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3.

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Zwischen den am Dorfausgang aufgebauten Tischen rannten fröhlich kreischende Kinder umher.

„Die Händler kommen!“

Frauen brachten Bier und Met, Männer stellten Kisten und Fässer auf und entfalteten Segeltuchbahnen, auf denen sie Beutegut auslegten. Ich saß abseits an einer Hauswand und betrachtete das Klappmesser, das ich in der Nacht einer Seemannsleiche abgenommen hatte, bevor Sven und ich den toten Matrosen in einen Kahn wuchteten und ihn zusammen mit weiteren Leichen Erschlagener und Ertrunkener aus der Bucht ruderten.

Nördlich der Bucht klaffte in der Steilküste ein kaum zwei Manneslängen breiter Spalt, an dessen Ende sich eine vom überhängenden Ufer aus nicht zu sehende Grotte befand. Wir nannten sie die Knochengrotte. Bei Flut lag der Eingang zu der Höhle größtenteils unter Wasser, doch bei Ebbe konnte man mit einem schmalen Ruderkahn hineinfahren, wenn man geschickt genug war, das Boot in der Brandung durch den Felsspalt zu steuern.

Als wir den mit Leichen beladenen Kahn bei Morgengrauen im Licht einer Fackel in die Höhle manövrierten, begann das Wasser in der Grotte rings um das Boot in wimmelnder Bewegung zu schäumen. Scharfe Zähne griffen die ins Wasser klatschenden Leichen und zogen sie hinab. Das Wasser verfärbte sich dunkel vom Blut.

„Pass auf, dass wir nicht kentern. Moränen fressen einen lebenden Menschen genauso schnell wie eine verfluchte Matrosenleiche.“

Sven keuchte, während wir die steifen Körper über den Bordrand wuchteten. Viele hatten klaffende Wunden. Ihre Kleidung hing in Fetzen. Als wir fertig waren, hob ich die Fackel und leuchtete den hinteren Teil der Höhle aus. Auf einem schmalen Sandstreifen lagen zersplitterte Knochen und Schädel, tiefbraun und halb vom Sand begraben die ältesten, viele Knochenteile aber noch weiß und rötlich verfärbt vom heraustretenden Mark.

„Nichts wie raus aus der verpesteten Luft,“ knurrte Sven.

Es roch nach Leichen, Blut und faulem Wasser.

„Warte noch.“ Ich hielt die blakende Fackel hoch.

Um uns schäumte blutiges Wasser.

Das hier ist unser Opferschrein,“ flüsterte ich. „Der Schrein oben im Dorf, die Strohhütte mit der Stele des „Herrn der Bucht“ - damit betrügen wir uns doch bloß selbst. Unsere wirkliche Opferstätte - das ist hier!“

Wir blickten uns an. Das flackernde Fackellicht färbte Svens Gesicht orangerot.

„Lass uns abhauen.“ Sven griff sein Ruderpaar.

Ich war mir nicht sicher, was er meinte. Ich dachte an den Bund, den wir vor zwei Jahren geschlossen hatten. Ich senkte die Ruder ins Wasser und wir manövrierten den Kahn hinaus in den Wind und die brechenden Wellen.

***

Ich klappte das Messer zu und steckte es in die Hosentasche. Es hatte einen schön geschwungenen, glatten Griff aus gelblich-weißem Material, härter als Knochen.

Vielleicht Elfenbein, dachte ich. Dann musste es sehr wertvoll sein. Wo der Junge es wohl her hatte? Er war kaum älter gewesen als ich selbst. Er hatte einen so erstaunten, fassungslosen Ausdruck im Gesicht gehabt, die glasigen Augen weit aufgerissen. Als wollte er nicht glauben, dass er schon tot war.

Ich zwang mich, an anderes zu denken. Die Händlerkarawane hatte das Dorf erreicht. Knechte nahmen die Planen von den Wagen. Es waren magere Jungen in abgerissenen, schmutzstarrenden Lumpen, barfuß die meisten. Bärtige Männer mit Spießen in den Händen und langen Dolchen in den Gürteln sammelten sich um einem Tisch. Ihre Kleider waren kaum besser als die Lumpen der Krämersknechte. Sie trugen löchrige alte Lederstiefel. Gierig griffen sie nach den Bierkrügen und stürzten das Bier hinunter. Ihre Gesichter waren müde. Die Krämer waren wenig besser gekleidet in langen Filzmänteln und mit soliden, wenn auch abgetragenen Stiefeln. Viele trugen ein Schwert an der Seite. Sie stellten sich zu den Männern des Dorfs. Man tauschte Belanglosigkeiten aus, bevor der Handel begann.

Neben mir ließ Sven sich schwerfällig auf die Bank fallen. Er hielt mir einen Krug Met hin. Wir tranken und beobachteten das Treiben bei den Karren und Planwagen.

„Warst du bei Lonne?“

Sven nickte grimmig.

„Wie geht's ihm?“

„Das Bein sieht schlimm aus. Völlig verdreht, der Knochen schaut raus. Lonne ist nicht bei Sinnen, faselt unsinniges Zeug.“

Sven nahm einen tiefen Schluck Met.

„Wer hätte auch damit gerechnet,“ schimpfte er los, „dass die Teufel noch kämpfen, während ihr Kasten absäuft! Wie die Berserker haben die um sich geschlagen. Mit Messern und Äxten und Bootshaken! Einer hätte mich beinahe am Kopf erwischt. So was hab ich noch nicht erlebt!“

„Die wussten, das wir sie tot machen,“ murmelte ich. „Wollten halt auch nur leben.“

Schweigend starrten wir vor uns hin.

„Schau dir die mal an - die Frau auf dem Wagen da drüben!“

Ich blickte in die Richtung, die Sven zeigte. Eine Frau unter den Krämern war ungewöhnlich. Von einem Planwagen stieg eine junge Frau herab und blickte sich neugierig um. Sie stand aufrecht und bewegte sich wie selbstverständlich zwischen den Karawanenleuten, als wäre es das Normalste der Welt für ein Mädchen, auf einem Planwagen in ein Seeräubernest zu reisen. Ihr Aussehen passte nicht zu den zerlumpten Gestalten der Karawane. Sie trug ein sauberes Leinenkleid in hellen Grün- und Grautönen, einen Ledergürtel, an dem ein Beutel befestigt war und Lederschuhe. Ihre flachsblonden Haare hatte sie an den Seiten zu schneckenförmigen Zöpfen zusammengerollt. Ihr Gesicht und ihre Hände waren sonnengebräunt aber sauber, wodurch sie sich auffällig von allen Umstehenden unterschied. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie zerlumpt und ungewaschen ich selbst aussah, obwohl mir das sonst ganz normal vorkam. Dem Augenschein nach musste das Mädchen Anfang zwanzig sein. Bestimmt roch sie nach Seife, schoss es mir durch den Kopf - wie die Mägde im „Einäugigen Piraten“, aber vielleicht weniger nach Rauch und Küche.

