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2.

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Ich verließ die Zinne und ging hinunter in die Bibliothek. Ich wollte mir den Band "Verständnis und Gebrauch der Wetterphänomene" aus der Zauberkunde-Bibliothek holen, um das Kapitel über das Entfachen von Windstößen zu studieren. Bereits vor unserer Expedition hatte ich darin gelesen.

Die Geheimbibliothek lag verborgen hinter einem Wandschrank in Zosimos Studierzimmer. Durch die große Flügeltür betrat ich das Arbeitszimmer des Turmherrn. Die Dielenbretter knarrten, als ich zum Schreibtisch hinüber ging. Licht aus den großen Erkerfenstern fiel auf durcheinanderliegende Bücher und vollgekritzelte Papierbögen. Die beiden heiligen Bücher waren nicht darunter. Zosimo würde sie in der Geheimbibliothek aufbewahren. Dort lagen auch die uralten Runentafeln des Meergeborenenvolks, die wir im Grab ihres Heerführers Gorgon auf den Geisterklippen gefunden hatten.

Mein Blick fiel auf die Landkarte, die an der Innenwand neben dem Schreibtisch vom Boden bis zur Decke reichte. Sie zeigte weite Gebiete der Küste um Dwarfencast und nördlich davon bis ins Landesinnere. Da war der Umriss der Landzunge im Norden, jedoch waren dort keine Landschaftsmerkmale eingetragen. Die Gegend schien dem Kartografen unbekannt gewesen zu sein. Das Gebirge östlich der Landzunge dagegen war mit akribischer Genauigkeit wiedergegeben. Täler, Berggipfel, Flüsse waren eingezeichnet. Schriftzüge in karrakadarischer Schrift wiesen auf Punkte an Berghängen hin - Zwergensiedlungen vielleicht? Im Süden war Grobenfelde verzeichnet und die alte Handelsstraße durch die Ebene von Vollmersend hinauf ins Gebirge. Die Karte war so genau, dass ich glaubte, die Täler nachvollziehen zu können, durch die wir nach unserer Flucht aus dem Kloster bis ins Bergdorf Kammar gewandert waren und von dort zum Grab des Kriegerkönigs Waron und zurück in die Ebene. Ich fuhr mit dem Finger die Täler entlang. Die Karte gab unter meiner Hand nach. Ich hatte erwartet, dass sie fest an der Wand befestigt wäre. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete die Karte. Etwas stimmte nicht. Dann hatte ich es. Zwischen dem hölzernen Rahmen und der Karte war ein haarfeiner Spalt auszumachen - nur die Kartenunterseite war fest mit dem Rahmen verbunden. Ich tastete die untere Rahmenleiste entlang. Tatsächlich: sie war locker. Ohne Mühe konnte ich sie anheben und mitsamt der Karte nach oben schieben. Die Karte verschwand in der Decke, wo sie wohl durch einen Mechanismus aufgerollt wurde. Eine offene Tür kam zum Vorschein. Sie führte auf einen schmalen Gang, der hinter der Mauer nach rechts abbog.

Ich blickte mich um. Niemand außer mir war im Studierzimmer. Zosimo war unterwegs zu dem zerstörten Zwergentempel. Den greisen Turmverwalter oder den Koch brauchte ich nicht zu fürchten - obwohl es mir wegen des Verwalters lieber gewesen wäre, wenn ich mein Schwert dabei gehabt hätte. Aber deshalb jetzt zurückgehen?

Ich trat in den engen Geheimgang und zog die Karte von innen herunter.

„Elean!“ In meiner Handfläche ließ ich magisches Licht aufleuchten.

Der Gang endete nach etwa acht Schritt an einer abwärts führenden Wendeltreppe. Die metallbeschlagene Tür, mit der der Geheimgang von innen verschlossen werden konnte, hatte zwei eiserne Riegel. In der Türmitte befand sich eine sechseckige Vertiefung, die ich mir nicht erklären konnte.

