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2.

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An einem windigen Spätsommernachmittag gingen Sven und ich die regennasse Landstraße hinauf zum Gasthof. Das Wasser stand in Pfützen in den Fahrrinnen und spiegelte die über den Himmel ziehenden Wolken. Unsere Kleider waren klamm vor Nässe und wir achteten nicht darauf, ob wir mit unseren Segeltuchschuhen in Pfützen traten. Wir trugen zerschlissene Hemden und Hosen aus grobem Leinen. Svens Hose wurde von einem Ledergürtel gehalten, ich hatte mir einen Strick um die Hüften geknotet. Unsere Bootsmesser trugen wir an der Seite. Ohne die nassen Sachen zu wechseln hatten wir uns zum Wirtshaus aufgemacht, nachdem wir den im Sturm vollgelaufenen Kutter zurück in die Bucht und auf den Strand gesegelt hatten.

Das Unwetter hatte uns auf hoher See überrascht. In aller Frühe waren wir mit unseren Vätern und einigen Männern zum Fischfang hinausgesegelt.

Wir waren vollauf mit dem Auslegen der Netze beschäftigt, als Vater rief: „Das Großsegel runter, schnell!“

Ich richtete mich auf und da sah ich die Sturmbö heranrasen. Innerhalb weniger Augenblicke wurde der Himmel im Westen schwarz. Die Bö flachte die Wellenkämme ab und trieb fliegende Gischt auf das Boot zu. Olas hieb mit der Axt das Großfall durch, zum Lösen war keine Zeit mehr. Vater zog am Ruder. Schwerfällig begann der Kutter, vor den Wind zu drehen.

Im selben Moment war der Sturm da. Die Bö ergriff das Großsegel und die losgeschlagene Gaffel schwang mit Wucht übers Deck. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig ducken. Sven neben mir taumelte und klammerte sich am Bordrand fest. Die Gaffel hatte ihn am Kopf erwischt. Das Deck bäumte sich auf, schäumendes Wasser spülte übers Deck und die offene Ladeluke hinunter. Das Focksegel blähte sich im Sturm. Unter der Last des Winddrucks krängte der Kutter hart über Lee und tauchte mit der Nase in die See. Ich klammerte mich mit aller Kraft irgendwo fest.

Bei allen Sternen, wir kentern!

Wasser überall. Kisten und Taue spülten um meine Beine, gingen rechts und links von mir über Bord. Ich erwischte Sven am Hemd, bevor ihn die Flut von den Füßen reißen und über Bord schwemmen konnte. Ich schrie irgendwas in jäher Panik.

Der Wind drückte den Kutter in immer stärkere Schräglage, bis der Bordrand auf Höhe der hereindrückenden Wellenkämme lag. Die Schreie der Männer gingen unter im Tosen des Windes, im Knattern des frei im Wind schwingenden Großsegels. Das Focksegel zerriss mit einem explosionsartigen Knall, der Bug stieg aus den Fluten, der Kutter richtete sich auf und drehte vor den Wind. Keuchend und triefend vor Nässe starrte ich Sven an, der versuchte, auf dem schwankenden Deck auf die Beine zu kommen, mit rudernden Armen nach einer Festhaltemöglichkeit suchend. Ich hielt ihn am Hemd gepackt.

„Das Boot ist vollgelaufen, wir sinken!“ brüllte er.

Haushohe Wellen türmten sich auf, schlugen von Achtern in den Kutter. Für einen Moment ließ die Sturmbö nach. Das Großsegel donnerte herab. Die Leinwand klatschte in die Wellen und wieder neigte das Deck sich gefährlich zur Seite. Eine Flut eisigen Wassers brach über mich herein. Mit meiner freien Hand suchte ich verzweifelt nach einem Tau, um nicht mitsamt Sven, den ich immer noch hielt, über Bord gespült zu werden.

Stern meiner Geburt! Es ist aus!

Harte Fäuste griffen nach dem freischwingenden Gaffelbaum und holten ihn ein.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Kutter sich aufrichtete, um schwer vom hereingeschlagenen Wasser in den Sturmwellen in Richtung Küste zu stampfen. Eisige Regenströme ergossen sich über die See. Vater stand im Heck und hielt mit beiden Händen die Ruderpinne. Die Pfeife war ihm ausgegangen, aber er hielt sie weiter zwischen den Zähnen. Wasser rann ihm aus den Haaren und übers Gesicht. Noch immer kamen Wellen von achtern über. Alle freien Hände lenzten das Wasser in Eimern, Fischkisten, allem, was sich fand, aus dem Schiffsraum außenbords. Ich warf einen flüchtigen Blick übers Deck - niemand schien über Bord gegangen zu sein.

Den Sternen sei dank!

Als sich abzeichnete, dass wir den Wettlauf mit den Regengüssen und den hereinschlagendden Wellen gewinnen würden, tanzten mir farbige Kreise vor den Augen. Einen Moment lang hielt ich inne und rang nach Luft, dann packte ich mit schmerzenden Händen den Eimer und lenzte weiter.

Olas und Lonne setzen ein Sturmsegel. Eine halbe Stunde später passierten wir die Klippen vor der Bucht. Der Sturm hatte nachgelassen. Der Regen war bis auf einen feinen, im Wind sprühenden Nieselschleier versiegt. Die Klippen waren nur an den schäumenden, hochschlagenden Wellen erkennbar, doch Vater steuerte den Kutter sicher in die Bucht. Wir sprangen ins Wasser und zerrten das Schiff auf den Strand, wo wir in den Sand fielen und atemlos liegenblieben. Vater setzte sich auf eine am Strand liegende Taurolle und blickte mit unbewegter Miene aufs Meer hinaus.

Sven und ich lagen nebeneinander im Sand und blinzelten nach den dahinjagenden Wolken. Wir hatten ein und denselben Gedanken.

Wir leben.

Wäre der Kutter in der ersten Sturmbö gekentert, hätte keiner von uns lebend das Ufer erreicht.

Nach einer Weile richtete Sven sich auf.

„Im „Piraten“ ist es warm und trocken. Geh'n wir rauf ins Wirtshaus.“

Wir standen auf, nass wir wir waren, ließen die Männer am Strand mit den herbeilaufenden Frauen diskutieren und gingen hinauf zum Gasthaus.

***

Als wir auf dem gewundenen Karrenpfad auf die Steilküste kamen, blieb Sven blinzelnd stehen.