Der Blick der jungen Frau wanderte in unsere Richtung. Sie schaute Sven an, dann mich. Ihr Gesichtsausdruck war offen und furchtlos, ganz anders als derjenige der Mädchen des Dorfs, die immer die Augen niederschlugen, wenn sie mit einem redeten. Ich blickte zurück. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, auf See zu sein. Das Mädchen kam auf uns zu.

„Mach den Mund zu!“ raunte ich Sven zu.

„He, Jungs!“

Um die Lippen der jungen Frau spielte ein leichtes Schmunzeln. Ihre Stimme war fest, aber nicht unfreundlich.

„Gibt es in eurem Dorf eine Heilerin? Eine Kräuterkundige oder so?“

„Was?“ murmelte Sven.

Das Mädchen grinste. Sie schien sich ein Lachen zu verbeißen.

Ich holte Luft. „Ja sicher, Mara ist unsere Heilerin. Die Alte, die da drüben bei den Frauen steht.“

Das Mädchen schaute in die Richtung, die ich ihr wies, und nickte mir zu. „Danke.“

Sie ging zu den Frauen hinüber, die sich im Schatten eines Hausdachs unterhielten. Sven schaute mich an, als wäre er eben aus einem Traum aufgewacht.

„Was war das denn?“ flüsterte er.

Ich hatte noch immer den Eindruck, zu schwimmen.

„Ich möcht' zu gern wissen, wo die herkommt“, meinte ich.

Das Mädchen stellte sich zu den Frauen. Unter den Dorffrauen begann eine heftige Diskussion. Laute Stimmen drangen herüber, aber es war nicht zu verstehen, worum es ging. Nach kurzer Zeit verschwanden Mara, das Mädchen und zwei, drei weitere Frauen zwischen den Hütten. Svens Schwester kam zu uns gerannt.

„Die fremde Frau hat gesagt, sie ist eine Feldscherin,“ rief sie aufgeregt.

Galina setzte sich neben Sven auf die Bank.

„Sie hat Mara gefragt, ob wir Kranke oder Verletzte im Dorf haben,“ sprudelte sie los.

„Mara hat ihr von Lonne erzählt. Jetzt sind sie gegangen, damit die Fremde sich das kaputte Bein ansieht.“

Galina war ganz außer Atem. „Sie sagte, sie wäre bis vor kurzem bei einer kaiserlichen Armee gewesen, die in ein aufrührerisches Grenzfürstentum unterwegs ist. Sie hat auch den Namen von dem Fürstentum gesagt, aber den hab ich mir nicht gemerkt. Adlerhorst oder so. Und da hätte sie schon öfter mit Wunden zu tun gehabt. In der Armee, meine ich, nicht in Adlernest. Und sie sagte, vielleicht kann sie was für Lonne tun.“

Atemlos blickte sie in die Richtung, in der die Frauen und das fremde Mädchen verschwunden waren.

„Ich geh hin, will sehen, was sie macht.“ Galina sprang auf und rannte der Gruppe hinterher.

Sven und ich holten uns Bier von den Tischen, an denen die Alten mit den Händlern palaverten. Es wurde laut diskutiert und gefeilscht. Die jungen Männer hielten sich wie wir im Hintergrund und behielten die Krämersknechte und die Wachleute der Karawane im Auge, damit sie unserem Raubgut nicht zu nahe kamen, bevor der Handel abgeschlossen war. Die Verhandlungen würden noch mindestens bis zum Einbruch der Dunkelheit andauern.

Kaum eine Stunde war vergangen, als das grün und grau gemusterte Kleid zwischen den Hütten auftauchte. Sven und ich saßen noch immer an der Hauswand. Die junge Frau kam direkt auf uns zu. Als sie näher kam, stand ich auf, um nicht wieder so von oben herab angesprochen zu werden.

„Ihr beiden,“ rief sie uns zu. „Könnt ihr mein Gepäck zu Maras Hütte bringen?“

„Was ist mit Lonne?“ fragte ich.

Ich merkte, dass mir ihre Art, mir offen ins Gesicht zu sehen, gefiel.

Sie blieb eine Armeslänge vor uns stehen. „Es ist eine ziemlich glatte Hiebwunde. Er hat noch Glück gehabt. Der Knochen ist glatt durchgehauen, aber nicht zertrümmert, jedenfalls nicht wesentlich. Das wird wieder zusammenwachsen. Ich hab den Knochen gerichtet, die Wunde genäht und das Bein geschient. Aber er hat viel Blut verloren. Als ich das Bein richtete, ist er ohnmächtig geworden. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder auf die Beine kommt. Wenn so etwas passiert, müsst ihr die Wunde gleich sauber verbinden. Das Gefährlichste ist zuerst immer das starke Bluten.“

„Verdammt, mach das mal auf einem schwankenden Wrack, das alle paar Augenblicke von der Brandung überspült wird zwischen einem Haufen um sich hauender Seeleute!“ rief Sven, bevor ich ihm einen warnenden Blick zuwerfen konnte.

Er stand ebenfalls auf. Das Mädchen schaute ihn ruhig an.

„Ich weiß,“ meinte sie. „Die meisten verbluten auf dem Schlachtfeld. Nur wenige schaffen es zu einem Wundarzt. Sonst bräuchte man im Krieg ja mehr Feldscher und Ärzte als Soldaten. Das wird bei euch genauso sein.“

„Nein, das verstehst du falsch!“ rief Sven. „Nicht wir sind diejenigen, die verbluten...“

Er schnappte nach Luft, weil ich ihm den Ellenbogen in die Seite rammte. Die junge Fremde hatte bei seinem Ausruf mit keiner Wimper gezuckt.

„Bleibst du bei Mara?“ fragte ich, um auf ein anderes Thema zu kommen.

„Mara hat mich eingeladen, zu ihr zu Gast zu kommen. Ich kann ihr vielleicht ein paar Sachen zum Versorgen von Wunden zeigen und ich möchte auch gern noch etwas von ihrer Heilkunde lernen. Ich bleibe eine Weile hier...“

Sie schaute abwechselnd Sven und mich an. Um ihre Lippen spielte wieder dieses feine Schmunzeln.

„...wenn ich in eurem Dorf willkommen bin?“

„Klar, warum nicht?“ sagte ich.

Meine Wangen und meine Ohren fühlten sich plötzlich heiß an. Eine Moment lang schauten wir die junge Frau an und sie sah abwechselnd Sven und mich an, ohne dass jemand ein Wort sagte. Ich kam mir entsetzlich dreckig und zerlumpt vor und ich wusste auf einmal nicht mehr, was ich mit meinen Händen machen sollte.

