Читать книгу Die Meergeborenen - Thomas Hoffmann - Страница 6
4.
ОглавлениеAm nächsten Vormittag ließen wir uns von Totter unser Geld auszahlen. Mit bleierner Miene führte der Turmverwalter uns in eine fensterlose Schreibstube im Tordurchgang. Er entzündete eine Kerze und schloss einen Wandschrank auf. Auf einem Regal standen Rechnungsbücher mit Eintragungen über den Weinhandel der letzten Jahre. Der Verwalter zahlte uns jedem sechs Silberlinge auf die Hand. Kat prüfte das Prägebild. Es war gute kaiserliche Münze. Wir mussten dem Greis den Empfang der Münzen in seinem Kassenbuch quittieren. Kat schrieb ihren Namen hinter die Empfangsbestätigung. Lyana, Sven und ich malten ein Kreuz.
In der Halle zahlte Kat mir die zwei Silberlinge zurück, die ich ihr für die Wirtin in Lüdersdorf gegeben hatte, damit sie ihre Stieftochter nicht mehr als Dirne verkaufen sollte, und bezahlte mir den Mantel, den ich in Grobenfelde für sie gekauft hatte. Ich gab Lyana die zwanzig Kreuzer wieder, die ich dem Kätnerpaar am Fuß der Nordberge für ein neues Böckchen gegeben hatte.
Anschließend suchten wir unseren Dienstherrn auf. Wir wollten um Erlaubnis bitten, uns mit Waffen und Rüstzeug aus den Waffenkammern auszustatten. Wir fanden Zosimo in seinem Studierzimmer über das „Buch der Historien“ gebeugt. Als wir ihm sagten, wir wollten vor dem Aufbruch den Umgang mit den Waffen üben, erklärte er sich bereit, uns in die Waffenkammern zu führen.
„Wir können den direkten Weg hinunter nehmen,“ meinte Zosimo. Er trat auf die Wandkarte zu. „Ihr habt den Geheimgang ja ohnehin bereits entdeckt.“
Im Verbindungsraum im zweiten Stock stellte er die zwei heruntergezogenen Hebel hoch.
„Diese Hebel bedienen die Falltüren an den Zugängen zum Lagergeschoss,“ erklärte er. „Dieser dort entsichert die Falltür vor der Treppe zur Bibliothek und die beiden letzten die Ausgänge des Treppenhauses im unteren Keller, und zwar zur Ahnenhalle und vor der Geheimpforte zu den Vorratsspeichern. Vielleicht ist es nicht falsch, wenn ihr euch mit den Verteidigungsvorrichtungen auskennt. Wer weiß, was noch auf uns zukommt.“
Während wir hintereinander die Wendeltreppe hinabstiegen, fragte ich den Burgherrn, ob er Geisterspuk von Meergeborenen im Turm bemerkt habe. Er verneinte. Das einzige Gespenst, das er je in der Burg gesehen habe, sei der Geist seiner Mutter gewesen.
Zosimo erklärte, die Geheimtreppe sei beim Bau des Turms angelegt worden, um den Verteidigern Zugang zum Brunnen, Waffen und Lebensmittelvorräten zu geben, wenn die unteren Geschosse von Belagerern eingenommen wären.
„Der Turm ist so gebaut, dass jedes Stockwerk einzeln verteidigt werden kann.“
Ich begriff, warum es kein durchgehendes Treppenhaus gab. Die engen Wendeltreppen zwischen den Geschossen konnten von oben gut verteidigt werden. Zosimo erklärte weiter, aus dem geheimen Lagergeschoss führe ein Fluchtweg zur Grotte unter dem Turm, so dass die Verteidiger sich im Fall, dass der Turm aufgegeben werden musste, mit dem in der Grotte liegenden Boot in Sicherheit bringen konnten.
„Das heißt, wenn man von unten kommt, muss man gar nicht durch das Labyrinth, um in den Turm zu gelangen?“ rief Kat.
„Nein,“ rief Zosimo von unten zurück. „Es gibt eine gut getarnte Geheimtür hinter der Eingangspforte.“
Im niedrigen Gang am Fuß der Treppe legte Zosimo die Hand an die Tür gegenüber dem Seitengang. „Die Pulverkammer. Aber ich denke mal, für Bomben, Musketen oder Arkebusen habt ihr keine Verwendung.“
Er zeigte den Nebengang hinunter. „Dort geht es zum Proviantlager und zu einer Öffnung zum Brunnenschacht. Und dort ist auch die Treppe zum Ausgang.“
„Wenn Belagerer in die Burg eingedrungen sind, können sie den Brunnen vom Erdgeschoss her vergiften,“ wandte Kat ein.
Zosimo grinste listig. „Der Brunnenschacht lässt sich durch eine mechanische Vorrichtung verschließen. Der Zugang zum Maschinenraum ist ebenfalls dort hinten.“
Während wir den Gang hinabgingen meinte Kat zu Lyana: „Hier sind wir mit Totter vor der letzten Fahrt gewesen, erinnerst du dich?“
Der Burgherr schloss die Waffenkammer auf und wir betraten das Gewölbe.
„Mit diesen Waffen kann man eine halbe Armee ausrüsten,“ staunte Sven.
Zosimo nickte. „So ist es auch gedacht.“
Ich suchte mir einen nicht zu schweren Rundschild und fand einen spitzen Metallhelm, der mir passte. Sven suchte sich einen ähnlichen Helm aus. Auch Kat probierte einige Helme durch.
„Die sind alle so schwer,“ fand sie.
Endlich entschied sie sich für einen Metallhelm. „Den trage ich bestimmt nur, wenn es unbedingt notwendig ist.“
Lyana spannte einige der kleinen Bögen auf und probierte sie durch.
„Das sind Kriegsbögen. Auf mittlere Distanz haben die eine ziemliche Durchschlagskraft. Aber als Jagdbögen sind sie kaum zu gebrauchen.“
Sie reichte Kat einen Bogen. „Nimm den. Er ist sehr sauber gearbeitet.“
Anschließend füllte sie zwei Köcher mit Pfeilen.
„Willst du keinen Helm oder Schild?“ fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf. „So was behindert mich nur. Ich bin Waldläuferin, keine Kämpferin.“
Zosimo kniff die Augen zusammen, während Sven an den Ständern mit Kettenhemden entlangging. „Da brauchst du gar nicht zu gucken. Kettenpanzer gebe ich nicht heraus.“
Sven wandte sich zu Zosimo um. „ Mit meinem Zweihänder kann ich keinen Schild tragen. Da würde ich gerne ein Kettenhemd haben, Herr.“
Der Zwergenkrieger lief rot an. „Bist du übergeschnappt? Weißt du, was so ein Kettenhemd kostet?“
„So viel wie ein kleines Rittergut. Ich würde dafür bezahlen.“
„Was soll das heißen, bezahlen? Wann willst du jemals so viel Geld zusammenbringen, um einen Kettenpanzer bezahlen zu können?“
„Nicht mit Geld, Herr. Ich habe Fortschritte in der Waffenmagie gemacht. Unterwegs sind wir einem Meister dieser Lehre begegnet. In sieben Tagen schmiede ich euch eine Waffe, die besser ist, als eure jetzige. Der Waffenstahl in Eurer Schmiede ist sehr hochwertig.“
Zosimos Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Du willst eine bessere Waffe schmieden, als meinen Zweihänder? Ich glaube, da überschätzt du dich gewaltig.“
„Wartet es ab, Herr,“ meinte Sven. „Am Morgen unseres Aufbruchs ist die Waffe fertig. Soll es wieder ein Zweihänder werden?“
„Sicher, ein Zweihänder. Aber es wird dir nicht gelingen. Wenn doch, kannst du das Kettenhemd haben.“
***
Am Nachmittag gingen Lyana, Kat und ich auf die Ebene hinaus, um zu üben. Im Umgang mit dem Schwert war Kat unsere Lehrmeisterin. Es war unmöglich, ihre schnellen Schläge abzufangen. Der Schild nützte mir gar nichts gegen ihre Angriffe.
Es brauchte kaum einen Atemzug, bis Kat ihr Schwert sinken ließ, meinen erhobenen Schwertarm nicht mehr beachtete, und grinste: „Du wärst längst tot. Hast du nicht gemerkt, dass ich unter dem Schild durchstechen konnte?“
Später übte Kat unter Lyanas Anleitung Bogenschießen. Ich legte Helm und Schild ab, ging ein paar Schritte abseits und beobachtete den Wind in den kahlen Ästen der Bäume am Waldrand. Ich dachte an Ligeias Worte.
Wind ist Bewegung. Das aufwärts Steigende, Leichte, Bewegende in allen Dingen – so elementar wie das Feuer, die Wärme...
Ich schloss die Augen und sammelte mich.
Bewegung. Die aufwärts treibende Kraft. Tahorved!
Ich öffnete sie wieder. Ich spürte ein leichtes Kribbeln im Kopf, als zehn Schritt vor mir die Grasdecke aufriss und Erdbrocken in die Luft wirbelten. Mir stockte der Atem, als die Brocken rings umher zu Boden fielen. Ein flache Mulde blieb in der Wiese zurück.
***
Beim Abendessen erzählte Sven mit leuchtenden Augen von den ersten Handgriffen zu seinem Vorhaben, eine magische Waffe zu schmieden, wie er noch nie eine hergestellt hatte. Nach dem Essen ging er in die Schmiede. Lyana, Kat und ich setzten uns vor den Kamin.
Kat schob ihren Lehnstuhl an meinen heran und lehnte ihren Kopf auf meine Schulter. „In sechs Tagen müssen wir wieder losziehen. Warum gönnt uns das Schicksal keine Ruhe?“
„Bei unserem letzten Aufbruch warst du froh, wieder unterwegs zu sein.“
„Vielleicht bin ich es in einer Woche ja wieder. Aber jetzt will ich zusammen mit euch hier bleiben können.“
Später in der Nacht lag ich neben ihr im Bett und sagte mir, ich müsste eigentlich glücklich sein. Hatte ich nicht immer davon geträumt, jede Nacht mit ihr zusammen zu sein, neben ihr einzuschlafen und mit ihr aufzuwachen? Ich hörte ihren leisen Atem an meinem Ohr. Wir hatten uns geliebt, wie an den vergangenen Abenden auch. Aber sie war in Gedanken nicht bei mir gewesen. Ich wusste, dass sie an Sven gedacht hatte. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, ihre Haut zu spüren. Und doch fühlte ich mich ihr so fern wie seit langem nicht mehr.