Ich folgte der steilen Wendeltreppe nach unten. Ein Stockwerk tiefer - es war der zweite Stock mit den Gästezimmern und den Gemächern des Burgherrn - endete die Treppe in einem kleinen Gewölbe. Auf der rechten Seite gab es einen Durchgang. An der Wand ragten fünf hölzerne Stangen aus einem Spalt in den Steinfliesen. Sie sahen aus wie die Stellhebel einer in der Wand verborgenen Maschine. Zwei Hebel waren vorgezogen. Daneben stand ein Tisch mit einer Metallkassette. Sie war unverschlossen. Ich hob den Deckel. Darin lagen drei kurze sechseckige Stäbe aus blau glühendem Kristall. Das schwindelerregende Gefühl heftiger Magie überkam mich. Vorsichtig schloss ich den Deckel wieder.

Der Durchgang führte auf eine abwärts führende Wendeltreppe. Auf der anderen Seite befand sich eine geschlossene Tür. Wie die Tür hinter der Landkarte war sie metallverstärkt. Ihre Eisenriegel waren zurückgeschoben, so dass sie von der anderen Seite geöffnet werden konnte. Auch sie wies in der Mitte eine sechseckige Vertiefung auf. Sie schien die gleichen Maße zu haben wie die Kristallstäbe in der Metallkassette. Vielleicht eine magische Schließvorrichtung? Ich musste das Lyana zeigen. Was magische Vorrichtungen betraf, hatte sie meist den richtigen Riecher.

Zögernd legte ich die Hand an den Türriegel. Meine Neugier siegte über die Vorsicht. Behutsam zog ich die Tür auf. Die Tür war auf der anderen Seite als Wandspiegel getarnt. Durch die Glasscheiben eines Bogenfensters fiel Sonnenlicht in ein wohnlich eingerichtetes Zimmer. Goldornamente auf hellgrünen Wandtapeten glänzten im Licht. An der Wand stand ein mit grünen Samtvorhängen verhängtes Bett. Unter dem Fenster befand sich eine große Truhe. Es gab einen grünen Polsterstuhl und eine Anrichte neben dem Bett. Auf der Anrichte stand eine Glaskaraffe mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit neben einem Zinnbecher. Gegenüber führte eine halbgeöffnete Tür in ein weiteres Zimmer. Eine kleine Tür in der Wand neben dem Bett stand offen.

Ich war unversehens in die Gemächer des Burgherrn geraten! Vorsichtig betrat ich den Raum.

Du hast hier nichts zu suchen!

Ich schnupperte an der Karaffe.

Branntwein. Sieht dem Zwerg ähnlich!

Hinter der Tür neben dem Bett lag eine Nische mit einem Waffen- und Rüstungsständer. Der Ständer war leer, aber in einer Wandhalterung lehnten zwei Arkebusen. Pulverhörner und Kugelbeutel hingen daneben. Ich warf einen Blick durch die angelehnte Tür. Eine gepolsterte Bank stand an einem niedrigen Tisch. Auf dem Tisch standen mehrere Tabakspfeifen, Tabakdosen und ein halbvolles Weinglas. Ein gepolsterter Lehnstuhl war vor den Kamin gerückt worden. Es gab ein Bücherregal und einen Sekretär. Am Fenster stand ein Lesepult. Auch dieser Raum war in hellen Grüntönen gehalten. Auf der Bogentür an der rechten Wand prangte das Wappen von Dwarfencast.

Ich ging zurück zur Wendeltreppe und schloss die Tür hinter mir.

Wer weiß, wofür diese Entdeckung nützlich sein kann!

