe der Planke auf dem Deck und würfelten. Sie trugen schmutzige Kopftücher und kauten Tabak. Einer der beiden trug goldene Ohrringe.

„Hört mal,“ rief ich die beiden an. „Kennt ihr ein Fischerdorf namens Lüdersdorf, nördlich von hier?“

Der links Sitzende wandte mir sein narbenversehrtes Gesicht zu. „Nördlich von hier? Was willst du da, Junge?“

Die Augen der beiden ruhten auf unseren Waffen. Sie warfen sich einen Blick zu.

„Wir sind auf der Fahrt nach einer Burg Dwarfencast, an der Küste bei Lüdersdorf,“ antwortete ich.

„Hier im Norden gibt's keine Burgen,“ meinte der mit den Ohrringen.

„Er meint vielleicht den Turm auf der Klippe, fünf Segeltage von hier,“ antwortete der Narbenversehrte seinem Kameraden. „Der Turm, dem man sich nicht nähern kann, ohne dass sich einem die Haare sträuben.“

„Da gibt's tatsächlich ein Dorf,“ überlegte der mit den Ohrringen. „Ich meine, es heißt sogar Lüdersdorf. Das letzte Grenzkaff, das glaubt, noch zum Reich zu gehören. Da wollt ihr hin?“

„Wir haben ein Empfehlungsschreiben nach Dwarfencast,“ antwortete Sven.

Die beiden maßen uns mit einem Blick, wie ich ihn schon bei Lyana gesehen hatte - Verrückte oder Idioten?

„Nach Lüdersdorf segelt ihr fünf Tage nordwärts die Küste entlang,“ erläuterte der Vernarbte. „Bis hinter Lüdersdorf ist es einfache Passage, keine Riffs oder Querstömungen. Nach ein, zwei Tagen öffnet sich die Küste nach Osten auf eine große Bucht, die sich zehn Tagereisen weit nach Südost - Ost - Nordost und dann nordwestlich zu einer großen Landzunge hin erstreckt. Da kommen ein paar Sandbänke, besser weit ab vom Ufer segeln. Bei Lüdersdorf ist wieder hohe Steilküste. Das Dorf liegt in einem Einschnitt, die einzige menschliche Behausung da oben. Hinter Lüderdorf ist gefährliches Fahrwasser. Viele Riffe und Wirbelstömungen. Aber,“ fügte er knurrend hinzu, „ihr solltet da nicht hinfahren. Nichts zu holen da oben. Die Lüdersdorfer sind bettelarm, haben selber kaum zu beißen. Schlimme Gegend. Letztes Jahr haben wir da oben einen Mann verloren, unseren Schiffskoch. Wir fahren da nicht mehr hin.“

„Danke,“ antwortete ich verwirrt. „Wir überlegen noch.“

„Überlegt's euch gut!“ riefen die beiden uns nach.

„Was hat er da erzählt, von einem Turm, bei dem sich einem die Haare sträuben?“ überlegte Sven, als wir außer Hörweite waren.

„Ach du weißt doch,“ wiegelte ich ab, „in den Häfen bekommt man alles mögliche Seemannsgarn zu hören. Das ist sicher alles nur ersponnen.“

Wir erstanden ein Fass Salzheringe, einen Sack Zwieback und einen Sack Äpfel. Sven seufzte, als wir mit dem Fass und den Säcken zum Boot zurückmarschierten.

„Wenn wir in Dwarfencast sind,“ murrte er, „bei diesem Zosimo Trismegisto, dann will ich aber endlich mal wieder was Ordentliches zu essen vorgesetzt bekommen. Darauf soll er sich schon mal einrichten, unser Burgherr.“

Als wir zwischen großen, angetäuten Kuttern den Steg betraten, an dessen Ende unsere Jolle vertäut war, bemerkten wir vorne auf dem Steg eine Gruppe von Männern. Hinter ihnen war Kats blonder Schopf zu sehen. Eine Klinge blitzte auf zwischen ihr und den Männern. Sie hatte ihr Schwert gezogen. Die Männer hatten zerschlissene Hosen und Hemden an. Die meisten waren barfuß. Sie hielten Waffen in den Händen - Entermesser, Äxte, Schwerter.

„Oh verdammt,“ keuchte Sven.