Sven brach das Schweigen als erster. „Also, wo hast du denn deine Sachen?“

„Auf dem Planwagen da drüben.“

„Und wie heißt du?“ fragte ich sie, während wir zum Wagen gingen.

„Katrina,“ sagte sie einfach.

Mir fiel nichts weiter ein, als „Leif“ zu sagen.

„Und das ist Sven - “ „ - und ich bin Sven,“ sagten wir gleichzeitig.

Sven warf mir einen bösen Seitenblick zu, aber die junge Frau lächelte uns an, ohne etwas zu erwidern. Sie kletterte in den Wagen und reichte uns einen großen Segeltuchrucksack heraus. Ich stutzte, als ich das nicht gerade leichte Gepäckstück entgegen nahm. Hinten an den Rucksack war ein langes, schlankes Schwert angeschnallt.

***

Katrina blieb ein halbes Jahr in Brögesand. Als sie im Herbst das Dorf verließ, gingen Sven und ich mit ihr. Die ganze Zeit über wohnte sie bei Mara in der engen Hütte der Heilerin, begleitete sie bei ihren Krankenbesuchen und half ihr bei der Arbeit im Kräutergarten, beim Kochen von Heilsalben und Zubereiten von Kräutertees. Im ersten Monat war sie täglich bei Lonne, wechselte die Verbände und behandelte seine Wunde. Alle im Dorf wussten, dass er ohne sie am Wundbrand gestorben wäre. Mara machte niemandem gegenüber einen Hehl daraus. Nach zwei Monaten stand Lonne auf und begann, an Krücken durchs Dorf zu humpeln. Sein Bein wurde nie wieder grade, aber nach dem vierten Monat hinkte er bereits ohne Krücken umher. Das Hinken blieb und er konnte keine weiten Strecken laufen, ohne Schmerzen zu bekommen. Doch für uns war es, als sei er von den Toten auferstanden.

Katrinas Anwesenheit im Dorf wirkte auf uns alle beinahe wie ein Wunder. Ihre Kleider waren immer sauber. Sie trug abwechselnd zwei oder drei verschiedene und wechselte ihr Kleid jede Woche. Sie ging selten barfuß wie die Dorffrauen. Meist trug sie Lederschuhe. Im Dorf ging sie aufrecht und selbstverständlich umher und sprach mit jedem ohne Scheu. Die Alten behandelten sie aufgrund ihres Heilerfolgs bei Lonne mit Ehrfurcht und Respekt. Die Kinder liefen lachend auf sie zu, sobald sie sie erblickten, und sie lachte mit ihnen, setzte sich zu ihnen und erzählte ihnen Schauergeschichten aus der Expeditionsarmee, oder sie sang und tanzte mit den Kindern im Reigen. Die jungen Frauen und Mädchen blickten ihr eifersüchtig nach. Die Mutigen unter den jungen Männern versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Die Scheuen und Stillen gingen ihr aus dem Weg. Anfangs versuchten ein paar Dorfjungs in unserem Alter, ihr nachzustellen, aber nach dem Vorfall mit Beorn wagte niemand mehr, ihr unaufgefordert nahe zu kommen.

Beorn war zwei Jahre älter und einen ganzen Kopf größer als ich. Es gab keinen Jungen im Dorf, der nicht bereits von ihm verprügelt worden wäre, und wenn er getrunken hatte, nahmen sich auch die erwachsenen Männer vor ihm in Acht. Beim Bergen von Beutegut auf See war er draufgängerisch und furchtlos. Er war verrufen dafür, dass er sich nahm, was er wollte. Einzig meinem Vater widersprach er nicht. Aber meinem Vater widersprach außer Mara ohnehin niemand im Dorf. Rugen, ein Onkel Bredurs, hatte vor langer Zeit mit meinem Vater um die Vorherrschaft im Dorf gestritten. Sie stritten einen Nachmittag und die halbe Nacht hindurch. Am Morgen, erzählten die Alten, lag Rugen tot zwischen den Hütten.

Nach dem Ereignis mit Katrina war Beorn nicht mehr derselbe. Er zog sich zurück und begann zu trinken. Es war ein warmer Nachmittag mit Sonne und sanftem Wind vom Meer. Eine Gruppe von Männern überholte einige der Boote. Wir hatten die Schiffe auf den Strand gezogen und auf die Seite gekippt. Mit langen Messern schabten wir Muscheln und Algen von den Schiffsrümpfen, entfernten angefaulte Planken und ersetzten sie durch neue. Beorn tischlerte mit Hammer und Meißel die Planken zurecht.

Wir schauten auf, als ein Mädchen mit einem Eimer Bier von den Hütten herunter kam. Es war die zwölfjährige Fedha, Lonnes Tochter. Als sie an den Strand kam, tauchte die lachende Katrina mit zwei kleinen Mädchen am Rockzipfel zwischen den aufgespannten Netzen auf. Sie machte sich von den Kleinen los und wechselte ein paar Worte mit Fedha. Beorn legte sein Tischlerwerkzeug weg.

Sein Gesicht wurde wölfisch. „He, Fedha, trödle nicht rum. Bring das Bier her!“

Fedha wurde blass, zog die Schultern hoch und wollte losrennen, aber Katrina hielt sie am Arm fest und redete ruhig weiter. Fehda trat ängstlich von einem Bein aufs andere und versuchte ungeschickt, von Katrina loszukommen. Katrina redete leise auf sie ein. Beorn stand rot vor Wut auf.

„He da, du Soldatenhure!“ brüllte er aus vollem Hals.

Katrina würdigte ihn keines Blicks.

„Dich mein' ich, Katrin, du Söldnerflittchen! Bring mir meinen Bierhumpen aus der Hütte, hörst du? Oder ich reiß' dir deine blonden Hurenzöpfe aus!“

Katrina richtete sich auf und wandte sich Beorn zu, der mit geballten Fäusten auf sie zukam.

Herr der Bucht, dachte ich, lass irgendwas geschehen! Lass Katrina fliehen, bevor es zu spät ist!

Katrinas Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Mit einem Wink bedeutete sie Fedha, zu verschwinden, ohne den Blick von Beorn zu wenden. Fedha rannte mit den Eimer zu uns herunter, die Hälfte in ihrer Hast verschüttend.

„Hast du sonst noch Wünsche, Beorn Roderigsohn?“ Katrinas Stimme war schneidend.

In ihren Worten schwang ein drohender Ton, den ich bei ihr noch nie gehört hatte. Sie stand aufrecht mit den Händen an den Seiten, ein Bein zurückgestellt. Erst später erinnerte ich mich daran, dass mir ihre Körperhaltung in diesem Moment wie die einer Katze vor dem Sprung vorkam. Beorn bekam von all dem nichts mit.

Er ging mit geballten Fäusten auf sie zu und brüllte: „Ja, du Hure! Wenn du mir meinen Humpen gebracht hast, gehst du und wartest bei meinem Lager! Aber vorher bring ich dir erstmal Manieren bei!“

Er wollte Katrina packen, aber er griff ins Leere. Im gleichen Moment sackte er zusammen.