Mondlicht sickerte ins Zimmer und in meiner Magengrube machte Angst sich bemerkbar. In wenigen Tagen war Vollmond. Ich würde zu ihr gehen müssen. Ich hatte es Ligeia versprochen.
In der frühen Morgendämmerung wachte ich auf. Die Erinnerung an schlagende Wellen, Axthiebe und gurgelnde Schreie Ertrinkender hallte in meinen Ohren nach, wie jeden Morgen beim Erwachen. Ich setzte mich auf und versuchte, die Erinnerungen aus meinem Schädel zu schütteln. Kat schlief noch. Die Haare waren ihr im Schlaf übers Gesicht gefallen. Sie schnarchte leise. Ihre linker Arm lag quer über das Bett nach der Seite ausgestreckt, als suche sie dort jemanden.
Ich betrachtete sie still. Sie sah entspannt aus im Schlaf, aber unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Wie gerne hätte ich diese Schatten verscheucht, sie in die Arme genommen und gehalten, bis ihre Unruhe, ihre ständige Unzufriedenheit geschmolzen wären, hätte sie mitnehmen wollen weg von hier, weit weg - zu unbekannten Inseln, wo alles anders wäre, irgendwohin, in ein Land, wo die Menschen glücklich sind. Es war ihr Traum, von dem sie Sven und mir auf der Steilküste bei Brögesand erzählt hatte. Aber ich wusste, dass ich den Riss in ihrem Herzen nicht heilen konnte. Ich würde nichts tun können, als bei ihr zu sein, neben ihr auszuharren, da zu sein, wenn sie es brauchte. Aber würde ich sie jemals halten können? Würde sie nicht immer auf der Flucht sein? Konnte es noch einen Ort, eine Liebe geben, die ihr jemals genügen würden?
***
Als Kat und ich am nächsten Morgen unsere Waffen aus dem Zimmer holten, um zu trainieren, fragte sie mich: „Ist alles in Ordnung? Du machst einen so niedergedrückten Eindruck.“
Nichts war in Ordnung. Seufzend setzte ich mich aufs Bett.
„In ein paar Tagen ist Vollmond. Dann muss ich zu ihr - ich habe es ihr versprochen.“
Kat stand einen Moment reglos da. Dann setzte sie sich neben mich.
„Wenn ich dir nur helfen könnte...“
Unglücklich hob ich die Schultern. „Ich weiß mir ja selbst keinen Rat.“
„Ich könnte mitkommen. Vielleicht kann ich dir beistehen.“
„Das würdest du tun?“
„Ja.“
Langsam schüttelte ich den Kopf. „Nein, Kat, das geht nicht. Am Ende tut sie dir was an.“
„Ich komm' mit, wenn es dir irgendwie nützt. Ich hab keine Angst vor dem Tod. Wenn sie dich umbringt, dann...“
Ich nahm ihre Hände. „Ich liebe dich, Kat!“
Über ihr ernstes Gesicht huschte ein Lächeln.
„Ich glaube nicht, dass sie mich töten will. Wozu bringt sie mir sonst Magie bei? Sie hilft uns doch ständig. Ich muss eben lernen, ihr standzuhalten. Lyana hat recht, ich muss so starke magische Fähigkeiten entwickeln, wie möglich...“
Kat überlegte. „Wenn es so weit ist, können wir ja nochmal darüber reden, am besten zusammen mit Sven und Lyana.“ Sie verzog das Gesicht. „Letztes Mal hat sie uns kalt erwischt. Vielleicht fällt uns diesmal was ein, bevor sie uns überrumpelt.“
Ich hatte meine Zweifel. Aber ich nickte.
***
Als wir am Nachmittag vor dem Turm trainierten, kam Sven dazu. Er sah uns zu, wie Lyana und ich unter Katrinas Anleitung kämpfen übten.
Gerade meinte Kat zu Lyana: „Nein, so nicht. Du vergeudest nur deine Kraft und gibst dir eine unnötige Blöße, wenn du ihm auf den Schild drischst. Ich zeig's dir.“
Sie nahm ihr Schwert in beide Hände und stellte sich vor mir auf. „Greif an!“
Ich ging auf sie los, ihr Schwert sauste blitzend durch die Luft, ich wusste nicht, ob sie mich zuerst am Kopf getroffen oder mir den Magen aufgeschlitzt hätte oder beides zugleich geschehen war.
Frustriert warf ich den Schild zu Boden. „Wozu ist das Ding nütze, wenn man keine Schläge damit abfangen kann?“
„Wozu?“ fragte Kat. „Gib mir den Schild mal.“
Sie nahm den Schild und stellte sich auf. „Willst du angreifen oder soll ich?“
„Du!“
Ich konzentrierte mich. Sie stürmte auf mich los, ich riss mein Schwert hoch und wehrte ihren Schlag ab. Im selben Moment rammte sie mir den Schild in den Bauch.
„Uff!“ Ich ging zu Boden.
Kat half mir auf und gab mir den Schild zurück. „Ihr müsst das ja nicht gleich perfekt können. Ich will euch nur zeigen, womit ihr rechnen müsst. Nochmal: Die Hauptsache ist, selbst anzugreifen. Dem Gegner keine Zeit lassen. Ihn beschäftigt halten, bis er sich eine Blöße gibt, stolpert oder durcheinander gerät. Und dann sofort zuschlagen! Nicht andeuten oder drohen - sofort töten, mindestens kampfunfähig schlagen. Wenn er tot ist, seid ihr auf der sicheren Seite. Ein Verletzter, über den ihr hinwegsteigt, kann sich aufraffen und euch in den Rücken fallen. Klar?“
Lyana stand der Abscheu ins Gesicht geschrieben. „Ich hasse Kämpfen!“
„Du kannst das Kämpfen hassen, wann immer du willst,“ meinte Kat. „Nur nicht, wenn du kämpfst - oder du bist tot. Beim Kämpfen: nur kämpfen!“
Sven beobachtete Lyana und mich, während wir übten. Nach einer Weile begann er, Sprünge, Drehungen und Rollen durchzuführen. Er wirbelte herum und schwang seine Fäuste. Wir hielten inne.
„Alles in Ordnung, Sven? Geht's dir gut?“ wollte Kat wissen.
„Alles gut, Kat.“ Sven schnaufte vor Anstrengung. „Ich erklär' euch später, was das werden soll.“
***
Am Abend nach dem Essen ging Lyana in die Bibliothek. Sven zog sich in die Schmiede zurück. Kat fragte mich, ob ich einen Abendspaziergang machen wollte.
Wir schlenderten den schmalen Pfad die Küste entlang in Richtung Lüdersdorf. Kat legte ihren Arm um mich. Eine Weile gingen wir schweigend.
Irgendwann meinte ich: „Ich weiß, dass du traurig bist wegen Sven.“
Kat seufzte. „So ist es nun mal im Leben - man kann nicht alles haben. Das weiß ich doch auch.“
Sie blieb stehen. Während wir uns küssten, presste sie sich an mich und wühlte ihre Hände in meine Haare.
Eine kleine Ewigkeit später, als unsere Münder sich zögernd wieder von einander lösten, seufzte sie: „Ich bin so froh, dass ich dich habe, Leif - ich liebe dich so!“
Wir gingen weiter und ich nahm sie an der Hand. Über dem Horizont schob eine Wolkenbank sich vor die Sonne. Aus den flammenden Wolkenrändern brachen Sonnenstrahlen und sandten Lichtreflexe über die bleigraue See. Im kahlen Geäst des Waldes wurde der Himmel dunkel.
Vielleicht kommt ja doch alles hin.
Es war eine Hoffnung. Und diese Hoffnung hätte ich gegen nichts in der Welt eintauschen mögen.
„Übrigens habe ich in der Bibliothek in allen Geschichtswerken nachgeschaut, die den Nordwesten abhandeln,“ meinte Kat. „Es steht nirgends etwas über ein Halbaru oder eine Hauptstadt von Barhut. Der einzige, der das Königreich Barhut überhaupt erwähnt, ist Leonhard Knobloch. Und der schreibt nur, das Reich habe die Wetterberge und die Küstenregion nördlich davon bis zu den Hängen des Gebirges umfasst.“
„Halbaru kann überall gelegen haben - oder nirgends,“ sagte ich bitter.
„Hier herum ist nichts bekannt über eine Ruinenstadt,“ überlegte Kat weiter. „Es muss weiter nördlich gelegen haben.“
Es würde uns nichts übrig bleiben, als aufs Geratewohl die Küste hinaufzugehen in der Hoffnung, dass es sich bei den Ruinen auf der fernen Landzunge tatsächlich um Halbaru handelte.
Zwischen den Stämmen des Waldes wanderte eine Gestalt. Sie war in weite, dunkle Gewänder gehüllt. Ich blieb stehen.
„Kat...“ Meine Stimme war belegt.
Es war sie.
Ligeia kam uns durch den Wald entgegen. Ihre bloßen Füße fanden sicher ihren Weg zwischen Gestrüpp und am Boden liegenden Gezweig. Eine schwere Tasche aus Sackleinen baumelte an ihrer Schulter. Sie schürzte ihr Gewand bis zu den Knien, wenn sie über Äste stieg und während Kat neben mir „oh nein,“ murmelte, ertappte ich mich dabei, wie ich gebannt nach Ligeias schlanken Unterschenkeln schaute.
Sie kam vor uns auf den Weg heraus und warf sich mit einer schnellen Handbewegung die schwarzen Locken aus dem blassen Gesicht. Lächelnd trat sie auf uns zu.
„Hallo Leif.“ Sie lächelte mir zu, dann nahm sie Kat bei den Händen.
„Katrina! Wie geht es dir?“
Erstaunt stellte ich fest, dass die schmale, mädchenhafte Ligeia fast einen Kopf kleiner war als Kat. Auch bei meiner allerersten Begegnung mit ihr hatte sie auf mich gewirkt wie eine höchstens Sechzehnjährige. Kat stand wie zur Salzsäule erstarrt. Sie blickte Ligeia entsetzt an. Ligeia tat, als würde sie es nicht bemerken. Sie umarmte Kat und küsste sie auf den Mund.
„Ich habe ein Geschenk für dich, Katrina.“
„Ein Geschenk?“ stotterte Kat. „Aber wie...“
Ligeia ließ Kat los und holte ein speckiges Buch aus ihrer Leinentasche. Es sah sehr alt aus.