„So was! Wie kommt denn da ein Pferd hin?“

Ich hatte den Blick auf die Pfützen vor meinen Füßen gesenkt. Jetzt schaute ich auf. Auf der Wiese vor der Schenke war ein schwarzes Pony angepflockt. Sein Fell dampfte in der feuchten Luft. Eine Filzdecke war über seinen Rücken gebreitet. Das Pony wanderte langsam grasend über die Wiese. Außer den abgemagerten Schindmähren und den kleinen, schäbigen Ponys, welche die Karren der Händler zogen, hatte ich in meinem Leben kein Pferd gesehen. Dieses hier war groß und kräftig. Mit seinem schwarz glänzenden Fell schien es aus einer anderen Welt hierher gelangt zu sein.

„Muss wohl ein Reisender im „Piraten“ abgestiegen sein,“ meinte ich.

„Was für Reisende reiten auf so 'nem Ross?“ überlegte Sven.

„Es ist ein Pony.“

„Meinetwegen 'n Pony oder 'n Maultier. Sieht jedenfalls aus wie das Tier von 'nem fahrenden Ritter. Schau, wie sein Fell glänzt.“

„Ich glaub', Ritter haben größere Pferde. Und kostbare Pferdedecken. Das Pony hat ja nur 'ne Filzdecke übergeworfen. Ich weiß nicht... Händler reisen so nicht.“

Wir dachten beide das gleiche.

Sven sprach es aus: „'n Abenteurer?“

„Gehen wir rein. Vielleicht kriegen wir ihn zu sehen.“

Der Schankraum des „Einäugigen Piraten“ war ein niedriger, langgestreckter Raum. Die kleinen Pergamentfenster gingen zur Landseite. Bei diesem Wetter drang nur trübes Dämmerlicht in den Raum. Der Holzfußboden war mit feinem Sand bestreut, die Deckenbalken rußgeschwärzt. Die weißgetünchten Wände hatten mit den Jahren eine gelblich-graue Färbung angenommen. Im vorderen Teil des Raums, rings um die Herdeinfassung, waren Steinfliesen in den Boden eingelassen. Über der Herdstelle öffnete sich ein gemauerter Kamin, jedoch bei drückendem Wetter wie heute zog der Rauch unter der Decke durch den ganzen Raum. Über der Glut hing zu jeder Zeit ein großer Kessel. Töpfe und Gerätschaften hingen am Kaminrand rings um die Feuerstelle, an der stets die Wirtin oder eine Magd beschäftigt waren. Auf Regalen an der Rückwand standen Tonkrüge, Teller, Becher und Vorratsgefäße. An drei Seiten waren Bänke um die Herdstelle aufgestellt. Weitere Bänke standen an langen Tischen.

Nach dem Eintreten mussten unsere Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnen. Der Schankraum war fast leer. In einer Ecke hantierte der Wirt. Eine Magd rührte im Kochkessel auf der Feuerstelle. Verlockender Essengeruch drang durch den Rauch zu uns. An einem Tisch nahe beim Herdfeuer, mit dem Rücken zu uns, saß ein breitschultriger Mann in einem rostigen Kettenhemd. Er hatte eine von grauem Haar umrahmte Halbglatze. Ein mit verrosteten Metallstreifen verstärkter, spitz zulaufender Lederhelm lag neben ihm auf dem Tisch. Rings um die Stiefel des Fremden bildete sich eine Pfütze. Seine Kleidung troff vor Nässe. Ein riesiges Schwert lehnte neben ihm an der Bank. Es steckte in einer vom Regenwasser dunklen Lederscheide. Der verzierte Griff glänzte silbrig. Das Schwert mochte dreieinhalb Ellen oder noch länger sein. Nie in meinem Leben hatte ich eine solche Waffe gesehen. Der Fremde schlürfte Suppe mit einem Holzlöffel und schien auf nichts sonst in der Schankstube zu achten.

Wir gingen nach vorn, setzten uns in einigem Abstand von dem Fremden auf die Bank an der Herdstelle und musterten ihn mit verstohlenen Blicken. Mattis, der Wirt, kam uns entgegen.

„Na Jungs, hat's euch bei dem Sauwetter hierher ins Warme verschlagen? Was wollt ihr haben?“

In seinem schweißglänzenden Gesicht lag fast etwas wie Erleichterung.

„Wir waren auf See,“ sagte ich. „Der Sturm hat uns erwischt, als wir die Netze ausbrachten. Völlig unverhofft. Fast hätte es den Kutter umgeworfen.“

Der Fremde schaute von seiner Suppe auf. Ein verfilzter, grauer Bart reichte ihm bis auf die Brust. In seinem breiten, roten Gesicht saß eine gewaltige Nase. Die kleinen Augen verschwanden fast unter borstigen Augenbrauen. Quer über sein Gesicht verlief eine breite Narbe.

Mattis erschrak. „Bei dem Wetter wart ihr auf See! Ordurin sei Dank, dass ihr heil zurück seid. Sind alle wohlbehalten?“

„Vater hat den Kutter gesteuert. Wir sind mit einem Sturmsegel zurück in die Bucht. Die Fock hat‘s zerrissen und die Netze haben wir verloren.“

„Bei Ordurins heiliger Flamme, dein Vater ist ein Pfundskerl, Junge. Nun wärmt euch erst mal. Später müsst ihr erzählen. Was wollt ihr? Heißen Grog?“

„Ja, und von deiner Suppe auch was. Ich hab einen Mordshunger.“

„Bekommt ihr. Wir haben Rübeneintopf. Ich kann euch auch Schweinespeck reinschneiden.“

„Gib nur her.“

Ich deutete mit den Augen auf den Fremden und sah den Wirt fragend an. Er machte ein ängstliches Gesicht und zuckte kaum merklich mit den Schultern. Dore, die Magd, gab uns Tonschalen mit Suppe und hölzerne Löffel. Als der Wirt uns die Tonbecher mit dem dampfenden Grog hinstellte, hob der Fremde seinen Becher und nickte dem Wirt zu. Ich sah überrascht, dass er einen Zinnbecher in der Hand hielt. Zinnbecher rückte der Wirt sonst nur zu besonderen Feiern heraus.

„Noch Wein, der Herr?“ Mattis‘ Stimme zitterte leicht.

„Von dem roten. Das ist ein Südwein, Tamoliner, wenn mich nicht alles täuscht. Guter Jahrgang. Wo hast du den her?“

Der Fremde sprach mit knurrigem, hartem Akzent.