Er gab ein ersticktes „Umpf“ von sich.

Katrina war ihm blitzschnell ausgewichen und hatte ihm die Fingerknöchel ins Zwerchfell gerammt. Sie holte so schnell mit der Linken aus, dass ich es kaum wahrnehmen konnte. Es gab ein dumpfes Knacken, als sie ihm die Faust aufs Ohr schlug. Beorn sank auf die Knie. Seine Augen traten glasig aus den Höhlen. Sein Gesicht wurde blau. Er riss den Mund auf, ohne atmen zu können. Katrina stand vor ihm.

„Wenn du noch ein einziges Mal eine Frau im Dorf schief anschaust, dann komme ich mit meinem Feldscher-Messer und entmanne dich. Hast du verstanden?“

Blut sickerte Beorn aus der Nase. Ein gurgelndes Röcheln drang aus seiner Kehle. Er sackte in den Sand.

Die Männer bei den Booten, ich einbegriffen, starrten mit hängenden Armen zu dem reglosen Beorn hinüber. Sprachlos versuchten wir zu begreifen, was geschehen war. Katrina schaute uns entgegen. Ihre Körperhaltung entspannte sich. Von einem Moment zum anderen war ihre gewohnte Anmut wieder da.

„Hallo,“ rief sie uns lächelnd zu, bevor sie zwischen den Fischernetzen verschwand.

„Herr der Bucht!“ murmelte Olas.

An diesem Tag arbeitete keiner von uns weiter.

***

Ein paar Tage nach diesem Ereignis saßen Sven und ich an unserer Lieblingsstelle auf der Steilküste, nicht weit vom Gasthof, dort, wo die Küste am höchsten war. Wir blickten aufs Meer hinaus und schauten den vorbeisegelnden Handelsschiffen nach. Eine Gestalt kam den Weg vom Gasthof entlang. Es war Katrina. Sie trug ihre lederne Arzttasche am Schulterriemen. Als sie uns sah, bog sie vom Weg ab und kam durch das hohe Dünengras herüber. Svens Gesicht leuchtete auf. Sie begrüßte uns mit derselben frischen, selbstverständlichen Art wie am Tag unserer ersten Begegnung.

„Hallo Jungs.“

Eine Weile blieb sie neben uns stehen und schaute schweigend aufs Meer hinaus. Sven starrte Katrina an, ohne ein Wort zu sagen.

„Hallo Katrina,“ sagte ich. „Hast du bei Mattis ein paar Sachen eingekauft?“

„Nein,“ Katrina setzte sich neben uns ins Gras. „Sella hatte ein Problem. Ich hab ihr geholfen.“

„Ist sie krank?“ fragte ich betroffen.

„Nicht wirklich.“ Katrina musterte mich mit einem langen Blick. „Sie wollte nur kein Kind bekommen.“

„Oh.“ Mir viel nicht recht ein, was ich antworten sollte.

Aber Katrina lächelte und blickte auf die See hinaus.

„Träumt ihr auch manchmal davon, weit übers Meer zu reisen?“ fragte sie versonnen. „Irgendwohin weit weg zu unbekannten Inseln, wo alles anders ist - wo die Menschen glücklich sind?“

„Oder an unbekannte Küsten, wo Zauberer und Hexen wohnen, zu fernen versunkenen Königreichen,“ spann ich den Faden weiter.

Eine Weile schauten wir schweigend zum Horizont, wo das graue Meer mit dem Himmel verschwamm.

Endlich brach Katrina die Stille. „Man reist und reist, und meint immer, bald kommst du irgendwo an und es wird gut. Aber dann wünscht man sich doch wieder, weit weg zu sein und denkt, in der Ferne ist es besser als hier.“

„Du kannst aber nur leben, wo du bist,“ warf Sven ein. „Und irgendwas Schönes findet sich immer, egal wo, man muss nur richtig hinschauen. Es gibt auch hier gute Menschen, Kat - eigentlich gute Menschen,“ fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

Katrina sah ihn an. „Gibt es die?“

Sven wurde rot.

„Ich schwör's, Kat,“ flüsterte er.

„Ich auch,“ murmelte ich.

Katrina blickte uns beide mit klaren Augen an.

„Ihr habt recht.“ Sie schaute wieder zu den fahrenden Schiffen hinaus. „Von der Ferne und von Abenteuern kann man träumen. Aber wo man ist, da muss man das Beste draus machen. Immer wieder.“

Sie seufzte. Wieder schwiegen wir eine Weile.

Endlich sagte sie lächelnd: „Es tut gut, wenn Leute da sind, die Träume haben. Sitzt ihr oft hier oben, Jungs?“

Seit diesem Tag trafen wir drei uns häufig an der Stelle auf der Klippe. Katrina erzählte von ihren Fahrten mit den Armeen des Kaisers. Und häufig sprachen wir über Reisen in die Ferne, auf die wir vielleicht einmal alle drei gemeinsam gehen würden und was uns dort alles begegnen würde.

***

Wie nicht anders zu erwarten, fiel die Freundschaft zwischen Sven, mir und Katrina unter den jungen Leuten im Dorf bald auf.

„Na, bist du zum Feldschergehilfen aufgestiegen?“ knurrte Lars, während wir Kisten voller Fische aus dem Kutter auf den Strand hievten.

Gerade war Katrina vorbeigekommen und hatte mir zugewinkt. In Lars' Augen lag Eifersucht. Ich reagierte nicht darauf.

Aber auch zwischen Sven und mir wurde Katrina bald zu einem häufigen Thema.

„Wenn ich überhaupt jemals eine Frau nehme, dann Kat.“ Sven blickte mich herausfordernd an.

Ich versuchte, ein beiläufiges Gesicht zu machen, was mir nicht recht gelang.

„Ach Unsinn,“ wehrte ich ab, obwohl Sven ausgesprochen hatte, was mir selbst Abend für Abend auf meinem Lager lebhaft durch den Kopf ging. „Kat würde dich ja gar nicht angucken. Die hat doch schon viel mehr erlebt, als wir beide und der ganze Rest des Dorfs zusammen.“

„Woher willst du das wissen?“ Sven setzte eine entschlossene Miene auf. „Ich werd' es jedenfalls versuchen, wart' nur ab. Ich hab da 'ne Idee.“

„Hör auf zu spinnen. Das traust du dich ja doch nicht.“

„Wetten, das ich's tue?“

Ein paar Tage später bereiteten Sven und ich die kleine Segeljolle zur Ausfahrt vor, als er bemerkte: „Ich hab's übrigens versucht.“

Ich sah ihn an. „Was?“

„Mit Kat.“

Ein Stich fuhr mir durch die Brust. „Und?“

Er blickte zur Seite. „Hat nicht geklappt.“

Was hat nicht geklappt?“

„Na ja, sie ist doch 'ne Heilerin, wie Mara, nicht wahr? Und da hab ich gedacht, wenn ich mich krank stelle...“

Ich ließ das Tau los, das ich gerade aufrollte und richtete mich auf.