Die schmale Wendeltreppe führte endlos abwärts. Ich hatte den Eindruck, durch alle Stockwerke des Turms bis in die Kellergeschosse hinunterzusteigen. Die Luft wurde dumpf und feucht. Endlich endete die Treppe an einem schmalen, gemauerten Gang, der ein paar Schritt weiter vorn nach rechts abbog. Ich folgte dem Gang. Er war niedrig. Ich musste geduckt gehen, um nicht mit dem Kopf gegen die steinerne Decke zu stoßen. Hinter der Biegung erstreckte sich der Gang ins Dunkel jenseits der Reichweite meines magischen Lichts. Vor mir in der linken Wand lag eine Tür. Ihr gegenüber zweigte ein Gang nach rechts ab. Ich wollte weitergehen, als ich an den Rissen im Steinboden eine Falltür erkannte. Ich ließ mich auf alle viere herab und drückte mit der Handfläche gegen die Falltür. Sie schwang geräuschlos auf, um sich gleich wieder zu schließen.

Ich hatte genug entdeckt. Vermutlich befand ich mich in dem Teil des Kellers, der die geheimen Waffen- und Vorratslager enthielt. Kat und Lyana waren dort vor dem Aufbruch zu unserer Expedition gewesen. Ich kehrte um, holte mir den Band „Verständnis und Gebrauch der Wetterphänomene“ aus der Geheimbibliothek und setzte mich in der großen Bibliothek ans Fenster. Ich vertiefte mich in das Kapitel über das Beherrschen der Winde.

***

Vorne in der Bibliothek hörte ich die Tür gehen. Stiefelschritte näherten sich zwischen den Regalreihen, blieben stehen, kamen näher. Es war Lyana. Sie hatte ein Buch im Arm. Als sie mich sah, kam sie zum Fenster herüber und setzte sich neben mich an den Tisch. Sie lächelte mir kurz zu, dann öffnete sie ihr Buch. Nach einer Weile blickte sie auf und sah sich die Buchseite an, die ich las.

„Diese Sache mit dem Wind, die Ligeia dir gezeigt hat - ist das auch schwarze Magie?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das hat was mit den Elementen zu tun, wie die Feuermagie auch. Bei der schwarzen Magie geht es, glaube ich, um Leben - Lebensenergie, Lebenskraft oder etwas in der Art.“

Lyana rückte näher zu mir.

Sie blickte nachdenklich auf das Buch. „Losgekommen bist du nicht von ihr, Leif.“

Ich wusste, dass sie Ligeia meinte.

„Was in aller Welt kann ich denn tun? Wenn ich einen Weg wüsste... Ich habe den Eindruck, sie erkennt alles, was ich mir vornehme. Vielleicht sitzt sie gerade jetzt über ihrer magischen Teeschale und beobachtet uns!“

Lyana sagte lange Zeit nichts.

Schließlich meinte sie: „Auf jeden Fall ist es gut, wenn du so starke magische Fähigkeiten entwickelst, wie möglich.“

Ich schwieg betroffen.

Das kann ich nicht. Ich kann nicht gegen sie kämpfen!

Lyana sah mich an. „Du musst lernen, dich gegen sie zur Wehr zu setzen!“

Ich stützte missmutig den Kopf in die Hände. Sicher hatte sie Recht. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken.

***

Zum Abendessen kamen wir alle vier im Saal im zweiten Stock zusammen. Kat suchte sich einen Platz, an dem sie Sven und mir gegenüber saß. Lyana, die mit mir aus der Bibliothek heruntergekommen war, setzte sich neben mich. Kat schaute von Lyana zu mir. Als sie merkte, dass ich sie ansah, blickte sie in eine andere Richtung.

Der Koch hatte aus den Resten des Gänsebratens ein Ragout gemacht. Auch der Pudding und die Obstgrütze standen wieder auf dem Tisch. Sven stand auf und nahm den Schöpflöffel.

„Möchte jemand Fleischeintopf?“

Er sah Kat an und streckte die Hand nach ihrem Teller aus. Sie blickte zurück und gab ihm den Teller. Er tat ihr auf und reichte ihr den Teller mit einem Kopfnicken. Dann schaute er zu mir.

„Du auch, Leif?“

„Ja, sicher.“

Er tat uns allen auf, nahm sich zuletzt ebenfalls und setzte sich. „Lasst's euch schmecken, Freunde.“

Kat schaute ihn an als wollte sie in seinen Gesichtszügen etwas erraten, aber er tat, als bemerkte er es nicht.