Mattis wischte sich verlegen die Hände an seiner speckigen Schürze ab. „Man hat so seine Verbindungen, Herr. Es ist nicht gar so weit bis Klagenfurt. Ich bringe Euch den Wein sofort.“

Er verschwand nach hinten.

„Aus Klagenfurt eingehandelt? In diesem Kaff?“ knurrte der Fremde.

Er musterte uns mit einem langen, aufmerksamen Blick. Ich blickte fest zurück, aber ihn anzusprechen traute ich mich nicht. Der Fremde wandte sich wieder seiner Suppe zu. Er schlürfte geräuschvoll den Rest, dann schob er die Schale in Richtung Herd.

„Gib noch,“ knurrte er Dore an. „Und Brot.“

Dore beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen. Sven und ich löffelten unsere Suppe über die Schalen gebeugt.

An anderen Tagen herrschte im „Einäugigen Piraten“ eine ungezwungene, fröhliche Stimmung, egal, welche Gäste gerade anwesend waren. Heute war es anders. Weder Dore noch wir trauten uns zu scherzen oder auch nur laut zu reden. Seiner Ausrüstung nach zu urteilen schien der Fremde ein Söldner oder Freischärler zu sein. Nach einer Zeit unangenehmen Schweigens, in der nur das Schmatzen und Schlürfen des Fremden zu hören war, kam Mattis mit einem Krug Wein. Er füllte den Becher des Fremden. Als er gehen wollte, hielt der Fremde ihn an Arm fest. Er zog den Arm des Wirts zum Tisch herab, so dass Mattis nichts übrig blieb, als den Weinkrug auf dem Tisch abzusetzen.

„Lass mal hier stehen, wird schon alle werden,“ brummte der Fremde, ohne den Wirt anzusehen.

Mattis murmelte etwas Unverständliches. Er rieb sich den Arm. Als er einen erneuten Versuch startete, sich zurückzuziehen, winkte der Krieger ihn zu sich heran.

„Hör mal, Wirt, ich habe vorhin, als ich an dem kleinen Dorf vorbeigeritten bin, eine Steinhütte gesehen, die wie eine Schmiede aussah. Habe ich recht?“

„Ja, Herr, das ist Bredurs Schmiede. Wenn der Herr Bedarf an einem Schmied hat, kann Bredur Euch sicher zu Diensten sein.“

„Ich habe keinen Bedarf an einem Schmied, sondern an einer Schmiede. Mein Pony hat sich ein Hufeisen gebrochen. Das muss ich richten. Der Dorfschmied wird sicher nichts dagegen haben, wenn ich seine Esse benutze?“

Mattis machte große Augen. Sven und ich lauschten mit immer größerem Interesse.

„Ihr seid ein Schmied?“

Der Fremde verzog das Gesicht. „Das Schmiedehandwerk gehört zu meiner Profession. Hör zu, schick deine Magd zu diesem Dorfschmied und sag ihn, dass ich heute Abend seine Esse miete.“

„Das wird gar nicht nötig sein, Herr, hier sitzt ja Bredurs junger Sohn. Der kann seinem Vater Euren Wunsch ausrichten.“

Der Fremde starrte herüber.

Sven räusperte sich mit rotem Kopf. „Ich kann meinen Vater ja fragen. Und...“ er schluckte und holte Luft, „wenn mein Vater wissen will, wer Ihr seid, was soll ich ihm sagen?“

Eine Weile lang maß der fremde Kämpfer Sven mit den Augen. Sven hielt seinem Blick stand. Dennoch merkte ich, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug.

„Sag ihm, der Forschungsreisende Zosimo Trismegisto möchte seine Esse mieten,“ bellte der Fremde schließlich.

Ich riss die Augen auf. Ein Forschungsreisender? Jemand wie der Autor der „Reisen in die Wetterberge“? Forschungsreisende stellte ich mir als reiche Männer vor, die in wetterfeste Roben gekleidet mit einem Gefolge von Dienern durch die Lande zogen. Dieser dreckstarrende, breitgesichtige Mann mit dem wilden Bart und der Narbe quer übers Gesicht wirkte in seinem verrosteten Kettenhemd so gar nicht wie ein studierter Gelehrter. Er sah nicht einmal so aus, als ob er lesen konnte.

Das ließe sich ja feststellen, durchfuhr mich ein boshafter Gedanke.

„Das werde ich tun, Herr Tris - Trismeg - “ stotterte Sven.

„Trismegisto!“ knurrte der angebliche Forschungsreisende. „Ein altes Adelsgeschlecht, du Grünschnabel. Kannst du nicht kennen. Unser Adelsgeschlecht lebt hoch im Norden.“

Er setzte den Becher an den Mund und trank ihn in einem Zug leer.

„In den Wetterbergen?“ platzte ich heraus, bevor ich nachdenken konnte.

Am liebsten hätte ich mir sofort die Zunge abgebissen. Heißes Blut stieg mir in den Kopf. Der Fremde durchbohrte mich mit seinen Knopfaugen.

„Was weißt du Küken von den Wetterbergen?“ Es klang drohend.

Ich hatte keine Lust, mich von einem aus dem Unwetter in unser Wirtshaus hereingeschneiten Wegelagerer einschüchtern zu lassen. Ich hatte gerade einen Sturm auf See überlebt. Und ich hatte schon mehr Sterbende gesehen, als dieser Raubritter ahnte. Der Grog begann seine Wirkung zu zeigen und ich war nicht mehr Herr meiner Gedanken.

„Davon hab ich bei Knoblauch gelesen,“ rief ich trotzig.

Der Fremde goss seinen Becher voll, setzte ihn an die Lippen und trank ihn ein weiteres Mal in einem Zug aus. Zufrieden wischte er sich den Bart mit dem Ärmel ab.

„Aus einer Knoblauchzehe gelesen oder aus dem Handballen oder den Märchen einer alten Dorfhexe gelauscht, keine Ahnung von der Welt, aber vorlaut daher reden,“ murmelte er.

Ich wollte etwas erwidern, aber Sven packte mich am Arm und schüttelte den Kopf. Ich schloss meinen Mund wieder. Jedenfalls hatte ich erfahren, was ich wollte. Von Leonhard Knoblauch - oder hieß er Knobloch? - hatte dieser selbsternannte Forschungsreisende noch nie gehört. Vermutlich konnte er überhaupt nicht lesen. Dass Knoblochs „Reisen in die Wetterberge“ das wertvollste Hauptstück in der Bibliothek jedes Forschers sein musste, davon war ich damals felsenfest überzeugt.