„Sven, was hast du versucht?“ Es wollte mit nicht in den Kopf.

Sven grinste verlegen, als müsse er sich ein Lachen verbeißen.

„Also - gestern Abend in der Dämmerung traf ich sie noch, als sie auf dem Weg zu Maras Hütte war. Sie hatte irgendjemanden behandelt. Sie fragt mich, wie es mir geht, einfach so. Und da sag ich, ich fühl' mich irgendwie krank, und ob sie mir nicht helfen könnte. Sie fragt, was ich denn hätte, und ich sag, ich fühl' mich schwindlig und irgendwie schwach und mir ist heiß am ganzen Körper und ob sie nicht mit reinkommen und das mal untersuchen könnte. Sie legt mir die Hand auf die Stirn, dann lacht sie und sagt: „Die Krankheit kannst du mit einem nassen, kalten Lappen selber kurieren, dafür brauchst du mich nicht. Wickle den Lappen einfach um das Körperteil, das am meisten brennt. Dann gibt sich das schon wieder.“ Und damit lässt sie mich stehen und geht.“

Einen Moment lang verschlug es mir die Sprache.

Dann murmelte ich: „Das war eine selten blöde Idee, Sven.“

Er biss sich auf die Lippe. „Na ja, aber jedenfalls war es 'n Versuch wert.“

***

An einem warmen Spätsommernachmittag begegnete ich Katrina zwischen den Hütten, als sie mit einem Korb geernteter Kräuter von Maras Beeten her kam, die windgeschützt im Landesinneren lagen.

„Hallo Leif! Mara hat frischen Honigmet bereitet. Hast du Lust, einen Becher zu probieren?“

„Oh ja, gern.“

Zusammen gingen wir Maras Hütte am Dorfrand entgegen. Die Kräuter in Katrinas Korb dufteten nach Sommer. Zwischen zwei Hütten tauchte Beorns klobige Gestalt auf. Sein Gesicht war rot und aufgedunsen vom Rum. Er schwankte im Gehen. Als er uns sah, blickte er zu Boden und schlug eine andere Richtung ein. Katrina schaute ihm nach und murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Beorn machte plötzlich einen komischen Hopser und fiel der Länge nach hin. Katrina grinste boshaft.

„Was hast du gesagt?“ fragte ich sie.

„Ich hab nichts gesagt.“

„Doch, du hast was gemurmelt, aber ich hab nicht verstanden, was.“

„Ach das,“ meinte sie beiläufig. „Ich hab Beorn gesagt, dass er stolpern soll.“ Sie blickte mich triumphierend an. „Er hat auf mich gehört.“

„Unsinn, Kat, hör auf, mich aufzuziehen. So was geht nicht!“

Aber Katrina blickte mir ernst ins Gesicht. „Doch, es geht. Lonnes Beinwunde hab ich auch gesagt, dass sie heilen soll, und sie hat auf mich gehört.“

Manchmal war sie mir unheimlich.

Wir gingen hinüber zu Maras kleiner Hütte. Vor der Tür blühten Sonnenblumen. Katrina holte zwei Becher honigsüß duftenden Met und wir setzten uns nebeneinander auf die Bank an der weißgetünchten Hauswand. Die Sonne schien uns aufs Gesicht. Die Luft wurde von einer leichten Brise durchweht, die in den Blättern der Sonnenblumen raschelte.

Katrina nippte an ihrem Becher und atmete tief ein. Sie lehnte sich gegen die Hauswand und blinzelte in die Sonne.

„Es gibt Momente, da denkt man, es ist doch wunderschön, auf der Welt zu sein. Als wäre alles Elend und alle Grausamkeit weit, weit weg.“

Sie schloss die Augen und lehnte den Hinterkopf an die Wand. Ich betrachtete ihr Gesicht. Ihre kupferfarbenen Ohrringe blinkten in der Sonne. Wir saßen nah beieinander.

Wie schön sie ist.

Und sie roch nach Seife und nach Kräutern!

„Kat?“

Sie schnurrte zufrieden. „Hm?“

Plötzlich hatte ich einen trockenen Mund. „Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht... ich meine...“

Mein Herz schlug so heftig, dass ich glaubte, sie müsse es hören. Ich kam mir unendlich dumm vor.

„Hast du das eigentlich gemerkt, dass Sven dich sehr gern hat?“ Ich wollte an sich etwas ganz anderes sagen.

Sie hatte die Augen noch immer geschlossen. „Ja, hab ich gemerkt.“

„Und... ich meine... was hältst du... ich meine, ich mag dich nämlich auch sehr, weißt du, Kat?“

Katrina öffnete die Augen und sah mich an. Ihr Blick, der manchmal so hart sein konnte, war sanft und fragend.

„Sehr, Kat. Ich...“

„Ach Leif.“ Sie schaute zu Boden. „Ich mag euch beide sehr gern. Dich und Sven. Aber der Mann, den ich liebe, ist weit weg von hier.“

Und obwohl ich gewusst hatte, dass es keinen Sinn haben würde, sie zu fragen, spürte ich doch den bitteren Geschmack der Enttäuschung.

Kat sah auf. Ihr Blick verlor sich in der Ferne.

„Er war Armeearzt in dem kaiserlichen Heer, bei dem ich bis vor ein paar Monaten als Feldscherin gearbeitet hab.“

„Und - du bist da weggegangen?“

Sie blickte ins Leere. „Nein. Er ist fortgegangen. Mit einer anderen.“

Es hörte sich traurig an, verloren. Ich hätte sie gern in den Arm genommen und ihr gesagt, dass - aber was hätte ich sagen können? Einen Moment sah sie aus wie ein Kind, das sich verlaufen hat.

Dann erzählte sie: „Ich wusste ja, dass er kein Mann ist, der ein Leben lang bei einer Frau bleibt. Als ich ins Feldlazarett kam, war er mit einer Frau zusammen, die von der Universität Klagenfurt kam und bei ihm Medizin studierte. Andreas war Universitätslehrer. Neben der Medizin betrieb er irgendwelche historischen Studien. Er hat versucht, es mir zu erklären, aber ich habe nie so richtig verstanden, was er da erforschte. Irgendwelche alten Kulte in den Nordbergen, bei denen es um geheime Macht und Magie geht.“

Kat lächelte bitter. „Als ich im Feldlazarett erschien, ließ er seine Studentin sofort für mich sitzen. Er beachtete sie überhaupt nicht mehr. Sie hat dann bald das Heerlager verlassen. Ich war so verliebt, dass ich das gar nicht wahrgenommen habe, verstehst du?“

„Es muss eine sehr schöne Zeit für dich gewesen sein,“ murmelte ich.