„Ich wollte es dir unbedingt bringen. Ich glaube, es wird dich interessieren.“
„Aber wieso... ich... das...“ Völlig überrumpelt blickte Kat abwechselnd auf das Buch, dann wieder auf Ligeia.
„Nimm es,“ lächelte Ligeia.
Kat nahm das Buch und schlug es vorsichtig auf. Sie wurde blass. „„Die hohe Kunst des magischen Heilens“ von Ägidius Mulbast!“
Sie sah Ligeia fassungslos an, die still lächelte.
„Das Buch ist seit Jahrhunderten verschollen,“ rief Kat. „Das letzte Exemplar soll vor zweihundertfünfzig Jahren bei einem Bibliotheksbrand im Kloster Schwarzbach verbrannt sein! Das... das ist von unschätzbarem Wert!“
Ligeia lächelte noch immer. Sie sah Kat schweigend in die Augen.
„Wo hast du das Zauberbuch her?“ flüsterte Kat mit angehaltenem Atem.
„Sagen wir - ein früherer Verehrer hat es mir vermacht,“ schmunzelte Ligeia. „Es ist deins - ich schenke es dir. Lies das Kapitel über die fortgeschrittenen Wundheilzauber. Ihr werdet es nötig haben.“
Sie nahm mich an der Hand. Kat starrte noch immer mit offenem Mund auf das Buch.
„Das mit dem Gral ist ja nun eine Katastrophe,“ meinte Ligeia. „Nun müsst ihr schon wieder hinausziehen.“
Kat sah sie verwundert an. „Woher weißt du davon?“
„Die Raben erzählen mir so manches,“ lächelte Ligeia.
Sie trat neben mich. „Katrina, ich möchte mir deinen Liebsten für heute Nacht einmal ausborgen. Du hast doch nichts dagegen? Nur diese Nacht. Morgen früh bringe ich ihn dir gesund zurück - versprochen!“
Kat schoss das Blut ins Gesicht. Sie sah Ligeia und mich in hilfloser Verwirrung an.
„Ligeia, ich weiß nicht...“ versuchte ich einzulenken, aber sie strich mir über den Arm und raunte: „Still, mein Liebster!“
Zu Kat sagte sie: „Es ist ja nur für heute Nacht. Morgen hast du ihn wieder.“
Sie hielt mich fest an der Hand und wandte sich zum Gehen. Nebel stiegen aus dem Wald auf.
„Bis morgen, Katrina!“
Kat sah mich verzweifelt an. „Leif...“
Aber ich konnte sie im Nebel nicht mehr ausmachen. Mit rasendem Herzen blickte ich Ligeia an. Ein Blick aus ihren dunklen Augen genügte. Mein Widerstandswillen sank in sich zusammen.
„Ligeia...“
Wir standen im dichten, feuchten Nebel. Ich strich mit der Hand über ihre schwarzen Locken. Sie schaute mich unbewegt an.
„Heute ist Vollmond, Leif,“ sagte sie leise.
„Heute? Ich denke, erst in ein paar Tagen!“
Mitleidig und liebevoll schüttelte sie den Kopf. „Leif, du Traumtänzer! Heute musst du mir helfen!“
***
Der Nebel verflog. Vor uns führte ein Pfad aus dem Weidendickicht auf die Lichtung der Moorinsel. Es war wärmer als an der Küste. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die Weiden rings um die Lichtung, in deren Kronen noch immer einige gelbe Blätter dem fortgeschrittenen Herbst trotzten. Die kleine Hütte mit dem bis fast an den Boden reichenden Reetdach warf einen langen Schatten über den dahinter liegenden verwilderten Garten. Weißer Rauch stieg aus dem Schornstein.
Ligeia brachte eine Teekanne und zwei Teeschalen an den Tisch vor der Hütte. Sie setzte sich mir gegenüber. Der Tee roch intensiv und wild. Er schmeckte bitter. Wärme rieselte durch meinen Körper. Während Ligeia an ihrer Teeschale nippte, deutete sie auf die Ziege, die angepflockt auf der Wiese weidete.
„Heute muss sie uns ihr Leben lassen.“
„Ich dachte, du liebst die Ziege - sie gibt dir jeden Tag Milch!“
„Und heute gibt sie mir ihr Leben...“
Ligeia blickte auf ihre Teeschale. „Letzten Vollmond warst du nicht da. Ich musste so einen armen Dorfburschen holen. Der Junge war völlig überfordert. Er starb mir unter den Fingern weg!“
Ein Anflug von Bitterkeit lag in ihrem Gesicht. „Dabei war er so hübsch.“
Ich konnte nicht antworten, meine Kehle war zugeschnürt. Ich wusste nicht, wo ich hinblicken sollte. Meine Hand, mit der ich die Teeschale hielt, zitterte. Ligeia nahm über den Tisch hinweg meine Hand und schaute mich mit dunklen Augen an.
„Ich werde dir beibringen, wie du deine Lebenskraft stärken kannst. Das Vollmondopfer wird dann weniger anstrengend für dich sein.“
Sie deutete auf die harmlos grasende Ziege. „Du wirst ihre Lebensenergie aufnehmen.“
Ich spürte, wie meine Nackenhaare sich sträubten. „Ligeia, das kann ich nicht. Ich will das nicht!“
„Du wirst es tun.“ Ihre Stimme klang fest. „Ich bringe es dir bei. Ich werde dich in die schwarze Magie einführen.“
„Ligeia, gibt es denn keinen anderen Weg? Das mit der Magie der Elemente ist ja völlig in Ordnung, aber...“
„Du wirst es bitter nötig haben, Leif. Nicht nur heute Nacht. Vor allem für das, was euch bevorsteht - dir und deinen Freunden!“
„Wieso, was steht uns denn bevor?“
Ihre schwarzen Augen durchdrangen mich. „Dort, wo ihr hingeht, ist es sehr dunkel, Leif. Ich möchte, dass du von dort zurückkommst - zu mir wiederkommst.“
„Ligeia, nein - ich werde das nicht tun!“
„Du wirst dich daran gewöhnen. Glaub' nicht, dass es nur dir so geht. Ich hatte Schülerinnen - junge, starke Frauen, verstehst du, nicht bloß Männer - die haben beinahe panisch reagiert beim ersten Mal, mit Weinkrämpfen und allem.“
Ich schluckte, während ich sie ansah. Sie hielt noch immer meine Hand.
„Du bist mein erster männlicher Schüler seit sehr langer Zeit,“ sagte sie leise.
Dann verschwand der unerbittliche Ausdruck aus ihrem Gesicht. Sie ließ meine Hand los und blickte nachdenklich zur Seite.
„Im Moment denkst du, irgendwann wirst du glücklich mit deinem Mädchen, das du liebst. Aber glaub' mir, Leif, Katrina hat ein unstetes, zerrissenes Wesen. Sie wird nicht bei dir bleiben. Sie bleibt bei keinem Mann für lange Zeit.“
Ich sah auf die Tischplatte nieder. Sollte sie reden, was sie wollte. Ich wusste, dass ich mit Kat Pferde stehlen konnte. Für ihre Freunde ging Kat durchs Feuer. Ligeia sah mich ernst an aus ihren großen schwarzen Pupillen.
„Jetzt willst du davon nichts wissen, aber es ist doch so, glaub' mir. Eines Tages lässt sie dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Als wäre nie etwas gewesen zwischen ihr und dir. Ich weiß es, Leif. Du wirst an meine Worte denken.“
Ich schwieg hartnäckig. Sie war eine Hexe. Und doch fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Verzweifelt sah ich sie an. Ligeia lächelte versöhnlich.
„Mein Liebster,“ hauchte sie sanft.
Sie schmunzelte. Dann blickte sie mich freundlich an. „Bis Mitternacht haben wir noch Zeit. Erzähl mir etwas über Lyana. Was für ein Wesen ist sie?“
Ich erzählte Ligeia von Lyanas Kindheit in den Wäldern im Süden, von ihrem Vater, der Waldläufer war, davon, dass sie sich an ihre Mutter nicht erinnern konnte und von den Herren der Wälder, die Kat für Elben hielt.
Als ich geendet hatte, meinte Ligeia: „Ich dachte mir so etwas.“
Ihre schwarzen Augen sahen mich unverwandt an, während sie raunte: „Sei ein bisschen vorsichtig mit ihr, Leif. Sie ist nicht von deinem Fleisch und Blut.“
Dann bat sie mich, zu erzählen, wie wir in das verborgene Gewölbe unter dem Labyrinth eingedrungen waren. Sie lachte hell über die Reaktion des Zwergs auf das Geschehen. Und sie lobte unsere Klugheit, uns nicht Hals über Kopf in ein neues Abenteuer zu stürzen.
Die Nacht brach herein und über den Kronen der Weiden stand der Vollmond. Ligeia brachte eine kleine Öllampe vor die Hütte. Dann kochte sie frischen Tee. Ich beobachtete unruhig den heller und heller werdenden Mond. Der Nachtwind strich über die Lichtung, aber ich spürte die Kälte nicht, sei es wegen Ligeias bitterem Tee oder wegen meiner ängstlichen Erregung.
Schon Vollmond! dachte ich, als Ligeia mit der Teekanne aus der Hütte kam. Habe ich mich wirklich so in den Tagen geirrt, oder ist das wieder so eine Hexerei von ihr?
Sie musste lachen, als sie sich neben mich an den Tisch setzte. „Was du mir alles zutraust, Leif!“
Ligeia rückte nah an mich heran. Ihr Oberschenkel berührte meinen. Sie bat mich, von unserer Wanderung durch die Berge nach der Flucht aus dem Kloster zu erzählen und während sie über Ereignisse lachte, die sie aus irgend einem Grund komisch fand, nahm sie meine Hand und streichelte meinen Unterarm. Ich stockte in meiner Erzählung. Ihre sanften Finger tasteten von meiner Ellenbeuge zum Handgelenk hinab. Sie sah mich verliebt an.
„Mein Süßer,“ flüsterte sie. „Erzähl weiter. Ich höre deine Stimme so gerne.“
Stockend erzählte ich. Sie lachte, wollte Einzelheiten wissen. Der Nachtwind wehte mir ihre duftenden Locken ins Gesicht.