Der Fremde stand umständlich auf. Stehend reichte er trotz seiner kräftigen Gestalt dem Wirt kaum bis zur Schulter, obwohl Mattis kein besonders großer Mann war. Der Krieger goss sich den Rest aus dem Weinkrug ein und schlürfte den Becher aus. Sein Gesicht war rot geworden, aber weder seinen Körperbewegungen noch seiner Sprache war anzumerken, dass er innerhalb einer Viertelstunde einen Krug schweren Wein ausgetrunken hatte.

„Zeig mir das Zimmer, Wirt,“ schnauzte er durch den Raum.

„Ich bin müde, bin die Nacht durchgeritten. Und dann dieses verdammte Unwetter. Und du,“ fuhr er Sven an, „sag deinem Vater, dass ich heute Abend komme. Vorbereiten braucht er nichts. Nur den Platz an der Esse muss ich haben.“

Sven setzte zu einer Antwort an, doch der Kämpfer drehte ihm den Rücken zu, warf sich den Schwertgurt mit dem riesigen Zweihänder über die Schulter und zerrte zwei nasse Satteltaschen unter dem Tisch hervor, denen ein gewaltiger Packen aufgebunden war. Mühelos nahm er das Gepäck, das Sven und ich kaum hätten zu zweit tragen können, über die Schulter und stiefelte dem Wirt hinterher, der ihm unter ständigen Verbeugungen vorausging.

Als die Tür hinter den beiden zugefallen war, blickten Sven und ich uns mit einer Mischung aus Empörung und Faszination an.

„Ein adliger Forschungsreisender aus dem hohen Norden?“ höhnte ich.

Sven verzog das Gesicht. „Da oben wohnen nur Zwerge und Trolle, soviel ist mal klar.“

„Das mit den Zwergen und Trollen sind Märchen, aber dass der ein Forscher ist, halte ich auch für ein Märchen.“

„Das ist ein Abenteurer, das sag' ich dir. Genau so sieht der aus.“

„Oder ein Wegelagerer, ein Freischärler auf der Suche nach einem Schlachtzug, bei dem er auf eigene Faust Beute machen kann. So stell' ich mir das vor.“

Dore setzte sich zu uns und füllte unsere Becher mit Grog.

„Er kam mitten aus dem Sturm herein,“ erzählte sie, „brüllte nach was zu essen, einem Zimmer und einem Stall für sein Pony. Dabei haben wir doch gar keinen Stall. Und als Mattis ihm sagte, eine Übernachtung mit Versorgung des Pferds koste vier Kreuzer, da tobte er und schimpfte, in einer Wiesenspelunke wie unserer seien Kost und Logis höchstens zwei Kreuzer wert und das sei von ihm noch großzügig. Und dann bestellte er Wein, und den Landwein wollte er nicht trinken, das sei Essig, sagte er. Und als Mattis den Tamoliner brachte und sagte, der koste dann aber extra, hat er nur böse geguckt.“

Grimmig murmelte ich: „Der gehört zu den armen Schweinen, von denen mein Vater immer redet - die nirgendwo zu bezahlen brauchen, weil sie sich mit Gewalt nehmen, was sie haben wollen.“

„Hoffentlich zieht der morgen wieder ab,“ sagte Dore. „Ich werd' kein Auge zutun, solange der im Wirtshaus ist.“

Ich wandte mich an Sven. „Heute Abend habt ihr ihn an der Backe.“

Sven setzte sein Draufgängerlächeln auf, das ich bei ihm gut kannte, wenn es an eine gefährliche Unternehmung ging.

„Bin gespannt,“ sagte er. „Möcht' gern wissen, was für ein Mensch das ist. Ich werd' versuchen, ihm in der Schmiede zur Hand zu gehen. Vielleicht krieg' ich was über ihn raus.“

„Das ist gar kein Mensch, das ist ein Ungeheuer,“ schimpfte Dore. „So jemand ist mir in meinem Leben noch nicht begegnet. Die Söldner aus Grünaue sind Engel dagegen!“

Ich grinste sie an. „Das sagst du, weil du dir die um den Finger wickeln und ihnen das Geld aus der Tasche ziehen kannst. Aber zum Feind möcht' ich den nicht haben. Morgen musst du mir erzählen, wie es gelaufen ist, Sven. Ich geh runter zum Schrein. Die anderen sind sicher schon beim Dankopfer für die Rettung aus dem Sturm.“

Wir sagten Dore, sie solle Essen und Grog anschreiben und traten hinaus in die frische, feuchte Luft.

***

Den Rest Tages verbrachte ich mit den Dorfleuten beim Opferschrein. Wir saßen zusammen und feierten bei Bier und Fischsuppe mit Brot unsere Rückkehr aus dem Sturm.

Gleich bei Sonnenaufgang am nächsten Morgen ging ich zu Bredurs Hütte. Vor der Hütte saß Svens jüngere Schwester Galina. Sie hatte ein Huhn geschlachtet und rupfte es. Ich fragte sie nach Sven.

„Er ist noch gar nicht wach,“ erzählte sie. „Vater schläft auch noch. Es dämmerte schon, als sie von der Schmiede hereingekommen sind.“

Ich setzte mich neben sie. „Und? Haben sie was gesagt?“

Galina machte ein geheimnisvolles Gesicht.

„Die ganze Nacht waren sie in der Schmiede. Sie dachten, ich schlafe, aber ich hab alles mitbekommen, was sie sagten. Ich hatte doch so gewartet, dass sie endlich kommen sollten. Aber zwischendurch muss ich doch geschlafen haben.“

Gedankenversunken legte sie die Hände auf das Huhn in ihrem Schoß.

„Als ich den Türriegel hörte, war ich gleich hellwach. Sie sind sofort ins Bett gefallen. Vater murmelte: „Ein Teufelskerl ist das!“ Und Sven sagte: „Das is' 'n brutaler Grobklotz! Und mit dem Bezahlen hat er's auch nicht ernst gemeint. Aber lernen kann man was von ihm.“ Und Vater meinte: „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, dass jemand so mit Eisen und Feuer umgehen kann.“ Sven hat noch gesagt, es wär' unheimlich gewesen. Dann sind sie eingeschlafen. Jetzt schlafen sie immer noch.“

Ich ging zum Strand hinunter und half beim Ausbessern der Boote. Kurz vor Mittag kam Sven mit übernächtigtem Gesicht an den Strand geschlichen. Ich legte das Werkzeug in den Kahn und kletterte aus dem Boot. Wir gingen ein Stück den Stand hinauf und setzten uns ins Ufergras. Sven blickte mich wild an.