„Übrigens, Kat,“ meinte ich, „es gibt doch Kleidertruhen im Turm. Eine zumindest.“

Sie warf mir einen komischen Blick zu. „Bist du jetzt meinetwegen eine suchen gegangen? Hast du im Keller gestöbert, oder was?“

Sven blickte belustigt zwischen uns hin und her.

Lyana entfuhr ein erstauntes „Oh!“

Ich schüttelte den Kopf. „In Zosimos Schlafgemach steht eine.“

„Was?“ rief Kat.

Sven zog die Augenbrauen hoch. „Wie bist du denn da rein geraten?“

„Durch den Spiegel.“

Kat und Sven sahen mich zweifelnd an. Ich erzählte ihnen von dem Geheimgang.

Als ich geendet hatte, meinte Lyana nachdenklich: „Jemand, der von oben zu den Lagerräumen will, muss dafür die Falltür unten sichern. Vielleicht dienen die Hebel im Verbindungsraum dazu, Falltüren scharf zu machen und zu sichern.“

„Gut möglich,“ überlegte Kat. „Bei Gelegenheit sehen wir uns das zusammen an.“

Sie grinste hämisch. „Es wäre nicht falsch, mal nachzuschauen, was sich so alles in den Vorrats- und Waffenkammern befindet.“

„Warum nicht? Wir haben ja den ganzen Winter über Zeit,“ meinte Sven kauend.

Kat angelte sich Kartoffeln. „Ich bin heute Nachmittag nach Lüdersdorf geritten. Die Stolka kümmert sich gut um ihre Stieftochter. Ich glaube, das Mädchen ist wohlauf - obwohl sie kaum ein Wort über die Lippen bekam. Die Kleine ist entsetzlich schüchtern.“

„Du bist in Lüdersdorf gewesen?“ rief ich.

Kat grinste. „Klar! Ich will doch nicht unglaubwürdig werden im Dorf - und bei unserem allerliebsten Koch. Die sollen wissen, dass es mir ernst ist. Übrigens haben sie mich im Dorf sehr respektvoll aufgenommen.“

„Und was hättest du getan, wenn sie sich nicht an ihr Versprechen gehalten hätten?“ fragte Sven.

Kat antwortete nicht, aber ihr zusammengepresster Mund und der flammende Blick sagten alles.

„Mal was anderes,“ wechselte sie das Thema. „Sven, würdest du mir einen Gefallen tun?“

„Sicher Kat. Worum geht's?“ Er sah sie ruhig an.

Sie schaute zurück und ich glaubte, einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen zu erkennen, aber als Sven sie ungerührt anblickte, senkte sie den Blick.

„Kannst du nicht einen Türriegel innen an der Tür zum Brunnenraum anbringen? Ich möchte mich endlich in aller Ruhe waschen können, ohne jemanden, der vor der Tür aufpasst, dass dieser Smut mit seinen unanständigen Blicken sich nicht aus Versehen in den Brunnenraum verirrt.“

„Kein Problem, Kat. Mach' ich,“ meinte Sven nüchtern.

Als wir gegessen hatten - diesmal nahmen wir uns auch vom Pudding und der Obstgrütze - fragte Kat in die Runde: „Was haltet ihr davon, wenn wir in den Weinkeller gehen? Mir ist nach einem Becher Wein.“

Sven schüttelte den Kopf. „Nichts für ungut, Kat. Aber ich geh' noch für ein, zwei Stunden in die Schmiede.“

Kat biss sich auf die Lippen.

Dann sah sie zu mir herüber. „Du kommst doch mit, Leif?“

„Klar, Kat, gerne.“

„Und du?“ fragte sie Lyana. „Kommst du auch mit?“

„Ja.“

Im Weinkeller nahm sich Kat einen Krug und ging die Reihen der Weinfässer in den Nebengewölben der langgestreckten Säulenhalle ab.

„Die ältesten Jahrgänge sind die besten,“ meinte sie.