Als der Mond hell über der Hütte stand, sagte sie: „Es ist Zeit, Liebster. Wir müssen hinaufgehen auf den Dachboden.“
***
Ligeia zerrte die sich sträubende Ziege mit ihrer erstaunlichen Kraft durch die Hütte in ihre Kammer hinter der Schilfgrastür und die Stableiter hinauf auf den Dachboden. Ich war mir sicher, sie hätte auch mich hochgeschleppt, hätte ich mich geweigert, selber hinaufzugehen. Sie hängte die von draußen mitgebrachte Öllampe an die Decke und band die Ziege an einem Dachsparren fest. Das Tier schäumte mit aufgerissenen Augen.
„Die Tiere spüren den nahen Tod,“ sagte sie, während sie mit einem Wink ihrer Hand die Kohlen in der Eisenpfanne auf den Bodenbrettern entzündete. „Sie fühlen Todesangst wie wir. Dabei stirbt sie gar nicht, auch wenn sie uns ihr Leben aushauchen muss. Ihr Leben geht weiter. Aber ein unverständiges Tier begreift das nicht.“
„Und der Junge, den du zum letzten Vollmond hier hattest, hat der es begriffen?“ keuchte ich.
Mir war speiübel.
Ligeia zuckte mit den Achseln. „Er hat es mir nicht gesagt. Geschrien und geheult hat er. Am Ende hat er nur noch gewimmert.“
Mit zärtlichem Verlangen blickte sie mich an. „Du hast nicht gewimmert, beim ersten Mal. Du hast mich nur so glasig angeguckt. Da war ich mir nicht sicher, ob du es überlebst.“
Sie nahm eine Handvoll geriebener Kräuter aus einer Tonschale und streute sie in die Flammen. Der beißende, weiße Rauch stieg mir zu Kopf und mit einem Mal spürte ich unbändiges Verlangen, diesen Rauch einzuatmen. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich ihn vermisst hatte! Mir war trieselig. Zugleich fühlte ich mich wacher und heiterer. Die Übelkeit im Magen verschwand. Im trüben Licht des Öllämpchens nahm ich alle Dinge plastischer und farbiger wahr. Irgendwie war alles schöner als vorher. Wie schön Ligeia war! Ihre schönen, dunklen Augen. Selbst der rostige Dolch, den sie zusammen mit anderen Gegenständen neben die Kohlenpfanne legte, war schön.
Ligeia schmunzelte. „An der Mischung sind Pilze. Du bist ihre Wirkung noch nicht gewohnt.“
Sie goss eine dunkle Flüssigkeit aus einem Tonkrug in eine Schale und hielt sie mir hin. „Trink. Du brauchst viel Kraft heute Nacht.“
„Ligeia, nicht, dass mich das betrunken macht oder berauscht, wie letztes Mal auf dem Hügel! Ich will meinen Willen behalten, hörst du?“
Sie lächelte zärtlich. „Du bist schon berauscht, Leif. Wir sind beide berauscht.“
Ihre dunklen Augen glänzten in wildem Verlangen. „Ich liebe den Rausch. Und ich liebe die Nacht - die Nacht mit dir!“
War es zu spät? Oder konnte ich noch fliehen? Vor ihr? Wohin?
Ihre blassen, geöffneten Lippen, ihr warmer Atem in meinem Gesicht... Diese abgründigen Augen...
„Trink, Leif,“ hauchte sie. „Du wirst es mögen!“
Ich kannte den Geschmack nach Blut, nach Moor und rostigem Eisen. Ligeia flüsterte magische Worte. Ein leichter Schwindel ergriff mich. Es währte nur einen Moment. Dann konnte ich freier atmen. Ich fühlte mich stark und leicht. Eine leichte Verwunderung ergriff mich. Irgendetwas war mir entfallen. Ein Gedanke - ein wichtiger Gedanke, den ich eben noch gehabt hatte. Er war fort, wie weggeblasen.
Ligeia gab mir den Dolch in die Hand. Sie band die Ziege los und zerrte ihren Kopf über die Glut. Das Tier starrte mich aus aufgerissenen Augen an. Ligeia nahm meine Linke und legte sie auf den Kopf des Tieres.
„Tu es, Leif!“
Da war der Gedanke wieder.
Den Dolch wegwerfen, ihr ins Gesicht schreien: Ich werde es nicht tun! Soll sie mich doch umbringen!
„Leif!“
Keuchend starrte ich Ligeia an. Meine Hand mit dem Dolch zitterte.
„Tu es, du Dummkopf!“
„Nein...“ Ich konnte es nur krächzen.
Die schwarzen Pupillen fixierten mich. Ein Wort explodierte in meinem Kopf. Alles drehte sich. Der rostige Krummdolch in meiner Hand - die zähe, ledrige Haut des Tiers unter dem Fell... endlich heißes, strömendes Blut, die Kohlenglut zischte, Qualm wallte auf - eine Welle wacher, kribbelnder Energie durchströmte mich. Ich spürte das zitternde Leben unter meiner linken Hand.
„Sprich mir nach!“ befahl Ligeia.
Langsam intonierte sie Zauberformeln. Mein Mund formte die seltsamen Worte nach. Ein wildes, jagendes Gefühl ergriff mich - wie Tanzen über nachtdunkles Land...
„Du musst den Zauberspruch auswendig lernen,“ sagte Ligeia.
Sie band die zuckende, verblutende Ziege mit den Hinterbeinen an die Dachsparren. Ich starrte auf den blutigen Dolch in meiner Hand. Blut tropfte von der Klinge in die Flammen. Ligeia fing das strömende Blut des Tiers in einer Schale auf und hielt sie mir entgegen.
„Du zuerst,“ sagte sie. Ihre Stimme zitterte vor Erregung.
Dunkle, liebende Augen voller Lebenslust. Schöne, blasse Lippen, die Worte formen konnten, die unaussprechlich waren für andere Menschen. Ihre jungen, schlanken Hände reichten mir den Kelch mit dem Saft des Lebens - wir würden leben, Ligeia und ich, leben und uns lieben, in ekstatischen Tänzen die Heiligkeit des Lebens und ewiger Jugend feiern.
Das warme Blut in der Schale schmeckte süß. Ich trank in langen Zügen. Ligeia nahm mir die Schale ab und setzte sie mit zitternden Händen an die Lippen. Blut lief ihr die Mundwinkel herab und sie lachte mich an mit blutigem Mund, ein helles, heiteres Lachen. Wir füllten die Schale erneut und berauschten uns an dem pulsierenden Leben, das durch unsere Glieder strömte. Ligeia nahm mich in die Arme und tanzte mit mir um die Kohlenglut. Sie jauchzte, als ich sie lachend herumschwang und ihren leichten, mädchenhaften Körper an mich drückte.
Mit einer raschen Bewegung stieß sie die Lampe von der Decke und das Licht erlosch. Nur die Kohlen glühten schwach in der Dunkelheit. Ich spürte ihren schnellen Atem an meinem Ohr, als sie mir Jacke und Hemd vom Körper riss. Ihr Mund bedeckte meine Brust mit Küssen. Sie krallte die Hand in meinen linken Arm. Ich fühlte nur Verwunderung und eine leichte Erregung, als die Dolchklinge über den Boden schabte, während Ligeia ihn aufnahm.
Der Schmerz, der meinen Unterarm entlangfuhr, war bittersüß. Ich spürte warmes Blut über meine Hand strömen. Ligeia presste ihre Lippen gegen die offene Wunde. Sie keuchte leise, während sie das Blut aus der Wunde saugte. Ich spürte nichts, als die weiche Berührung ihres Mundes. Zärtlich fuhr ich ihr mit der anderen Hand durchs Haar. Ich hätte mir den Dolch ins Herz gestochen, um ihr mein Herzblut zu trinken zu geben, wenn sie es verlangt hätte. In der Schwärze des Dachbodens fühlte ihr Haar sich zwischen meinen Fingern an wie Spinnweben. Sie trank lange an der Wunde. Irgendwann wurde mir schwindlig. In meinen Ohren begann es zu rauschen und ich kam ins Schwanken. Übelkeit stieg aus meinem Magen hoch. Dann schwanden mir die Sinne.
***
Als ich zu mir kam, lag ich auf der Bettstatt in Ligeias Kammer. Es war heller Tag. Ligeia war nicht da. Über mir schaukelten die Schrumpfköpfe ihrer früheren Geliebten im Luftzug. Ich hatte Kopfschmerzen und mir war übel. Mein linker Arm schmerzte. Er war verbunden. Es war kein Alptraum gewesen! Aber so sehr ich mein Gedächtnis anstrengte, ich hätte nicht sagen können, welche der Erinnerungen an die vergangene Nacht Wahnträume waren, hervorgerufen vom Rauschfieber, und was sich wirklich ereignet hatte.
Vorsichtig setzte ich mich auf. Alles drehte sich um mich. Der Kopfschmerz nahm zu.
„Oh verdammt!“
Ich fühlte mich verkatert wie nach einem vollen Krug Branntwein. Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett lagen mein Hemd und meine Wolljacke. Daneben stand ein kleines Tonfläschchen. Es sah aus wie die Fläschchen, die Ligeia für Medizin verwendete. Ich kannte den Geruch. Es war ihr schwarzmagisches Stärkungsmittel. Ich trank einen großen Schluck. Die Kopfschmerzen nahmen ab und die Übelkeit verging. Stöhnend zog ich Hemd und Jacke über und versuchte, aufzustehen.
Es ging. Ich war nicht so krank und schwach, wie ich erwartet hatte. Ich ging zur Kammertür und öffnete sie. Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterluken fiel Sonnenlicht. Ligeia war nicht zu sehen. Über der Herdstelle köchelte ein Topf mit Getreidegrütze. Ich nahm mir eine Schale vom Sims des Rauchabzugs und füllte sie mit Grütze. Mit der Schale in der Hand trat ich vor die Hütte.
Ligeia saß auf der Bank vor der Hütte. Sie hatte die Füße ausgestreckt, ihr gerafftes Kleid bedeckte die schlanken Beine kaum bis zu den Knien. Sie lehnte mit geschlossenen Augen an der Hüttenwand in der Morgensonne, eine Teetasse in den Händen. Als ich die Stufen von der Hüttentür hinaufkam, blinzelte sie mir entgegen.
„Guten Morgen, junger Schwarzmagier! Wie geht es dir, mein Liebster?“
„Ich hab Kopfschmerzen, mir ist schwindlig und schlecht und mein linker Arm schmerzt teuflisch!“
Ich ließ mich neben ihr auf die Bank fallen. Ligeia fuhr mit der Hand zärtlich durch mein Haar. Sie sah mich glücklich an.