„Der kann nicht nur schmieden. Gesprochen hat er mit dem Feuer. Und das Feuer hat geantwortet!“

Ich blickte Sven aufmerksam an, aber er machte nicht den Eindruck, als wollte er mir einen Bären aufbinden.

„Mein Alter sagte, das wär' echte Magie gewesen. Alchimie hat er es genannt, obwohl er vorher noch nie einen Alchimisten bei der Arbeit gesehen hat.“

In trockenen Worten schilderte Sven, was sich in der Nacht zugetragen hatte.

In der Abenddämmerung war der stämmige Krieger in der Schmiede erschienen. Sven und sein Vater waren gerade dabei, die Werkzeuge aufzuräumen und hatten schon gedacht, der Fremde hätte es sich anders überlegt, als er in seinen regennassen Stiefeln hereinpolterte. Er hatte das Kettenhemd abgelegt und war mit einem fleckigen Leinenwams bekleidet. Den Zweihänder trug er auf dem Rücken. Svens Vater meinte vorsichtig, auf dem kurzen Weg vom Gasthof zum Dorf gäbe es keine Diebe, hier lebten nur friedliche Menschen, aber der Krieger knurrte, auf Reisen solle man niemals irgendwohin gehen, ohne seine Waffe mitzunehmen.

Rasch blickte er sich in der Schmiede um, griff sich das Werkzeug und begann, das Feuer in der Esse zu schüren. Als er Roheisen für ein neues Hufeisen forderte, wagte Bredur, ihm einen Preis zu nennen. Der Fremde erwiderte nichts darauf. Er sah Svens Vater mit böse funkelnden Augen an. Das Hufeisen hatte er in wenigen Minuten geschmiedet, nicht ohne über die miserable Qualität des Eisens zu fluchen. Sven hatte angeboten, ihm zur Hand zu gehen und nach einem langen, misstrauischen Blick hatte der Kämpfer ihm erlaubt, auf sein Kommando hin den Blasebalg zu betätigen und das Werkzeug anzureichen.

Der Fremde ging unglaublich geschickt vor. Nach kürzester Zeit hatte er das vor der Schmiede angebundene Pony beschlagen. Er wollte bereits gehen, als Sven seinen Mut zusammen nahm und ihn fragte, ob er sich nicht noch kurz ein Beil ansehen könne, das Sven selbst geschmiedet hatte, und ob er ihm nicht zeigen könne, wie es vielleicht noch verbessert werden könne. Als Bezahlung sozusagen, fügte er hinzu.

Der Fremde sah ihn wütend an, aber dann band er sein Pony wieder an und knurrte: "Na, dann zeig mal, was du da verbrochen hast."

Sven zeigte ihm sein vor kurzem angefertigtes Erstlingsstück, auf das er ungeheuer stolz war.

Der Fremde drehte es zwischen den Händen und murrte: „Für ein Zimmermannsbeil ist es zu leicht und für eine Streitaxt zu plump. Was soll das sein?“

Sven stotterte vor Schreck irgendetwas. Bredur bemerkte leise, dass sie für die Fahrten auf die See leichte Beile bräuchten. Der Krieger blinzelte spöttisch.

„Ist mir doch egal, wofür ihr eure Äxte braucht,“ brummte er. „Ich will auch gar nicht wissen woher der Gastwirt da oben den Tamoliner Südwein hat. Wird wohl als Strandgut angespült worden sein. Aber als Streitaxt taugt das hier nichts. Fach mal das Feuer an!“

Mit klopfendem Herzen bediente Sven den Blasebalg, während sein Vater verstohlen aus dem Hintergrund zuschaute. Doch der stämmige, untersetzte Reisende war nicht zufrieden.

„Heißer, so wird das nichts,“ fauchte er Sven an.

Schließlich riss er ihm den Blasebalg aus der Hand und blies selbst die Glut an, bis die Kohle weiß glühte und Funken von der Esse stoben.

„Nun mach!“

Er gab Sven den Blasebalg zurück.

Sven arbeitete unter den gebellten Anweisungen des Fremden, bis ihm der Schweiß von der Stirn troff, aber erst eine halbe Stunde später nahm der Krieger die Beilklinge mit der Schmiedezange und grollte: „So kann's gehen. Nicht nachlassen, nur weiter, weiter!“

Die Glut beleuchtete von unten das breite Gesicht des fremden Schmieds. Funken sengten seine Augenbrauen an. Sein Bart begann zu schwelen. Er schien es nicht zu bemerken. Als er das rotglühende Metall mit dem Hammer zu bearbeiten begann, schüttelte er missmutig den Kopf.

„Das Eisen ist zu spröde. Es taugt nicht zum Waffenstahl. Schau her, siehst du?“

Sven sah gar nichts. Er konnte vor Erschöpfung kaum die Augen offen halten.

Jenseits des Feuerscheins war es stockdunkel. In der Finsternis glühte rot das Eisen auf dem Amboss, von den Schlägen des Kämpfers bearbeitet. Von seiner gedrungenen Gestalt waren nur schattenhafte Umrisse zu erahnen. Nur wenn er an die Esse trat, leuchtete sein Gesicht mit den blitzenden Augen im Dunkel auf. Sven wusste nicht mehr, ob er wach war oder ob er die Szene bereits im Traum erlebte.

Wieder und wieder wanderte die Beilklinge in die Esse. Stunden vergingen. Der Krieger bearbeitete das Eisen mit dem Hammer, drehte, wendete es, brachte es erneut zum Glühen, beim geringsten Nachlassen von Sven grobe Flüche hinausschreiend. Und dann kam der Moment, in welchem er, die Augen auf das leuchtende Eisen gerichtet, fremde Worte murmelte. Mit durchdringender Stimme wiederholte er wieder und wieder dieselben Worte in einer hart klingenden fremden Sprache. Seine Stimme klang hohl und mit einem Mal war es, als ob seine Stimme lauter würde, als ob aus dem Dunkel ein Echo widerhallte. Die Glut flammte auf und in dem Moment erschien in der lodernden Flamme das Gesicht. Es war kein menschliches Gesicht. Seine Furcht einflößende Fremdartigkeit erinnerte an kein lebendes Wesen. Das Feuer schien selber lebendig geworden. Das Gesicht antwortete dem Schmied in derselben fremden Sprache. Unverwandt auf das Metall starrend riss der Krieger die Klinge aus dem Feuer und bearbeitete sie unter gleichmäßigen Schlägen auf dem Amboss, wieder und wieder die gleichen Worte murmelnd, als wolle er dem Eisen befehlen. Seine Stimme jagte Sven Schauer über den Rücken.