Kat nickte wehmütig. „Ich war so glücklich mit ihm. Er hat mich einfach zur Frau genommen - und es fühlte sich vollkommen richtig an. Er war so sanft und stark und klug und unwahrscheinlich gebildet...“

Voller Bitterkeit schaute sie zu Boden.

„Zwei Monate waren wir zusammen, als dieses Mädchen mit den rätselhaften Augen ins Lager kam, Tallin hieß sie. Das war auf der Ebene vor Trümmelfurt. Tallin kannte sich mit Astrologie aus und mit Magie. Und sie wusste irgendwas über die magischen Kulte, denen Andreas auf der Spur war. Von dem Tag an war er nur noch mit der Trümmelfurter Zauberin zusammen. Ich war einfach abgemeldet. Natürlich habe ich gekämpft...“

Sie presste die Lippen aufeinander.

„Andreas Amselfeld - mit mir hat er genau das gleiche gemacht, wie mit der anderen vor mir auch.“

Sie schaute mich wild an.

„Und trotzdem liebe ich ihn, kannst du das verstehen?“

Sie wartete auf keine Antwort.

„Nach zwei Wochen verließen die beiden das Feldlager. Sie wollten nach Norden. Andreas glaubte, sie könnten da irgendwas aufspüren.“

Kat seufzte verloren. „Das war dieses Frühjahr. Danach hat es mich nicht mehr bei der Armee gehalten. Ich dachte, ich muss ganz was anderes tun, irgendwo ganz neu anfangen. So bin ich hierher gelangt.“

Wehmütig lächelnd sah sie mich an. „Dass man so sinnlos lieben kann!“

Ich schwamm in einem Wirbel von Gefühlen.

„Vielleicht triffst du ihn ja wieder,“ brachte ich heraus.

Kat schaute ins Leere. „Ja, vielleicht.“

Sie sagte es ohne Hoffnung.

***

An einem windigen Herbsttag saßen Sven, Katrina und ich an unserer Stelle im Dünengras auf der Klippe und blickten über die wolkenverhangene See. Der Seewind sprühte uns Regentröpfchen ins Gesicht und wir zogen unsere wollenen Überwürfe fest um uns. Nur noch selten war ein Schiff auf dem Meer zu sehen, das sich hart am Wind und schwer stampfend in den Wellen seinen Weg bahnte. Kat erzählte eine Geschichte von Büchsenschützen in der Armee, die durch den Pakt mit einer dunklen Gottheit Büchsenkugeln gießen konnten, die immer trafen. Doch es kam kein rechtes Gespräch in Gang. Sven und ich saßen wortkarg und mit gedrückter Miene da.

„Was ist denn heute los mit euch?“ schimpfte Kat. „Ist euch das Wetter auf die Stimmung geschlagen? Bei solchem feuchten, frischen Wind lebe ich erst richtig auf! Ich bin sogar froh darüber, das es endlich abkühlt nach der Sommerhitze!“

Dabei wurde es hier an der Küste eigentlich auch im Sommer nie so richtig heiß.

Sven seufzte grimmig. „Das ist es nicht. Es ist nur, dass jetzt bald wieder die Dreckarbeit beginnt.“

Von der Stelle, an der wir saßen, konnte man die Landzunge mit der rußgeschwärzten Feuerstelle gut überblicken. Katrina richtete sich auf. Ihre Augen blitzten.

„Das wollt ihr tatsächlich wieder tun?“ schnappte sie.

„Es ist unser Lebensunterhalt,“ murmelte ich.

Sie blickte mich verächtlich an. „Das Dorf lebt davon. Aber du und Sven? Du kannst mit einem Schwert umgehen, Leif, und du kannst lesen. Jeder Burgherr würde dich liebend gern in seine Dienste nehmen. Und ein Schmied wird überall gebraucht, Sven. Was wollt ihr noch in diesem von den Göttern verdammten Nest?“

Einen Moment lang sagte niemand etwas.

Dann murmelte Sven: „Eigentlich hast du recht, Kat. Vielleicht sollten wir wirklich fortgehen.“

Kats Gesicht hellte sich auf.

„Klar sollten wir das.“ Ihre Stimme war leise und eindringlich. „Ist doch egal, wohin. Nur fort von hier.“

„Du würdest mit uns kommen?“ In Svens Stimme schwang Hoffnung.

Wild sah sie ihn an. „Sicher komme ich mit euch mit. Zu dritt kommt man besser durch als allein.“

Sven schaute sie an, als sähe er ein Wunder. Seine Augen leuchteten.

Mit gedehnter Stimme sagte ich: „Es gibt da tatsächlich einen Burgherrn, der uns in seine Dienste nehmen würde.“

Alarmiert blickte Sven auf. Kat sah mich verblüfft an. Während ich ihr von Zosimo Trismegisto erzählte und von dem Brief, den er Sven und mir dagelassen hatte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck, bis er dem einer Raubkatze glich.

„Und davon habt ihr mir nie erzählt?“ fauchte sie.

„Ich hab gedacht, wenn wir dir das erzählen, wirst du sofort darauf bestehen, dass wir da hinfahren. Und ich hatte Angst, wir würden uns nicht trauen, dir zu widersprechen.“

Katrina warf den Kopf in den Nacken und starrte uns böse an. „Selbstverständlich fahren wir da hin! Und selbstverständlich widersprecht ihr mir nicht!“

„Ich hab's gewusst,“ murmelte ich.

Sven zögerte. „Und was ist, wenn das in Wirklichkeit ein Zauberer ist, der uns in eine Herde Schweine verwandelt, sobald wir auf seine Burg kommen?“

„So ein Quatsch,“ schrie Kat. „Wenn er uns übel mitspielen will, werden wir schon sehen, was wir machen. Außerdem gibt es das überhaupt nicht, dass Leute durch Zauberei in Tiere verwandelt werden. Jedenfalls nicht, so viel ich weiß.“

„Burg Dwarfencast liegt nach der Beschreibung dieses Alchimisten eine halbe Welt entfernt im Norden,“ meinte ich. „Wir werden Monate brauchen, bis wir da ankommen. Und die Herbststürme stehen bevor.“

Kat schnaubte. „Du Weichei! Vor ein bisschen Regen und Wind und Schnee hast du Angst? Außerdem brauchen wir überhaupt nicht lange, bis wir dort sind.“

Sie nickte mit dem Kopf zur Bucht. „Ihr könnt doch segeln!“

Empört schaute ich sie an. „Die Schiffe gehören der Dorfgemeinschaft. Sie sind lebenswichtig für das Dorf. Wir können nicht einfach eins stehlen.“

Kat blickte flammend zurück. „Du kannst kein Boot aus dem Dorf klauen?“

Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf das um die Klippen schäumende Wasser vor der Landzunge. „Wie viele Schiffe habt ihr versenkt, ihr und die Männer aus deinem so geliebten Dorf? Glaubst du, die Jungen auf den Schiffen waren dankbar, dass ihr sie ersäuft und ermordet habt? Wie viele habt ihr auf dem Gewissen, du und Sven?“

Ich biss mir auf die Lippen. Die glasigen Augen toter Seeleute, in Panik aufgerissene Münder standen mir vor Augen.