„... und ansonsten machst du einen ganz munteren Eindruck!“
„Munter ist anders,“ brummte ich.
Ich löffelte missmutig meine Grütze.
Ich will das nicht. Ich will kein Schwarzmagier sein.
„Nun sei mal nicht so griesgrämig. Das Leben ist so schön!“ neckte Ligeia. „Möchtest du eine Tasse Tee - oder soll ich dir einen Kaffee kochen? Du magst morgens Kaffee lieber als Tee, nicht wahr?“
Seufzend ließ ich den Löffel in die Schale fallen.
Ich geb's auf!
Ich stellte die Schale weg, riss sie an mich und küsste sie. Nach dem Kuss hielt sie mich an sich gedrückt, flüsterte „noch einmal!“ und presste ihren Mund erneut auf meine Lippen.
Schließlich machte sie sich sanft los und stand auf.
„Ich koche dir den Kaffee und dann machen wir uns auf den Weg. Wenn wir nicht zu sehr trödeln, kommen wir noch rechtzeitig zum Frühstück beim Turm an.“
Bevor wir aufbrachen, ließ sie mich die Zaubersprüche wiederholen, die sie mir in der Nacht vorgesagt hatte.
„Es ist wichtig, dass du die Sprüche beherrschst. Wenn ihr aufbrecht, gebe ich dir Ritualgeräte und Kräuter mit. Die Zeremonie steigert nicht nur die Lebenskraft. Sie lindert auch Folgen von Verletzungen und gibt schnelleres Reaktionsvermögen. Je nach Größe des Opfertiers hält die Wirkung kürzer oder länger an.“
„Ligeia, wir ziehen doch nicht in die Schlacht - wir wollen in einer Ruinenstadt irgendwo im Norden nach diesem Kultgefäß zu suchen.“
Sie sah mir still in die Augen und strich mir sanft und nachdenklich übers Haar.
***
Sie begleitete mich nach Dwarfencast zurück. Hand in Hand gingen wir aus dem Nebel über die Ebene und an der Pferdekoppel vorbei zur Brücke. An der Brücke sah ich sie erstaunt an.
„Du willst mit hineinkommen?“
„Warum nicht? Es stimmt, ich mag dieses Gemäuer nicht. Aber heute mache ich eine Ausnahme.“
Im Saal im ersten Stock saßen Sven, Kat und Lyana beim Frühstück. Als wir hineinkamen, blickten sie uns überrascht entgegen. Kat sprang auf.
„Guten Morgen!“ rief Ligeia fröhlich. „Katrina, ich bringe dir deinen Liebsten zurück!“
Sie fasste mich an den Schultern und drehte mich um mich selbst wie ein zum Verkauf stehendes Kleidungsstück.
„Gesund und wohlbehalten - wie versprochen!“ lachte sie.
Ohne Ligeia zu beachten, stürzte Kat auf mich zu und nahm mich in die Arme.
„Leif!“ schluchzte sie. „Was hat sie mit dir gemacht?“
„Ich glaube, sie hat mich initiiert.“
Kat sah mich alarmiert an.
„Es geht mir gut, Kat.“ Mit verzerrtem Lächeln zeigte ich ihr den verbundenen Arm. „Die übliche Sache - nichts Schlimmes.“
Ligeia stand schmunzelnd neben uns. Kat warf ihr einen hasserfüllten Blick zu.
Zu mir sagte sie: „Ist wirklich alles in Ordnung?“
„Ein bisschen Kopfschmerzen habe ich noch - wir haben Rauch von Rauschpilzen eingeatmet.“
Kat ging mit mir zum Tisch. „Eigentlich will ich gar nicht wissen, was für blutige Orgien ihr gefeiert habt,“ murmelte sie.
Ligeia setzte sich zu uns. Sie nahm die Tasse, die an meinem Platz stand, goss sich Kaffee ein, nahm einen Schluck und stellte mir die Tasse hin.
„Hast du in das Buch geschaut, das ich dir gegeben habe, Katrina?“ fragte sie.
„Nein. Mir war diese Nacht nicht nach Lesen.“
„Sieh mal an,“ schmunzelte Ligeia. „Katrina aus Rodewald ist eifersüchtig!“
Kat antwortete nichts. Sie starrte wütend auf ihren Teller. Ligeia nahm sich ein Stück Brot und schnitt sich eine Scheibe Schinken ab.
„Sven, du verstehst dich doch auf Waffenmagie? Welche Zaubersprüche verwendet ihr, um euch das Eisen gefügig zu machen?“
Sven sah sie verblüfft an. „Das kommt darauf an, in welchem Arbeitsgang sich der Stahl befindet.“
Während die beiden über Formulierungen von Zaubersprüchen fachsimpelten, tauschte ich abwechselnd Blicke mit Kat und Lyana. Kat legte mir stumm die Hand auf den Arm. Einen Moment sah es so aus, als würde Lyana in Tränen ausbrechen, aber sie biss sich auf die Lippen und setzte ihre ungerührte Miene auf.
Eine halbe Stunde später stand Ligeia auf. „Ich wünsche euch einen schönen Tag. Übt fleißig! Wer weiß, was euch alles begegnet auf eurer Fahrt.“
Sie sah Kat beinahe schuldbewusst an. „Sei mir nicht böse, Katrina - bitte! Lerne die Heilzauber. Es ist wichtig.“
Im Gehen drückte sie mir das Tonfläschchen in die Hand, das frühmorgens auf dem Tisch neben ihrem Bett gestanden hatte. „Wenn dir nicht wohl ist, nimm einen oder zwei Schluck. Aber ich glaube, du wirst es gar nicht mehr brauchen."
Sie beugte sich zu mir herunter, strich sich die Locken aus dem Gesicht und küsste mich zärtlich auf den Mund.
„Bis bald, Liebster,“ flüsterte sie.
Kat atmete auf, als sie zur Tür hinaus war. Sven starrte gedankenverloren vor sich hin.
„Hwaerholdet kergaran - “ murmelte er, „ - nicht hwaerhaldet kergaran, wie Wieland gemeint hat. Ich glaube, sie hat recht...“
Ich blickte die beiden Frauen hilflos an. „Was hätte ich denn tun sollen? Ich hab versucht, mich zu wehren, ehrlich!“
„Ich weiß,“ meinte Lyana leise.
Kat warf ihr einen erstaunten Blick zu.
„Sag mal, Leif,“ meinte Sven nachdenklich, „du hast uns erklärt, in die Burg können nur Leute hineingelangen, die dem Burgherrn wohlgesonnen sind, keine Feinde - weil die magische Verteidigung sie nicht hereinlässt.“
„Das stimmt...“ murmelte Kat.
Wir sahen uns verwundert an.
„Also ist diese Ligeia kein Feind - sondern ein Freund?“ fragte Sven.
„Es scheint fast so,“ meinte ich zögernd.
Lyana blickte skeptisch. „Jemand, der dem Burgherrn nicht direkt schaden will, ist noch lange kein Freund.“
„Sie hat mir ein Ritual beigebracht, das meine Widerstandsfähigkeit im Kampf erhöht,“ sagte ich. „Sicher, es war... auf eine Weise...“ ich suchte nach Worten, „...ja, es war grausig. Aber sie scheint sich Sorgen zu machen wegen Dingen, die uns auf der Fahrt begegnen könnten. Sie sagte, ich hätte den Zauber bitter nötig... Obwohl ich ihn vermutlich nie anwenden werde,“ ergänzte ich mit einem schnellen Blick auf Lyana.
„Sie hat dich verletzt!“ rief Kat. „Warum tut sie das, wenn sie uns helfen will? Wie passt das zusammen?“
„Es ist doch offensichtlich,“ warf Lyana ein. „Sie ist so uralt, dass ihre Lebenskraft längst verbraucht ist. Sie kann nur durch das Lebensblut anderer Wesen weiterleben. Wenigstens einmal im Monat braucht sie Menschenblut!“
Was Lyana sagte, war mir längst klar. Und dennoch wollte ich es nicht wahrhaben.
„Um mein Blut zu bekommen hätte sie mich einfach umbringen können, wie... wie andere auch - aber sie unterstützt uns doch, oder nicht?“
Lyana sah mich nachdenklich an. Aber sie schwieg mit einem Seitenblick auf Kat.
„Sie will den Gral,“ murmelte Kat. „Sie will ihn selber haben. Das ist die Lösung des Rätsels!“
Alle vier sahen wir uns erschrocken an.
„Was will sie mit dem Zwergending?“ wollte Sven wissen.
Kat zuckte mit den Schultern. „Die Macht, die der Karrak verleiht - das Weisheitselixier - was weiß ich! Wahrscheinlich forscht sie schon genauso lange nach dem Kultgefäß wie Zosimos Ahnen. Und ohne, dass die auch nur die leiseste Ahnung davon hätten.“
Sven sah abwechselnd Kat, Lyana und mich an.
„Und wem dienen wir jetzt?“
„Zosimo,“ meinte ich. Und etwas leiser ergänzte ich: „Und Ligeia.“
***
Als wir vom Frühstück aufstanden, knuffte mir Sven mit der Faust gegen den Oberarm.
„Bau keinen Mist, hörst du!“
Ich lächelte tapfer. „Ich pass' auf mich auf.“
Lyana warf mir einen langen Blick zu, aber als Kat mich in die Arme nahm und an sich drückte, drehte sie sich um und verließ den Saal.
„Ich hab solche Angst um dich gehabt,“ flüsterte Kat.
Ich legte meine Arme um sie. Lange standen wir und umarmten einander. Ich wollte ihr gerne etwas Mut Machendes sagen, ihr versichern, dass sie sich um mich, um uns beide keine Sorgen zu machen brauchte, aber mir fiel nichts ein.
Endlich sagte sie: „Lass mich deine Armwunde sehen.“
Vorsichtig wickelte sie den Verband ab. Die Wunde heilte bereits ab. Kat betrachtete sie genau.
„Sieht so aus, als wenn Ligeia ihre Heilpaste angewendet hat.“
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich nicht wusste, wie Ligeia die Wunde behandelt hatte. Aber das wollte ich Kat nicht sagen.