In den Fenstern dämmerte das erste Blau des nahen Morgens, als der Krieger die Beilklinge ins Wasser tauchte und zischender Dampf die Schmiede füllte. Feierlich nahm er die Klinge aus dem Wasser und hielt sie Sven entgegen. Ein kaltes blaues Glühen ging von dem Metall aus.

„Da hast du deine Waffe!“

Sven konnte kein Wort erwidern. Der Schreck saß ihm in den Knochen. Trotz der Hitze in der Schmiede zitterte er am ganzen Leib. Höhnisch blickte der Fremde ihn an. Svens Vater verneigte sich fast bis zum Boden, nannte den Krieger einen „hohen Herrn“ und „wahren Meister“ und überschüttete ihn mit Ehrerbietungen. Der Krieger meinte nur trocken, die Klinge sei ein Vielfaches des erbärmlichen Hufeisens wert und dass man nun wohl quitt sei.

„Hat gut getan, mal wieder an der Esse zu arbeiten. Unterwegs komme ich selten dazu,“ knurrte er.

Es schien Sven, als wäre der Ansatz eines Schmunzelns in seinem narbenversehrten Gesicht zu sehen. Bredur murmelte unter ständigen Verbeugungen, man stünde hoch in der Schuld des Herrn. Ob er sich dennoch erlauben dürfe, den Herrn zu fragen, ob er nicht noch ein wenig bleiben könne, um Bredurs Sohn für ein paar Tage in die Lehre zu nehmen? Der Fremde kniff die Augen zusammen. Vielleicht wäre es sowieso besser, wenn er für einige Zeit untertauchen würde, murmelte er. Er grinste listig und meinte, wenn Bredur für Kost und Logis im Gasthof „Zum einäugigen Piraten“ für ihn aufkäme, könne man sich einigen.

„Ich werd' in den nächsten Tagen wohl jede Nacht bis zur letzten Nachtstunde in der Schmiede stehen,“ stöhnte Sven.

Er hatte sich im Sand ausgestreckt und schaute in den wolkenverhangenen Himmel.

„Aber mein Alter meint, bei diesem Krieger-Alchimisten kann ich mehr lernen, als er mir in seinem ganzen Leben beibringen kann. Die Streitaxt musst du dir ansehen, die er geschmiedet hat. Die Klinge glüht im Dunkeln, verstehst du? Obwohl sowas eigentlich nicht möglich ist. Dieser Zosimo meint, wir sollen einen Eschenholzschaft besorgen. Dabei gibt es an der ganzen Küste kein Eschenholz.“

„Zosimo nennst du ihn?“

„Zum Schluss hat er mir die Hand gegeben und nach meinem Namen gefragt. Und sagte, ich soll Zosimo zu ihm sagen. Auf Ehrenbezeigungen lege er keinen Wert. Mein Alter scharwänzelte trotzdem um ihn herum und nannte ihn den „hochwohlgeborenen Herrn Trismegisto“. Beim Gehen hat er mir fast die Hand zerquetscht mit seinem Händedruck.“

Mir kam eine Idee.

„Hör mal, Sven. Wenn du jetzt sowieso jede Nacht in der Schmiede bist - könnt ihr da nicht mein Schwert auch ein bisschen ausbessern? Du weißt doch, das schartige Ding von dem Söldner.“

„Weiß nicht. Er meinte, so was wie heute Nacht kann er mir nicht beibringen. Er will mir zeigen, wie man Waffenstahl herstellt und wenn ich mich geschickt anstelle und nicht jedes Mal zwei Stunden brauche um die Glut anzufachen, könne ich ihm am Ende vielleicht beim Schmieden einer Dolchklinge zur Hand gehen. Hörte sich nicht so spannend an.“

Ich blieb hartnäckig. „Aber könnt ihr nicht vielleicht trotzdem ein bisschen an meinem Schwert arbeiten?“

„Frag ihn doch selbst. Wirst ja sehen, was er dir antwortet,“ brummte Sven.

***

Am Nachmittag gürtete ich mein Schwert um und ging zum Gasthof. Wenn Sven eine magische Waffe hatte wie im Märchen, dann wollte ich auch eine haben. Eigentlich glaubte ich ihm nicht, von wegen Glühen im Dunkeln und so. Aber der alte Narun meinte, das Schwert, das er mir gegeben hatte, tauge nichts mehr. Möglicherweise konnte dieser reisende Waffenschmied die Klinge ausbessern.

Zosimo Trismegisto war der einzige Gast in der Wirtsstube. Er saß auf der Bank am Fenster mit einem Zinnbecher und einem Krug Wein neben sich. Der Zweihänder lehnte neben ihm am Tisch. Der Schwertgriff glänzte im Nachmittagslicht. Sella war am Herd beschäftigt. Ich nickte ihr zu und sie lächelte zurück. Als ich mich dem Fremden näherte, stutzte ich. Vor ihm lag ein großes, aufgeschlagenes Buch.

Ich trat an den Tisch. „Lest Ihr in dem Buch?“

Der rotgesichtige Fremde schaute auf. Er schien sich an mich zu erinnern.

„Nee,“ grollte er drohend. „Ich schnüffle nur den Papierstaub, du Seeräuberbengel! Das kitzelt so schön in der Nase.“

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.

„Ich... ich kann nämlich auch lesen.“

Ich kam mir entsetzlich dumm vor. Zosimo musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Ich hasste diese Art des Fremden, einen mit den Augen Maß zu nehmen, als sei man eine zum Verkauf stehende Ziege.

„So?“ knurrte er. „Lies mal vor!“

Er hielt den Ledereinband hoch, so dass ich den Titel sehen konnte. Das brüchige Leder roch alt. „Kommentar der Runentafelfragmente des Wettergebirges - niedergeschrieben von Eusebius Multhaupt im Jahre Vierzehnhundertfünfunddreißig“ war in altmodischen, vergoldeten Lettern auf den Einband geprägt. Das Buch war über fünfhundert Jahre alt! Ich las den Titel laut vor. Der „Forschungsreisende“ sagte vor Verblüffung gar nichts. Offenbar war es mir gelungen, ihm die Sprache zu verschlagen.

Mich für einen Dorftölpel halten! Dir werde ich es zeigen.