„Hast ja recht, Kat,“ flüsterte ich. „Ist schon gut.“

„Gar nichts ist gut!“ schrie sie. „Verdammt gar nichts!“

Katrina holte tief Luft. Sie schüttelte sich, als wollte sie sich von etwas befreien.

Mit bebender Stimme sagte sie: „Wenn wir eins der Boote nehmen, geben wir ihm eine bessere Verwendung, als es jemals hatte.“

Sven setzte sich mit einem Ruck auf. „Wir nehmen die Jolle. Die segelt sich im harten Wind am besten. Und,“ fügte er hinzu, „sie wird nicht zum Fischfang gebraucht.“

Katrina atmete aus. Ihre Haltung entspannte sich.

Nach einer Weile fragte sie: „Wie lange werdet ihr brauchen, um das Boot fertig zu machen?“

Ich überlegte. „Um sie mit Ersatzspieren, Segeln und Tauen auszurüsten, brauchen wir vielleicht einen Nachmittag. Wir müssen nur aufpassen, dass niemand mitbekommt, was wir vorhaben. Viel zusammenzupacken haben wir nicht. Übernächste Nacht könnten wir aufbrechen, wenn das Wetter mitspielt.“

Kat blickte uns an. „Also dann übernächste Nacht!“

Es klang wie ein Befehl.

***

Die Nacht war vorgerückt. Alle Geräusche im Dorf waren erstorben. Ich lag wach auf meinem Lager und lauschte in die Dunkelheit. Hinten in der Hütte schnarchte mein Vater. Vorsichtig setzte ich mich auf und tastete nach meinen Kleidern. So geräuschlos wie möglich zog ich die Hosen an und streifte mein Hemd über. Meine Schuhe hatte ich vor der Hütte gelassen. Langsam stand ich auf. Die mit Stroh gedeckte Pritsche ächzte. Ich erstarrte und lauschte. Vater schnarchte unverändert weiter.

In der Dunkelheit tastete ich nach meinem Bündel und meinem Schwert. Mir war, als ginge auch in der vollkommenen Schwärze noch ein vager, silbriger Schimmer von der Klinge aus. Aber vielleicht bildete ich es mir nur ein. Ich packte meinen wollenen Regenüberwurf und schlich mich vorsichtig durch die mit Gegenständen vollgestellte Hütte.

Das Innere unserer Hütte kannte ich im Schlaf und schlängelte mich ohne das Geringste sehen zu können am Tisch, an Truhen und Körben vorbei zur Tür. Meine Hand ertastete den Riegel. Ich hielt den Atem an. Haaresbreite um Haaresbreite zog ich ihn zurück. Der Riegel machte ein schabendes Geräusch. Ich lauschte, bis mir die Stille in den Ohren klingelte. Der Atem meines Vaters ging ruhig weiter. Endlich hatte ich den Riegel zurückgeschoben. Ich zog die Tür einen Spaltbreit auf. Ein schmaler Lichtschimmer fiel herein. Ich erstarrte. Jemand stand hinter mir.

Die rauen Hände meiner Mutter fuhren mir übers Gesicht, durchs Haar.

„Leif, mein Junge,“ hauchte sie kaum hörbar. „Leb wohl.“

Ihr wettergegerbtes Gesicht war nah an meinem. Sie presste den Kopf an meine Brust. Ein Beben ging durch ihren Körper. Als sie den Kopf hob, waren ihre Augen nass von Tränen.

„Mögen die Sterne dich behüten, Junge.“

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. „Und dich, Mutter.“

„Hier.“ Sie hielt mir einen faustgroßen, prall gefüllten Lederbeutel hin. Der Inhalt klimperte verdächtig.

„Mutter!“

Wenn Vater erfuhr, dass sie Geldmünzen aus der Truhe genommen hatte, würde er sie grün und blau schlagen.

„Nimm,“ flüsterte sie. „Und komm einmal wieder ins Dorf.“

„Ich versprech's. Mutter, woher wusstest du...“

Statt einer Antwort drückte sie ihre Stirn gegen meine Wange.

„Du bist doch mein Junge! Und nun lauf, sonst wacht dein Vater noch auf.“

Sie drückte mich sanft zur Tür hinaus. Ich erhaschte einen Blick aus ihren grauen Augen.

„Es ist gut, dass du gehst,“ flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Viel Glück!“

Dann schob sie vorsichtig die Tür hinter mir zu. Ich hörte, wie sie langsam den Riegel vorschob.

Ich atmete tief durch. Kühler Nachtwind wehte durch meine Kleidung. Ich schnürte meine Schuhe zu, warf mir das Bündel über die Schulter und ging hinunter zum Strand. Es war eine großartige, sternenklare Nacht. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Über dem schwarzen, in Schatten versunkenen Land funkelten Abertausende von Sternen. Ein stetiger, kalter Wind wehte aus Südwest - ideale Bedingungen.

Sven war schon unten beim Boot. Die Jolle war ein schmales, zwanzig Fuß langes Segelboot mit einem offenen Heck. Vor dem Mast waren Planken von einem Bord zum anderen aufgenagelt, wodurch die Jolle einen niedrigen, das Vorschiff umfassenden Laderaum besaß. Gemeinsam schoben wir die Jolle ins Wasser.

„Wo ist Kat?“ fragte ich.

„Keine Ahnung, hat sich noch nicht blicken lassen. Am Ende verschläft sie!“

„Sie wird schon kommen. Die verschläft nicht, Sven, da verwette ich meinen Kopf drauf.“

Wir zogen das dreieckige Focksegel und das wie bei den großen Kuttern an einer Gaffelstange schwingende Großsegel auf, um in den Wind gehen zu können, sobald wir den Ausgang der Bucht erreichten, und von den Klippen und den im Wasser liegenden Felsen frei zu kommen auf die offene See hinaus. Die Segel schlugen leise im Wind. Wir legten die Ruder bereit.

„Fehlt nur noch Kat.“

„Verdammt!“ Sven wies auf den Strand.

Ein Mann kam von den Hütten her auf den Strand heraus. Er hatte hohe Stiefel an und trug etwas Schweres auf dem Rücken.

Bei allen Sternen, wer ist das? Jetzt geht alles schief.

Und was war das an seiner Seite? Der Mann trug tatsächlich ein Schwert! Mit raschen Schritten kam er auf unser Boot zu.

„Kat!“ rief Sven voller Verblüffung.