„Ich glaube, es liegt an dem Stärkungsritual, das sie mir beigebracht hat. Es beschleunigt die Wundheilung.“
Kat sah mich schmerzlich an. „Wenigstens scheint sie dich nicht umbringen zu wollen.“
***
Später am Tag wanderte ich allein die Küste hinauf. Kat und Lyana übten Bogenschießen und Schwertkampf. Ich hatte ihnen gesagt, für Übungskämpfe fühlte ich mich zu schwach, ich wollte stattdessen das Beherrschen des Windes üben. Mir war tatsächlich nicht gut. Immer noch hatte ich Kopfschmerzen und mir war flau im Magen. Vor allem jedoch wollte ich allein sein. Ich war aufgewühlt und hatte ein schlechtes Gewissen. Die Szenen der vergangenen Nacht standen mir überdeutlich vor Augen. Das waren keine vom Rausch hervorgerufenen Einbildungen. Ich hatte mit ihr das Blut des verendenden Tiers getrunken, ich hatte mit ihr getanzt, ich hatte ihr mein Blut zu trinken gegeben. Und - ich presste stöhnend die Hände gegen den Kopf - ich hatte es genossen. Noch die Erinnerung daran war erregend.
Ich muss das loswerden! Ich muss von ihr wegkommen! Gibt es denn keine Macht der Welt, die mich vor dieser Zauberin retten kann?
Weiter vorn an der Abbruchkante der Steilküste neigte sich der Findling über den Rand. Hier war es gewesen: Hier war sie mir zuerst im Traum erschienen. Bei diesem Stein hatte ich sie das erste Mal umarmt, hier hatte sie mich an der Hand genommen und hatte mir beigebracht, das Feuer zu beherrschen. Hier hatten wir den ersten Kuss getauscht. Gedankenverloren blickte ich über die Ebene zu den Hügeln hinüber. Der Nordwind bog die Grashalme und zerrte an den Zweigen kahler Büsche.
Ligeia... Vom ersten Moment an hatte ich mich in sie verliebt, war für sie entbrannt in einer dunklen, sinnlichen, schmerzhaften Liebe, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte...
Ein paar verspätete, braune Blätter wurden vom böigen Wind über das Land getrieben. Ich folgte ihrem jagenden Kreiseln mit den Augen.
...und wie bittersüß ihre Liebe war, schmerzhaft süß.
„Tahorved!“ murmelte ich.
Ein Windstoß drückte das Gras flach und jagte die Blätter vor sich her. Ich fixierte den Grasboden mit den Augen und flüsterte das Zauberwort erneut. Gras- und Erdbrocken flogen auf und wurden von der Sturmbö weggeschleudert.
Ich kann es!
Es was so einfach. Ich musste mich nur von ihr leiten lassen! Auf einmal überkam mich ein überströmendes Gefühl von Lebenslust. Eine Welle schäumender Energie durchflutete meinen Körper, bis in die Fingerspitzen hinein spürte ich kribbelndes, pulsierendes Leben. Lachend breitete ich die Arme aus, atmete den kühlen, feuchten Wind. Überall um mich her war Wind, war Freiheit und Bewegung, Wärme, Leben. Jauchzendes, lockendes Leben.
Und war es nicht Ligeia, die mir beigebracht hatte, das zu erkennen? Es zu spüren, mit allen Fasern meines Seins zu leben, zu lieben? Es war wie ein Rausch. Alle Dinge um mich her traten deutlich hervor, die kargen Büsche, das windgepeitschte Gras, die grauen Hügel. Jede Einzelheit war bedeutsam, war schön. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich es wollte. Ich wollte ihr Freund sein - ihr Geliebter - ihr Schüler. Ich würde mit ihr leben - mit ihr tanzen und feiern, würde an ihrer Seite die Magie des Lebens ausloten, mit ihr gemeinsam tiefer und tiefer eindringen in die Geheimnisse des Lebens.
Ich war ihr Lehrling - ihr Liebster - ich war Schüler der schwarzen Magie.
***
Auf dem Rückweg zum Turm dachte ich mit leichtem Unbehagen an die Gefährten. Ich würde es ihnen sagen müssen. Ich musste Kat begreiflich machen, dass es nichts zu bedeuten hatte für unsere Beziehung - dass sie mir deswegen nicht weniger bedeutete.
Und sie bedeutet mir wirklich nicht weniger deshalb - ich liebe sie nicht weniger, nur weil ich Liegeias Schüler bin! ...und wir haben uns doch beide versprochen, nicht eifersüchtig zu sein auf das, was der andere macht!
Wieder und wieder sagte ich es mir vor. Aber in einer Ecke meines Bewusstseins blieb nagender Zweifel.
Zu dumm, dass sie sich ausgerechnet jetzt mit Sven überworfen hat...
***
Ohne uns verabredet zu haben, setzten wir uns am Abend nach dem Essen alle vier hinüber an den Kamin. Sven schichtete Holz auf und wollte Feuer im Kamin machen, aber ich meinte: „Lass!“
Fragend drehte er sich mir zu.
Ich murmelte: „Voris!“
Der Holzstoß im Kamin stand in Flammen.
Den Nachmittag hatten Kat, Lyana und ich in der Bibliothek beim Bücherstudium verbracht. Sven war wie jeden Tag in der Schmiede gewesen. Kat hatte in dem Buch über Heilzauber gelesen. Angestrengt hatte sie sich über die vergilbten Seiten gebeugt, murmelnd einige Sätze gelesen, sich dann wieder mit geschlossenen Augen zurückgelehnt. Ihre Lippen bewegten sich stumm, während sie sich das Gelesene wiederholte.
Hin und wieder sah sie ungläubig auf. „Das ist total irre. Ich fasse es nicht!“
Was Lyana gelesen hatte, wusste ich nicht. Manchmal hatte sie von ihrem Buch aufgeschaut und mich lange und nachdenklich angesehen. Ich hatte mir ein paar alte Geschichtswerke geholt und nach Texten über Barhut gesucht. Aber ich war nicht fündig geworden. Offenbar hatte Kat recht: Keiner der alten Historiker schien von dem versunkenen Königreich auch nur gehört zu haben.
Jetzt saßen wir vor dem Kamin und schauten schweigend in die Flammen. Hin und wieder warf einer meiner Freunde mir einen Blick zu, aber keiner sagte ein Wort. Ich wusste, dass sie auf eine Erklärung warteten. Ich musste es Kat und Sven sagen. Lyana würde bereits alles wissen, schon seit sie in der Bibliothek wieder und wieder zu mir herüber geschaut hatte. Doch sie ließ sich nichts anmerken und wartete still ab. Hin und wieder sah sie mich ernst an.
Endlich war es Sven, der das Schweigen brach.
„Leif, wenn das hier nicht gut für dich ist – ehe es dich kaputt macht – wir können in ein, zwei Stunden Fußmarsch in Lüdersdorf sein, uns ein Boot schnappen und nach Süden runter segeln. Sie wird dich ja nicht sonst wohin verfolgen. Ehe diese Ligeia den Braten riecht, sind wir hier weg.“
„Klar,“ meinte Kat und sah mich fragend an. „Selbstverständlich können wir das. Du musst es nur sagen.“
„Ihr seid die besten Freunde, die man sich vorstellen kann!“ Ich blickte Kat ins Gesicht. „Danke!“
„Und?“ fragte sie leise. „Was sagst du?“
Ich zögerte immer noch. Statt zu antworten, warf ich Lyana einen Blick zu.
Nun sag es schon! Bedeutete sie mir mit den Augen.
„Ich finde... also ich meine, wir sollten hier bleiben.“
Ein Pause mit gespanntem Schweigen folgte. Ich gab mir einen Ruck.
„Ich... ich will mich von ihr weiter in schwarzer Magie unterweisen lassen.“
„Du willst was?“ schrie Kat.
„Sie hat es mir selbst vorgeschlagen,“ beeilte ich mich, zu erklären. „Sie hat mich gefragt, ob ich ihr Schüler werden will. Es ist eine mächtige Form von Magie und Ligeia ist eine hervorragende Lehrerin. Von ihr kann ich lernen, was mir sonst niemand beibringen kann – was Magie betrifft, meine ich,“ ergänzte ich mit einem raschen Seitenblick auf Kat.
„Sie hat es dir vorgeschlagen?“ hakte Lyana nach.
„Ja... nun... in gewisser Weise... also, es war schon ein Vorschlag, ja.“
Lyana blickte düster in die Flammen.
Leise sagte sie: „Ein Vorschlag lässt einem zwei Möglichkeiten: Man kann ihn annehmen, man kann ihn aber auch ablehnen.“
Ich überhörte ihre Bemerkung. „Sie hat mir schon jetzt Zauber beigebracht, die uns von enormem Nutzen sein können – und schon gewesen sind.“
Verständnis heischend sah ich die Freunde an. Lyana spielte nachdenklich mit ihrem Amulett.
„Ich glaube nicht, dass es mir schadet,“ meinte ich trotzig.
Sven beäugte mich kritisch. „Und dieses... Armaufschlitzen gehört da dazu, ja?“
„Sozusagen – ja,“ murmelte ich unwillig.
„Wenn du meinst...“ antwortete er. „Ich fänd's nur Scheiße, wenn mein bester Freund als ausgetrockneter Kadaver auf einem Misthaufen endet.“
***
In der Nacht lagen Kat und ich lange wach. Im hellen Mondlicht, das durch die blauen Glasscheiben hereinfiel, machte das Zimmer einen unwirklichen Eindruck. Wir hatten die Bettvorhänge offen gelassen, weil ich meinte, ich müsste sonst ersticken.
„Wer weiß,“ meinte Kat, während sie mit den Fingern durch meine ungekämmten Locken fuhr. „Vielleicht nützt es uns ja tatsächlich. Einen erfahrenen Lehrer brauchst du, wenn du Magier werden willst... und zumindest scheint es dir inzwischen nicht mehr zu schaden. Die Armwunde ist ja schon fast wieder geheilt.“
Sie rümpfte die Nase. „An die hässlichen Narben muss ich mich allerdings noch gewöhnen.“
„Besser vernarbt als tot,“ meinte ich. „Ohne die Feuermagie, die sie mir beigebracht hat, wären wir aus dem Kloster nicht lebend herausgekommen.“
Kat rückte an mich heran und legte ihr Gesicht dicht neben meines. „Die Aussicht, von einem Zwergenherrscher mit Gold und Ehren überhäuft zu werden, ist schon verlockend - und einen großen Magier zum Freund zu haben, auch.“
Ich legte den Arm um sie und strich mit der Hand über ihre nackte Haut.