„Das Wettergebirge,“ sagte ich gelangweilt, „sind das nicht die nordwestlichen Wetterberge, von denen Leonhard Knoblauch schreibt?“

Der Mund des reisenden Gelehrten wurde zu einem Strich.

„Der Verfasser heißt Knobloch, du Grünschnabel. Hast du von seinen „Reisen in die Wetterberge“ nur gehört, oder hast du darin gelesen?“

„Ich hab das ganze Buch gelesen. Mehrmals!“

„Aha? Was schreibt er denn, der Leonhardt Knobloch?“

„Er beschreibt die Westküste im Norden, alte Königreiche und so, das Reich Barhut...“

Der Reisende fixierte mich. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Räuberisches.

„Natürlich schreibt er auch viel Sagenhaftes. Von Zauberern, Zwergen und Hexen...“

„Man muss nicht alles, was man nicht kennt, als Märchen abtun, Junge.“

„Na ja schon, aber glaubt Ihr etwa an Zwerge?“

Das ohnehin rote Gesicht des Fremden verfärbte sich ins Dunkelrot.

„Ob ich an Zwerge glaube?“ brüllte er.

Er beugte sich über den Tisch, als wollte er auf mich losgehen. Ich dachte, gleich würde er mich mit den Fäusten traktieren, aber stattdessen nahm er einen großen Schluck aus seinem Weinbecher, goss sich den Rest aus dem Krug ein und kippte ihn in einem Zug herunter. Sein Gesicht glühte.

„Na, wenn schon,“ murmelte er. „Noch nie in seinem Leben aus dem Heimatkaff rausgekommen, gerade mal ein paar Meilen auf See hinaus. Da kann man nichts anderes erwarten.“

Wie zur Besinnung gekommen fixierte er mich. „Wo hast du das Buch gelesen?“

Mir wurde mulmig. „Ich... das Buch gehört meinem Vater.“

„Soo - deinem Vater! Dein Vater ist Fischer, nicht wahr?“

„Mein Vater hat mir Lesen beigebracht. Wenn man lesen kann, wird man nicht ständig übers Ohr gehauen. Nur, weil wir Fischer sind, sind wir noch lange keine Dummköpfe! Mein Vater hat mehrere Bücher.“

„Was hat er denn noch für Bücher, dein Vater?“

„Ach, ganz Verschiedenes. Eine „Grammatik der Alten Hochsprache“ oder so ähnlich, eine Beschreibung der Westküste für Seefahrer...“ ich stockte.

Was ging das diesen Fremden überhaupt an?

„Die Grammatik der alten Hochsprache, die solltest du lesen, wenn du ein Gelehrter sein willst. In der alten Hochsprache eures Reichs sind viele wissenschaftliche Werke verfasst. Aber hör mal, ich kaufe deinem Vater den Knobloch ab. Er soll mir den Preis nennen. Sag ihm das!“

„Ich... ich glaube nicht, dass er seine Bücher verkaufen will. Wir haben genug Geld, uns fehlt nichts, und...“

„Außer ein paar vernünftigen Waffen fehlt euch hier nichts, was? Wo hat dein Vater seine Bücher überhaupt her, du Rotzlümmel?“

Mein Puls hämmerte, aber ich ließ mich nicht einschüchtern. „Und wo habt Ihr das Buch da her?“

Zosimo blickte mich an, schaute auf das vor ihm liegende Buch, blickte wieder mich an. Plötzlich lachte er los, ein kehliges, hässliches Lachen.

„In der Universität zu Klagenfurt gibt es einen buckligen, gichtkranken Bibliothekar, der würde mich gerne auf dem Marktplatz gevierteilt sehen, wenn er wüsste, wo dieses Buch jetzt ist. Ein schräger Kauz war das. Es hat mich all meine Überredungskunst und Unmengen an Bestechungsgeldern gekostet, in diese Bibliothek hineinzugelangen. Fast meine ganze Reisekasse ist dabei draufgegangen. Ein komisches Verhältnis hatte der zu seinen Büchern. Hat mit ihnen geredet, sie gestreichelt... War nicht ganz leicht, da weg zu kommen, hätte mich um ein Haar meinen Kopf gekostet. Deshalb muss ich mich jetzt ein paar Tage in eurem Kaff verstecken, bevor ich auf den Reichsstraßen wieder halbwegs sicher reisen kann.“

Er lehnte sich zurück. „Für Wissenschaft und Forschung muss man manchmal unangenehme Dinge in Kauf nehmen, Junge. Frag deinen Vater, was er für das Buch haben will. Ein vernünftiges Enterbeil, zum Beispiel?“

Er beugte sich wieder vor, gieriges Leuchten in den Augen. „Ich brauche das Buch für meine Nachforschungen, verstehst du? Ich bin verschollenen Geheimnissen meines Volks auf der Spur, oben in den Wetterbergen. Ich brauche jeden Hinweis, den ich bekommen kann.“

Mir kam eine Idee. „Ich kann ja mit meinem Vater sprechen...“

Er sah mich drohend an. „Das solltest du tun, Junge. Ich reise nicht ohne dieses Buch ab!“

Ich schluckte. „Ich meine, ich hab nämlich ein Schwert...“

Er sah an mir herab. „Seh' ich. Pass auf, dass du nicht drüber stolperst, wenn du losläufst.“

Wütend fuhr ich diesen Raubritter an. „Ihr habt doch angeboten, eine Waffe für das Buch zu schmieden. Wenn Ihr dieses Schwert ausbessert - so wie das Beil, das Ihr heute Nacht für Sven Bredursohn geschmiedet habt - dann lässt mein Vater ja vielleicht mit sich reden.“

„Er täte besser, mit sich reden zu lassen. Aber zeig das Ding mal her.“

Ich reichte ihm die schartige Waffe. „Es taugt nicht mehr viel. Hat mir ein alter Söldner überlassen dafür, dass ich ihm Lesen beigebracht habe.“

Er drehte das Schwert hin und her, betastete die Klinge. „Nein, das ist kein schlechtes Schwert. Solide, traditionelle Arbeit. Guter Stahl. Dein alter Söldner hatte keine Ahnung, was er da weg geschenkt hat. Ein bisschen abgenutzt ist die Klinge. Aber das kriegen wir schon wieder hin.“

Er schaute mich an. „Abgemacht. Ich schmiede dir hieraus eine Klinge, wie du sie noch nicht gesehen hast, und du erklärst deinem Vater, dass ich ihm den Leonhard Knobloch abkaufe, klar?“

„Am besten Ihr sprecht selbst mit ihm. Er legt großen Wert auf seine Bücher.“

„Wie du willst. Wie heißt du?“

„Leif Brogsohn.“

Er sah mich nachdenklich an. „Leif Brogsohn - solltest mich mal besuchen kommen auf meinem Rittergut an der Küste des Wettergebirges. Junge Abenteurer, die lesen und kämpfen können, kann ich für meine Forschungsreisen gebrauchen. Dazumal, wenn sie so mutig und respektlos sind, wie du!“

Ich war nicht sicher, ob das ein Kompliment sein sollte. Ich stotterte, Sven und ich wollten sowieso von hier fort und dass wir schon immer Abenteurer werden wollten. Zosimo Trismegisto lachte nicht.