Wir fielen in Laufschritt.

„He da,“ schrie ich, „was ist da los?“

Vorne auf dem Steg schrien die Männer auf. Kats Schwert sauste zwischen sie. Links von Kat stürzte einer ins Wasser, gleich darauf ein weiterer auf der Rechten. Ein anderer heulte auf. Er ging in die Knie, seine Waffe polterte auf den Steg. Die drei übrigen drehten sich um und rannten den Steg herab auf uns zu. Wir ließen unsere Last auf die Planken gleiten und zogen die Waffen. Entsetzt bremsten die Männer ab. Einer sprang direkt vor uns ins Wasser, die anderen beiden flüchteten sich auf einen seitlich vertäuten Kutter.

Kat stand mit gezogenem Schwert vor dem am Boden Knienden. Langsam sank er auf den Steg. Er presste die Hände auf seine Brust. Blut quoll hervor und bildete eine rote Lache um ihn herum. Er zuckte ein paar Mal, dann blieb er starr liegen. Katrina stieg über ihn hinweg und kam uns mit blutigem Schwert in der Hand entgegen.

„Hallo Jungs,“ rief sie, „habt ihr bekommen, was wir brauchen?“

Neben uns im Wasser war heftiges Prusten, Gurgeln und Platschen zu hören.

„Bei allen Sternen, Kat, ist alles in Ordnung?“ rief Sven.

„Klar doch,“ sagte sie grimmig.

Das platschende Gurgeln wurde schwächer.

„Da waren ein paar Hafenleute, die dachten, eine Jolle mit einem Mädchen drin könnten sie sich mal eben so unter den Nagel reißen. Schlimm für sie.“

Im Wasser war ein letztes heftiges Aufplätschern zu hören, dann war Stille. Auf dem Kutter vor uns ertönten Flüche und Schläge mit hartem Holz. Stimmen jammerten und röchelten auf. Das Fluchen und Schlagen ging immer noch weiter, als wir zur Jolle hinuntergingen, den toten Hafenräuber ins Wasser stießen und unseren Proviant verstauten. Zwischen den hölzernen Schlägen kreischte eine dünner und dünner werdende Stimme um Erbarmen.

***

Wir hatten den Wasservorrat aufgefüllt, als Katrinas grauer Kapuzenmantel auf dem Steg erschien. Ein roter Rock lugte unter dem Mantelsaum vor. Lyana trug eine große Tasche an einem Ledergurt über die Schulter gehängt. Unter dem Arm trug sie ein Reisigbündel. Sie blieb vor der Blutlache stehen.

„Hattet ihr Schwierigkeiten?“ Sie sah nicht wirklich beunruhigt aus.

„Nicht wir,“ rief Kat ihr zu. „Ein paar Hafenräuber hat's erwischt. Willkommen an Bord, Lyana.“

Lyana blickte misstrauisch auf unsere kleine Jolle. Aus dem Boot warf ihr Sven ebenso misstrauische Blicke entgegen.

„Hör mal, Mädchen, wir brauchen kein Klaubholz auf der Fahrt,“ brummte er statt einer Begrüßung.

„Oh,“ Lyana blickte auf das Reisigbündel unter ihrem Arm. „Ich muss das hier aber mitnehmen.“

Jetzt schauten Sven und ich sie prüfend an, nach Anzeichen für beginnenden Irrsinn suchend.

„Und übrigens, das ist Sven,“ bemerkte Kat. „Sven – Lyana!“

„Hallo,“ sagte Lyana einfach.

Sven brummte irgendetwas.

„Was ist?“ Kat blickte in die Runde. „Brechen wir auf? Ich hab keine Lust mehr auf diese versiffte, korrumpierte Bonzenstadt.“

Sven und ich sahen uns an.

Widerspruch zwecklos, sagten unsere Blicke.

Gehorsam begannen wir, die Segel zu entpacken. Lyana stieg zögernd ins Boot.

Als wir die Jolle zwischen den ankernden Schiffen hindurchruderten, fragte Lyana: „Soll ich auch irgendwas tun?“

„Nein,“ antwortete Kat an der Steuerpinne. „Setz dich einfach da auf die Bank und pass auf, dass du nicht rausfällst.“

Dwarfencast

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