Unvermittelt fragte sie: „Liebst du sie sehr?“
„...wen?“
„Ligeia.“
„Ach weißt du, es ist mehr - sie ist...“
Kat legte mir sanft zwei Finger auf den Mund. „Sag nichts. Es ist schon in Ordnung.“
***
Die folgenden Tage trainierten wir für die Fahrt. Sven war Tag und Nacht in der Schmiede. Wenn er zu den Mahlzeiten heraufkam, Gesicht und Arme rußgeschwärzt, gab er sich fröhlich. Häufig erzählte er Anekdoten von Helden aus der Vorzeit, die Drachen und Dämonen erschlugen mit ihren heiligen Waffen. Immer zog sich durch seine munter vorgetragenen Geschichten ein wehmütiger Klang. Alle seine Helden mussten schöne Frauen oder Mädchen verlassen, die sie liebten oder wurden von ihnen verlassen, wenn sie sich entschieden, gegen die Drachen auszuziehen. Wenn er erzählte, blickte Kat verbissen auf ihr Essen. Manchmal warf sie ihm trotzige Blicke zu.
Den einen Tag bemerkte Sven nebenbei beim Frühstück: „Ligeia hatte recht: hwaerholdet kergaran. Kann sein, dass ich Wieland falsch verstanden habe, oder ich habe es mir falsch gemerkt. Wenn sie mich nicht darauf hingewiesen hätte - die ganze Sache wär' schiefgegangen. Ich wäre komplett gescheitert!“
Triumphierend sah ich meine Gefährten an. „Seht ihr? Und wie sie uns hilft!“
Lyana schaute skeptisch auf ihren Teller.
„Wart's ab.“
Kurz nachdem Sven vom Tisch aufgestanden war, um sich schlafen zu legen - er hatte die ganze Nacht gearbeitet - betrat Zosimo die Halle. Sein Wams war brandfleckig. Er roch nach Feuerrauch und Schweiß. Schwerfällig ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Er kippte einen vollen Humpen Bier hinunter. Schaum troff ihm aus dem Bart.
Mit brüchiger Stimme ächzte er: „...er ist besser als ich! Mein eigener Schüler hat mich überholt! Wie er sich den glühenden Stahl gefügig macht, das hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen!“
***
Ich besuchte Sven in der Schmiede. Schon im Gang vom Treppenhaus an der eisenbeschlagenen Kerkertür vorbei zur Schmiedewerkstatt hörte ich den Klang des Schmiedehammers. Es klang, als würde eine Glocke geschlagen. Sven sang bei der Arbeit. Er intonierte einen tiefen Sprechgesang, dessen Worte ich nicht verstand.
Im Fackellicht der Werkstatt meinte ich eine mythische Szene schauen, in der ein Magier der Vorzeit die spröde Materie seinem Willen beugte, sie formte mit der Kraft seines Geistes. Auf Svens schweißglänzenden Oberkörper spielten die Muskeln, während er den Stahl bearbeitete. Alle seine Bewegungen strahlten Kraft, Beherrschtheit und unbeugsamen Willen aus.
Er sah mich kommen und legte die Klinge, an der er gearbeitet hatte, vorsichtig ab. Mit einem Lappen trocknete er sich den Schweiß von Gesicht und Händen.
„Na, Leif,“ brummte er freundschaftlich. „Gibt's Neuigkeiten?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur mal schauen, wie's dir hier geht.“
„In der Schmiede geht's mir gut!“
Er winkte mich zu einer Bank, griff nach einen Wasserkrug und trank in langen Zügen. Wir setzten uns nebeneinander.
„Hier unten bin ich in meinem Element. Das Schmieden ist meine Sache, war es schon immer. Und jetzt, wo ich mit der Waffenmagie vorankomme, erst recht.“
Mit Genugtuung deutete er auf die rotglühende Klinge auf dem Amboss. „Der Zwerg wird Augen machen, wenn die Waffe fertig ist!“
„Wird es eine heilige Waffe?“
„Das nicht. Um eine heilige Waffe zu schmieden, bräuchte ich mehr Zeit. Hinbekommen würde ich es vielleicht. Aber so was Ähnliches wird der Zweihänder schon.“
Eine Weile saßen wir schweigend. In Brögesand hatten wir oft so nebeneinander gesessen oben auf der Steilküste, am Strand oder im Schatten eines Hüttendachs, stumm unseren Gedanken nachhängend. Wir hatten nie viele Worte gebraucht, um uns zu verständigen.
Irgendwann meinte Sven: „Hier muss ich nicht nachdenken. Wenn ich arbeite, kann ich alles andere vergessen.“
„Sie wartet auf dich, Sven.“
„Unsinn!“
„Wirklich. Sie wartet auf nichts sehnlicher, als dass du dich ihr wieder zuwendest. Ich glaube...“
Ich schluckte. Es war verrückt, so etwas von der eigenen Liebsten zu erzählen.
Dennoch gab ich mir einen Ruck. „Ich glaube, sie würde wieder zu dir kommen, wie früher auch, wenn du ihr einfach nur sagst, wie sehr du sie liebst.“
Sven sah mich misstrauisch an. „Wieso sagst du mir das? Bist du nicht glücklich mit ihr?“
„Ich liebe sie, Sven. Genau wie du. Aber ich weiß, dass sie unglücklich ist. Ich will ihr helfen, verstehst du? Eben weil ich sie liebe.“
Sven blickte stur geradeaus. „Sie soll sich für den prüden Dorfochsen entschuldigen! Wenn sie Sehnsucht nach mir hat - sie weiß ja, wo sie mich findet.“
Er stand auf. „Ich laufe ihr nicht hinterher, Leif. Dafür bin ich mir zu schade. Wenn sie will, kann sie zu mir kommen.“
***
Später berichtete ich Kat von dem Gespräch. Wir standen auf der Turmzinne, ließen uns den Wind durch die Haare wehen und lauschten den Schreien der Möwen. Im Norden verbargen Regenschleier die ferne Landzunge vor unseren Blicken.
Ich legte meinen Arm um Kat. „Warum gehst du nicht einfach zu ihm, wie früher auch? Es muss doch nicht alles vorbei sein zwischen euch. Du sehnst dich doch nach ihm.“
Sie wollte nichts davon wissen. „Er ist doch der sture Esel, der sich in seinem Zimmer verschanzt, statt 'rüber zu kommen. Ich hab ihm nie einen Korb gegeben. Er kann ja mit mir zusammen sein - mit mir und dir. Er muss das einfach mal akzeptieren, dass ich eben auch mit dir zusammen bin!“
„Aber Kat, wenn du ab und zu bei ihm wärst, das würde doch nichts zwischen uns ändern.“
In Wahrheit hätte es mein schlechtes Gewissen wegen Ligeia erleichtert.
Kat rümpfte die Nase und schlang ihren Arm um mich. „Er kann zu uns ins blaue Zimmer kommen, wenn er Sehnsucht nach mir hat.“
Und dabei blieb es.
Draußen auf der See tauchten zwei einsame braune Segel aus den Regenschleiern auf. Sie gehörten zu zwei flachen Booten, die mit erstaunlicher Eleganz nordwärts über die Wellen rollten. Am schlanken Bug und Heck war der Kiel in einer geschwungenen Linie hochgezogen, wie Kopf und Schwanz eines Seeungeheuers. An den niedrigen Borden waren Rundschilde befestigt. Die Boote waren offen. Ich konnte die behelmten Seeleute erkennen. Es waren viele. Sie drängten sich an den Bordrand und schauten zum Land hinüber.
„Schau mal, hast du schon mal solche Schiffe gesehen?“
Kat schüttelte den Kopf. „Nie. Wo die wohl herkommen? Was suchen sie da oben, längs der unbewohnten Küste?“
Die Schiffe verschwanden jenseits der Wetterberge im Regen.
Kat sah mich an. „Dass du mich auf Sven ansprichst - bist du gar nicht eifersüchtig?“
„Das haben wir uns doch versprochen, Kat, nicht eifersüchtig aufeinander zu sein. Du weißt, dass ich an dich glaube. An dich und an uns beide.“
In ihrem Lächeln war ein Anflug von Bitterkeit.
Insgeheim war ich glücklich, dass sie von ihrem Entschluss, das Zimmer mit mir zu teilen, nicht abwich. Und doch hatte ich den Verdacht, dass es nicht nur ihr Wunsch war, die Nächte mit mir zu teilen, was sie nicht von meiner Seite weichen ließ: Sie wollte verhindern, dass ich zu Lyana ging, wenn sie mit Sven zusammen war.
Wenn wir vier oder nur Lyana, Kat und ich beim Training oder in der Bibliothek zusammen waren, sah Kat jedes Mal zweifelnd zu mir herüber, sooft Lyana mir einen ihrer langen Blicke zuwarf. Kam Kat etwas später in die Halle zum Essen, setzte Lyana sich regelmäßig neben mich. Manchmal, wenn sie mir Sachen vom Tisch herüberreichte, berührten ihre Finger meine Hand oder sie brachte ihr Gesicht nah an meines, wenn sie mich bat, ihr etwas von der anderen Seite des Tischs zu geben. Kat tat so, als bemerkte sie nichts, aber ich sah doch, wie sie sich jedes Mal auf die Lippen biss, wenn Lyana sich mir zuwandte.
***
Beim Trainieren mit dem Schwert sagte Kat zu Lyana, die einen Ausfall gegen mich übte: „Du bist immer noch zu zögerlich mit deinen Angriffen. Dadurch gibst du dem Gegner unnötig Gelegenheit, selber zuzuschlagen - und dein eigener Angriff ist hin. Ich hab fast den Eindruck, als täte es dir leid, den Feind tödlich zu treffen.“
Lyana ließ ihr Schwert sinken. „Leif ist nicht mein Feind. Ich kann das nicht, auf jemanden losgehen und ihn totschlagen. Alles in mir sträubt sich dagegen. Ich werde nie eine Kämpferin, ich will gar keine sein!“
Kat sah sie ernst an. „Die Mönche im Bergkloster - ich weiß, du erinnerst dich nicht gern daran - die konnten es auch nicht. Deshalb sind die meisten tot - nicht wir. Ein gestandener Krieger, Lyana, der erkennt dieses Zögern - und nutzt es gnadenlos aus. Und du musst davon ausgehen, dass der das kann: zuschlagen und töten. Sonst bliebe er nämlich nicht lange am Leben.“
Sie tippte mit der Schwertspitze gegen Lyanas Klinge. „Es geht ums Überleben, Lyana. Um dein Leben. Oft ist es gar nicht die Technik, die einen Waffengang entscheidet. Der Entschlossenere überlebt.“
Sven hatte während unseres Trainings seine seltsamen Hechtsprünge und Rollen geübt, wie an den vorhergehenden Nachmittagen auch. Jetzt kam er auf uns zu.