„Kommt nach Dwarfencast,“ sagte er. „Überlegt es euch. Ich habe bessere Aufgaben für euch, als Handelsschiffe auszuplündern.“

***

Knapp einen Monat blieb der forschungsreisende Alchimist Zosimo Trismegisto im „Einäugigen Piraten“ zu Gast. Jeden Abend erschien er in Bredurs Schmiede und bis zum Morgengrauen musste Sven ihm zur Hand gehen. Nach einigen Tagen hatte Sven schwarze Ringe unter den Augen. Von Tag zu Tag wurde er blasser und gereizter. Bredur und Mattis stritten sich täglich über die Kosten für den Südwein, den der Alchimist krügeweise trank, ohne dass ihm die Mengen schweren Weins anzumerken gewesen wären. Er kam zu meinem Vater und verhandelte mit ihm über den Preis für Leonhard Knoblochs „Reisen in die Wetterberge“. Mit unbewegtem Gesicht zog mein Vater an seiner Pfeife und hüllte sich in Tabakrauch, während Zosimo tobte und schrie. Aber endlich einigten sie sich. Als Zosimo Trismegisto Brögesand verließ, gab es in jedem Haushalt ein gut handhabbares, scharfes Enterbeil.

Am vierten Tag nach der Ankunft Zosimos in Brögesand brachte mir Sven mein Schwert. Er ließ sich auf die Bank vor unserer Hütte fallen und lehnte sich mit dem Kopf an die Wand.

„Wenn er noch lange bleibt, werd' ich vor Erschöpfung verdorren,“ stöhnte er mit geschlossenen Augen.

Ich hörte ihm nicht zu. Ungläubig hielt ich mein Schwert in der Hand. Die Klinge glänzte im Tageslicht. Sie war glatt und scharf. Seltsam leicht lag das Schwert in meiner Hand. Ich stand auf und machte einige der Paraden, die Narun mir beigebracht hatte. Mit müheloser Schnelligkeit fuhr das Schwert durch die Luft. Mir war, als begriffe ich mit einem Mal, was der Söldner mir mit seinen plumpen Übungen vermitteln wollte. Als wisse die Klinge, was sie zu tun hätte. Ein Gefühl von Stärke und Zuversicht durchströmte mich. Verwirrt legte ich das Schwert auf die Bank. Der Wind fuhr durch meine Kleidung, es wurde kühl. Das Gefühl war verschwunden. Aber sobald ich die Klinge aufnahm, war es wieder da.

„Das ist irre,“ murmelte ich. „Ich glaub' das nicht!“

„Du würdest so manches nicht glauben, was da in der Schmiede abgeht,“ stöhnte Sven. „Wenn der weg ist, hab ich graue Haare, das ist mal sicher.“

Ich schaute ihn an. Mit müdem Gesicht und geschlossenen Augen lehnte er an der Hauswand. Brandflecke waren auf seinen Ärmeln und seiner Hose. Von grauen Haaren war in seiner dunklen, widerspenstigen Mähne noch nichts zu sehen.

***

Drei Wochen später an einem windigen Nachmittag betrat ich, wie häufig in den letzten Tagen, die Gaststube des „Einäugigen Piraten“. Sie war leer. Zum ersten Mal, seit er in Brögesand aufgetaucht war, saß Zosimo nicht über sein Buch gebeugt am Fenster, den Krug Wein neben sich, einen Zinnbecher in der Hand, mit dem Finger murmelnd über die Zeilen fahrend. Er sei am frühen Morgen aus der Schmiede zurückgekehrt, erzählte mir die Wirtin, hatte seine Sachen gepackt, sein Pony gesattelt und war abgereist. Ohne einen Abschiedsgruß, ohne jeden Dank für die geduldige Bewirtung. Im Kettenhemd war er in den Sattel gestiegen, sein großes Schwert auf dem Rücken, hatte den Helm festgezurrt und war losgeritten, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die Wirtin zeigte mir einen Brief, den er dagelassen hatte. Auf dem Umschlag standen Svens und mein Name. Es war ein kleines Stück zusammengefaltetes Papier, mit Wachs zugeklebt. Ich öffnete den Brief. In einer eckigen, fremd anmutenden Schrift stand da:

Die Überbringer dieses Schreibens, Sven Bredursohn und Leif Brogsohn aus Brögesand, sowie deren Gefährten, haben jederzeit Zutritt zu Burg Dwarfencast, als auch freie Kost und Logis daselbst.

Ich heiße sie zu jeder Zeit als meine Gäste willkommen, um mich bei meinen Nachforschungen und Reisen zu unterstützen. Einen wohlwollenden Lohn stelle ich ihnen in Aussicht.

Zosimo Trismegisto, Burgherr von Dwarfencast

P.S. Nach Dwarfencast gelangt man von Torglund auf der Reichsstraße zwanzig Tagesmärsche nach Norden gehend. An der Grenze des Kaiserreichs befindet sich an der Westküste das Fischerdorf Lüdersdorf. Von dort sind es noch wenige Stunden Fußmarsch die Küste entlang nordwärts bis nach Dwarfencast.

Das Schreiben war mit einem roten Siegel versehen, auf dem etwas zu sehen war, das aussah wie eine Flamme, die von Weinreben umgeben war.

In den kommenden Monaten sprachen Sven und ich häufig über das Rittergut Dwarfencast, über den Alchimisten oder Raubritter Zosimo Trismegisto und was für Abenteuer uns wohl im Norden erwarten würden, sollten wir uns tatsächlich aufmachen und der Einladung dieses merkwürdigen Forschers folgen.

Aber was uns zwei Jahre später dazu brachte, Brögesand zu verlassen und nach Norden aufzubrechen, war nicht das Einladungsschreiben des fremden Burgherren. Der Anlass dafür war Katrina.

Dwarfencast

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