Jetzt erkannte ich sie ebenfalls.

„Alles klar, Jungs?“ rief sie uns leise zu.

„Ja, aber Kat, du...“

„Was ist mit mir? Hier, fang mal auf.“ Sie nahm ihren Rucksack ab und warf ihn mir zu.

Ich keuchte, als ich ihr schweres Gepäck auffing.

„Kat, du trägst ja Hosen!“ stotterte Sven.

„Klar doch!“ Sie stieg ins Wasser und schwang sich über den Bordrand in die Jolle. „In Röcken auf Segeltour zu gehen, ist keine so gute Idee, oder?“

Sie schnallte ihr Schwert ab und legte es unter die Bank.

Ich verstaute ihr Gepäck in der Luke. „Sag mal, Kat, warum hast du uns eigentlich damals, als du ins Dorf kamst, gebeten, dir das Gepäck zu tragen?“

„Och - “ Sie setzte sich ans Bord auf die Bank und schaute sich erwartungsvoll um. „Ich fand euch so süß, wie ihr da an der Hauswand saßt und den anderen bei der Arbeit zuschautet und suchte einen Grund, mit euch ins Gespräch zu kommen. Klar kann ich mein Gepäck alleine tragen. Das ist ja wohl das Mindeste.“

Sven und ich wechselten einen Blick.

„So,“ sagte ich schließlich. „Es kann losgehen. Nach Norden also? Oder wollen wir in den Süden segeln? Da soll es lichte Wälder geben, in denen Elben singen und wo es das ganze Jahr über Sommer ist.“

Einen Moment lang schauten wir uns alle drei zögernd an.

Endlich gab Sven sich einen Ruck.

„Nach Norden!“ rief er. „Auf nach Dwarfencast!“

Ich stieß das Boot mit der Ruderstange vom Grund frei. Sven und ich griffen in die Riemen und manövrierten die Jolle langsam durch die Bucht.

„Kann ich auch was tun?“ fragte Kat, die uns beim Rudern zusah. „Gebt mir doch auch so ein Paddel.“

„Nein,“ sagte Sven. „Das sieht leichter aus, als es ist. Vorausgesetzt, du hast nicht vor, die ganze Nacht in der Bucht im Kreis herumzurudern. Am besten du bleibst da an der Seite sitzen und passt auf, dass du nicht rausfällst. Wenn wir in den Wind fieren, dann setzt du dich auf die andere Seite herüber, damit das Boot nicht umkippt. Aber erst, wenn wir es sagen.“

Kat guckte unbehaglich auf dem Boot umher.

„Du kannst die Steuerpinne nehmen, während wir pullen,“ meinte ich. „Aber pass auf, dass wir nicht vom Kurs abkommen. Die Fahrrinne aus der Bucht hinaus ist ziemlich schmal. Siehst du den großen roten Stern dort vorn am Himmel? Und rechts davon die Gruppe heller Sterne? Genau dazwischen musst du halten.“

Kat setzte sich ans Heck und nahm das Steuer.

„Der rote Stern - das ist Vorcinger, der Kriegsgott,“ sagte sie. „Und die helle Sterngruppe ist das Sternbild des Drachen.“

Und leise murmelte sie: „...und da müssen wir durch!“

„Der Rote ist ein Wanderstern,“ rief Sven. „Der bleibt keine zwei Nächte am selben Fleck am Himmel.“

„Er hat seine Zyklen,“ erklärte Kat. „In einem Vierteljahr wird er im Sternbild des Drachen stehen. Andreas meinte, dann stünden der Welt unruhige Zeiten bevor.“

Wir erreichten den Ausgang der Bucht und der heftige Wind blähte die Segel. Sven trimmte die Leinen, ich übernahm die Steuerstange von Kat und brachte die Jolle hart an den Wind, um vom Land frei zu kommen.

„Setz dich an luv hin,“ rief ich Kat zu, die sich am Bordrand festhielt, als die Jolle sich zu neigen begann.

„Nein, nicht da - an backbord! Alle Sterne, die andere Seite, links!“

Kat kletterte hilflos im schrägen Heck umher, bis Sven und ich sie jeder an einem Arm packten und auf die Bank an backbord hievten. Blass klammerte sie sich an den Bordrand und starrte auf die hohen, schäumenden Wellenkämme um das tanzende Boot.

„Vielleicht hätten wir doch warten sollen, bis der Sturm sich legt,“ würgte sie.

„Ach was Sturm, das ist ideales Segelwetter,“ rief Sven durch den im Takelwerk heulenden Wind.

Kat beugte den Kopf über Bord und kotzte.

Eine Weile saß sie stumm und blass mit beiden Händen an die Bank geklammert da.

Irgendwann murmelte sie: „Wenn das gutes Wetter ist, möcht' ich keinen Sturm erleben.“

Als wir uns von der Küste entfernten und in tieferes Wasser gelangten, wichen die kurzen, steilen Wellenkämme der langen Dünung der offenen See. Das Boot hörte auf zu tanzen und hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus der großen Wellen. Ich gab mit dem Steuer nach, die Jolle zog in den Wind und wendete die Nase nordwärts. Jedes Mal, wenn das Boot auf einen Wellenberg gehoben wurde, tauchte in der Ferne das Land als schwarzer Streifen unter dem riesigen Sternenhimmel auf und verschwand gleich wieder, wenn die Jolle ins Wellental glitt. Kats Körperhaltung entkrampfte sich ein wenig. Mit mulmigen Blicken schaute sie auf die hohe Dünung, von der die Jolle wie ein Spielzeug gehoben und gesenkt wurde.

Ich blickte zurück. Die schmale Landzunge vor der Bucht war kaum noch auszumachen. Ein überwältigendes Gefühl der Freiheit überkam mich. Wir hatten uns aufgemacht, hinaus aus der Enge des Dorfs, weg von der Abgestumpftheit der Dorfleute - nach Norden, unbekannten Küsten und Ländern entgegen. Unser Abenteuer hatte begonnen.

***

Später, als alles vorbei war, bin ich noch einmal nach Brögesand zurückgekehrt. Aber ich fand keine fröhlich spielenden Kinder mehr zwischen aufgespannten Fischernetzen herumtollen. Leere, ausgebrannte Ruinen waren alles, was von meinem Heimatdorf geblieben war. Wie Skelette starrten die verkohlten Dachsparren in den wolkenverhangenen Himmel. Der heulende Wind trieb Sand durch die Bucht und deckte Reste von Holztrümmern zu, wo einst am Strand die großen Boote, der Stolz unseres Dorfs, auf die nächste Ausfahrt gewartet hatten.

Die Torglunder Kaufleute hatten zwei Kriegsschiffe ausgerüstet und die Küste herab gesandt, um sämtliche Fischerdörfer von Torglund bis nach Wedderhaven im Süden dem Erdboden gleich zu machen.

Dwarfencast

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