Aus einem Fass zapfte sie ein wenig Wein, schnupperte daran, kostete und nickte. Dann füllte sie den Krug. Ich entfachte ein Feuer im Kamin der Weinstube und wir setzten uns in die Polsterstühle.

Kat blickte in die prasselnden Flammen. „Wir könnten uns Geschichten erzählen. Irgendeine kennt doch jeder - aber was fröhliches! Ich hab die Nase voll davon, immerzu Probleme zu wälzen.“

„Haben Sven oder ich euch eigentlich mal erzählt, wie wir Zosimo kennengelernt haben?“ fragte ich.

„Nur ganz allgemein,“ meinte Kat. „Ihr sagtet, er sei auf der Flucht vor den Schergen des Kaisers gewesen, weil er in der Universität zu Klagenfurt ein Buch geklaut hatte. In eurem abgelegenen Piratennest hat er sich ein paar Wochen lang verborgen.“

Ich erzählte, wie Sven und ich Zosimo im Landgasthof „Zum einäugigen Piraten“ begegnet waren und wie es dazu kam, dass er uns bei seiner Abreise die Einladung nach Dwarfencast hinterließ. Anschließend erzählte Kat ein paar Söldner-Anekdoten aus Kriegslagern, in denen sie als Feldscherin tätig gewesen war.

Lyana berichtete von Streifzügen in den Wäldern im Süden. Einmal, erzählte sie, seien sie und ihr Vater tief in den Wäldern den „Herren des Waldes“ begegnet.

„Später sah ich sie noch ein oder zweimal aus der Entfernung, aber ich habe mich ihnen nie genähert. Sie kamen mir so...“ Lyana suchte nach Worten, „...Ehrfurcht einflößend vor, ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Ich meinte jedes Mal, mein Herz stünde still, wenn ich sie sah. Vater sprach mit ihnen in ihrer melodischen Sprache. Ich fühlte mich furchtbar klein und unscheinbar und wollte mich heimlich davonstehlen, aber Vater nannte ihnen meinen Namen und sie schauten mich freundlich an. Einer trat vor, legte mir die Hand auf die Stirn und segnete mich. Ich habe die Worte noch im Ohr: Mögen Landorlin und Vendona dich behüten, Lyana. Möge das Glück dich begleiten auf deinen Wegen.“

„Du verstehst ihre Sprache?“ fragte Kat.

Lyana nickte. „Vater hat sie mir beigebracht. Wenn du ihnen später einmal, wenn du älter bist, begegnest, musst du ihre Sprache können, sagte er immer.“

„Wie sind sie - diese Herren der Wälder im Süden?“ wollte ich wissen.

Lyana überlegte. „Wie soll ich sie beschreiben? Ich empfand in ihrer Nähe immer so ein Erschauern, als wären sie von einer Art unsichtbarem Glanz umgeben. Sie bewegen sich anmutig. Wenn sie lautlos durch den Wald streifen, sind sie kaum zu sehen zwischen Bäumen und Blattwerk, so sehr passen sie sich der Waldumgebung an. Sie sind hochgewachsen und schlank. Ihre Sprache erinnert an Gesang. Sie lieben Musik und singen gerne, aber ich habe sie dennoch immer als schweigsam und zurückhaltend empfunden.“

„Elben!“ rief Kat.

Lyana wiegte nachdenklich den Kopf. „Kann sein, dass sie die Quelle der Volksmythen von Elben und Feen sind. Sie selbst geben sich ganz verschiedene Namen, je nachdem, zu welcher Familie sie gehören.“

Bei Lyanas Beschreibung der Waldherren hatte ich aufgemerkt. Ich betrachtete sie, wie sie in ihrer Lederkleidung vor dem Kamin saß - schlank, beinahe zierlich, dabei wendig und anmutig. Wenn Lyana über unwegsames Gelände lief oder auf einen Felsen sprang, lag eine Leichtigkeit in ihren Bewegungen, gegen die jeder andere Mensch plump wirkte. Und bei all ihrer stillen Zurückhaltung liebte auch sie die Musik. Ein Gedanke fuhr mir durch den Kopf.

„Lyana, kannst du dich daran erinnern, wie deine Mutter war?“

„Nein,“ sagte sie traurig. „Ich habe überhaupt keine Erinnerungen an sie.“

Mit einem Mal sah sie mich überrascht an.

„Nein, das glaube ich nicht,“ murmelte sie. „Das ist ganz unmöglich.“

Was glaubst du nicht?“ wollte Kat wissen.

„Ach nichts, ich hab nur laut gedacht.“ Lyana schüttelte ihre dunkelblonden Locken, wie um einen lästigen Gedanken loszuwerden. „Leif, erzähl doch nochmal, wie ihr damals im Sturm beinahe gekentert seid, an dem Morgen, bevor ihr Zosimo kennengelernt habt. Das hast du vorhin nur angedeutet.“

Ich erzählte. In der warmen Stube, zurückgelehnt in die Polster der Lehnsessel vor dem knisternden Kaminfeuer durchrieselten mich wohlige Schauer, während ich von eisigem Wasser, Sturm, zerreißenden Segeln und den Angstschreien der Männer auf dem Kutter berichtete.

***

Als wir spät am Abend zum zweiten Stock hinaufstiegen, nahm Kat mich an der Hand. Wir wünschten Lyana eine gute Nacht, gingen in unser Zimmer, entzündeten die Kerze und zogen uns aus.

Kat legte sich neben mich und schaute mich an, auf ihren Arm gestützt. Mit der anderen Hand strich sie mir über die Brust.

„Tut mir leid wegen gestern Abend - ich war so furchtbar wütend wegen Sven,“ sagte sie leise.

Ich spielte mit der Hand in ihrem Haar.

„Klar,“ meinte ich zögernd. „Versteh' ich schon...“

Ich hoffte, es klang glaubwürdig.

„Ich hab die ganze letzte Nacht wach gelegen und gewartet, dass du endlich mal wach wirst. Gegen Morgen wurde es mir zu dumm.“

Ich schluckte. „Kat, es tut mir leid, ehrlich. Es... ich...“

„Ach, lass doch,“ flüsterte sie und tastete mit den Fingern meine Gesichtszüge nach.

Sie schien etwas sagen zu wollen und setzte ein paar Mal an, sagte dann aber doch nichts.

„Hm?“ Ich sah sie fragend an.

„Sag mal, Leif...“ sie zögerte, „...zwischen dir und Lyana, ist da was?“

„Also weißt du - es ist so...“ verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten.

Sie schaute mich an. „Du kannst es mir ruhig sagen.“

„Nein, nichts von der Art, Kat. Es ist... als Ligeia sie in der Nacht nach dem Kampf im Kloster oben im Gebirge vor dem Verbluten rettete, da musste ich mein Blut geben, damit Ligeia sie am Leben halten und heilen konnte. Sie hat Lyana mein Blut zu trinken gegeben. Seither ist es, als wären wir Blutsverwandte, weißt du? Wir haben es beide erst nachher bemerkt. Wir sind nicht verliebt in einander oder so, das ist es nicht – es ist eher, als wären wir Geschwister.“

Insgeheim zweifelte ich an dem, was ich Kat beteuerte.

„Ach so...“ Kat sah nachdenklich vor sich hin. „Ich hatte mir schon Gedanken gemacht.“

Sie unterdrückte ein Gähnen. „Heute bin ich müde.“

Dann lächelte sie mich zärtlich an. „Aber so müde nun auch wieder nicht... wie fühlst du dich?“

Ich zog sie zu mir heran und küsste sie. Wir klammerten uns aneinander, als fürchteten wir, wir könnten einander entrissen werden. Kat schluchzte, und als ich in sie eindrang, gab sie sich mir leidenschaftlich, beinahe verzweifelt hin. Aber obwohl sie sich fest an mich presste, hatte ich den Eindruck, sie dächte die ganze Zeit über an Sven und daran, dass sie ihn verloren haben könnte.

Die Meergeborenen

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