„Greif mich mal an, Leif.“
Verdattert blickte ich ihn an. „Du hast ja gar kein Schwert. Du bist gar nicht bewaffnet, Sven.“
Er sah mir entschlossen in die Augen. „Greif mich an!“
Ich wollte Schild und Schwert ablegen, aber er rief: „Nein, mit deinen Waffen.“
„Aber das ist doch Unsinn. Was soll das?“
Kat und Lyana wurden aufmerksam und sahen Sven verwundert an.
Sven nickte mir auffordernd zu. „Ich hab mir da was ausgedacht, das will ich mal probieren.“
Er stellte sich sprungbereit mit leicht gebeugten Knien vor mich hin. „Greif an!“
Ich hob Schild und Schwert und ging in Kampfhaltung. „Na gut, aber denk' dran, es war deine blöde Idee.“
Ich ging auf ihn los. Antäuschen, Schild mit voller Wucht in den Leib rammen, nachstoßen. So jedenfalls hatte ich es mir gedacht. Sven wich aus, wirbelte herum. Ich sah noch, wie er mit der Faust ausholte, dann explodierten rote und blaue Sonnen in meinem Kopf.
Mist, der Kiefer ist hin.
Ich hatte Blutgeschmack im Mund. Dann war da nur noch milde, erlösende Schwärze.
Da waren die Stimmen von Kat und Sven irgendwo in der Ferne.
„So eine verdammte Scheiße, Sven, du Arschloch, was sollte das denn?“
„Das hab ich ja gar nicht gewollt, ich wollte ja bloß üben!“
„Üben nennst du das? Oh, Kacke! Ich weiß nicht, ob ich das wieder hinkriege!“
Ich spürte den Grasboden im Rücken. Hände berührten mein Gesicht. Mein Kinn und meine Mundhöhle fühlten sich falsch an. Es roch nach Blut. Ich hörte Kat murmeln und mein Gesicht wurde warm. Etwas an ihren Händen, die sie mir auf den Mund legte, war seltsam. Mit meinen Zähnen und meinem Kiefer geschah etwas. Und dann fühlte sich meine Mundhöhle wieder normal an und ich betastete die Zähne mit meiner Zunge.
„Den Göttern sei Dank!“ seufzte Kat.
Ich machte die Augen auf. Kat beugte sich über mich. Ihr Gesicht war tränenverschmiert. Im Hintergrund waren die bestürzten Gesichter von Sven und Lyana zu sehen. Ich stützte mich auf die Ellenbogen und blinzelte. Kat wischte ihre blutverschmierten Hände im Gras ab.
Ohne Vorwarnung brüllte sie Sven an: „Danke für die Gelegenheit, fortgeschrittene Heilzauber zu üben!“
Sven hockte sich neben Kat und betrachtete schuldbewusst mein Gesicht.
„Tut mir verdammt leid, alter Junge,“ murmelte er. „Ich wollte ehrlich nicht zuschlagen, ich dachte, ich täusche nur an.“
„Aha.“ Vorsichtig betastete ich mein Gesicht.
***
An diesem Nachmittag war mir nicht danach, Zauberbücher zu studieren oder in Geschichtswerken zu blättern und nach Hinweisen zu suchen, die ich ja doch nicht finden würde. Ich ging hinunter ins Kaminzimmer im Weinkeller. Im Kamin war Holz aufgeschichtet. Ich ließ es beiläufig in Flammen aufgehen. Aus einem Fässchen füllte ich mir einen Becher Branntwein ab und sank in einen der Lehnsessel vor dem Kamin. Der Branntwein rann wie angenehmes Feuer durch meine Kehle und wohlige Wärme breitete sich in meinem Kopf aus. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Nachdenklich befühlte ich mein Kinn. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass Svens Kinnhaken nicht ganz so ungewollt gewesen war, wie er beteuerte. Obwohl er bestimmt nicht vorgehabt hatte, mir mit seiner Schmiedehammer-Faust den Kiefer zu brechen.
Ein Geräusch an der Tür ließ mich aufblicken.
Lyana kam herein. „Hier bist du!“
Sie war in Lederkleidung und Stiefeln, wie stets in den letzten Tagen. Ihr Schwert hatte sie abgelegt. Leichtfüßig und federnd kam sie in den Raum. Ihr Blick strich über die Flaschen und Krüge auf dem Wandregal.
„Birnengeist...“
Sie nahm eine Tonflasche aus dem Regal und goss sich ein wenig daraus in einen Becher. Dann setzte sie sich mir gegenüber. Sie schnupperte an ihrem Becher.
„Endlich treffe ich dich mal allein. Es ist ja kaum möglich, mit dir unter vier Augen zu sprechen. Kat belagert dich Tag und Nacht, als fürchte sie, du könntest dich in Nebel auflösen, sobald sie nicht in deiner Nähe ist.“
Es war ein wenig übertrieben. Aber die Befürchtung, ich könnte plötzlich im Nebel verschwinden, war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ein Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass Lyana die Anspielung auf Ligeia bewusst gemacht hatte. Doch es war nicht wegen Ligeia, dachte ich, dass Kat eifersüchtig in meiner Nähe blieb. Aber war ihre Eifersucht begründet? Lyana blickte mir offen in die Augen.
„Ist sie begründet?“
Ich rang überrumpelt nach Luft. Rasch nahm ich einen Schluck Branntwein, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
„Also - Lyana, ich... wir...“
Aber es war ja egal, was ich sagte. Es war gruselig, dass sie immer schon wusste, was in meinem Kopf vorging. Lyana verzog keine Miene. Sie sah mich ernst und aufrichtig an.
Wie kann ich das wissen, Lyana? Ich bin doch derjenige, der aus dir nicht schlau wird. Du weißt sowieso, was ich denke!
„Und was denkst du?“ Immer noch dieser offene Blick.
Na ja, Kat weiß im Grunde schon, dass ich sie liebe, und dass sie sich um unsere Beziehung nicht zu sorgen braucht, glaube ich zumindest... aber...
„Na, siehst du!“
Ich starrte auf meinen Branntweinbecher. Lyana nippte an ihrem Becher.
Noch etwas anderes machte mich unsicher. Ich musste mit ihr darüber sprechen.
„Lyana, ich hatte dir versprochen, dass wir zusammen zu den Urwäldern am Hang der Nordberge gehen, sobald wir unsere Fahrt beendet hätten... Statt dessen schickt uns dieser Zwerg auf die Suche nach seinem verdammten Gral und wir wissen nicht, wann wir von dieser Expedition zurück sein werden - und ob wir überhaupt noch mal mit heiler Haut davonkommen.“
„Es ist in Ordnung, Leif. Wir hatten sowieso entschieden, erst nach der Schneeschmelze zu den Wäldern zu gehen. Selbstverständlich komme ich mit dir mit - mit euch dreien.“
Unsere Blicke begegneten sich.
„Ich wollte mit dir über etwas anderes reden, Leif.“
Ich fühlte mich unbehaglich. Ich ahnte, was sie ansprechen wollte. Fieberhaft suchte ich nach Argumenten.
„Weißt du, Lyana, eigentlich ist sie...“
„Das ist mir alles klar, Leif - dass du viel von Ligeia lernen kannst, dass sie dich zu ihrem Schüler gemacht hat, dass du anscheinend nicht nur ein weiteres Opfer für sie bist, das sie vernaschen und ausbluten und ihrer Sammlung über ihrem Bett hinzufügen will.“
Sie sah mich angewidert an. „Diese Hexe ist so widerlich!“
„Lyana, sie...“
„Weißt du, warum sie dich vor mir gewarnt hat?“
„Also...“
„Weil sie meinen Willen nicht brechen konnte! Ich weiß nicht, warum es ihr nicht gelungen ist. Sie hat es versucht, aber aus irgend einem Grund konnte ihr Zauber mir nichts anhaben. Ihr anderen lauft ja alle herum wie Puppen ohne eigenen Willen, sobald sie in der Nähe ist.“
„Lyana, das stimmt nicht! Wir sind keine willenlosen Marionetten geworden!“
„Ihr merkt es nur nicht. Wenn sie da ist, könnt ihr auf einmal bestimmte Dinge nicht mehr denken, sie kommen euch nicht mehr in den Sinn. Ihr geht herum und meint, selber zu entscheiden, Pläne gegen sie zu schmieden, euch irgendwas auszudenken, und in Wirklichkeit macht ihr alles, was sie will.“
„Dich hat sie genauso in Schlaf versetzt wie Kat und Sven! Du konntest auch nichts dagegen tun.“
„Das stimmt, das Gift im Tee hab ich nicht bemerkt. Von Giften hab ich keine Ahnung. Kat hätte es eigentlich sofort merken müssen. Dass sie nicht drauf geachtet hat, daran siehst du ja, wie sie euch im Griff hat. Ich hab ein paar Mal versucht, Kat einen Blick zuzuwerfen, aber keiner von euch hat es bemerkt. Sie hätte mich natürlich umbringen können - dass sie es nicht getan hat, liegt wohl daran, dass sie nicht sicher ist, ob sie dich anschließend noch auf ihre Seite ziehen könnte – dich und Kat und Sven.“
Ich starrte sie an. „Warum sollte sie dich umbringen wollen?“
„Sie hasst mich, Leif.“
„Lyana, ich versteh' das nicht. Wieso glaubst du, dass sie dich hasst?“
Lyana blickte nachdenklich vor sich hin. „Wegen dir... und weil sie keine Macht über mich bekommen kann, außer durch schiere Gewalt... und ich glaube, weil ich sie an etwas erinnere, das sie verloren hat und durch keine Macht der Welt mehr wiedererlangen kann...“
Ich hatte keine Ahnung, wovon Lyana redete. Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf meinen Arm.
„Leif!“ Es klang bittend.
Da war dieses stille Sehnen in ihrem Blick, das ich nicht deuten konnte, das mich erinnerte an jungfräuliches, unbetretenes Land...
„Bitte bleib wachsam, Leif. Lass dich nicht einlullen von ihr. Versuch', du selbst zu bleiben.“
„Klar, Lyana,“ stotterte ich.
„Ich bete immer noch, dass du von der schwarzen Magie loskommst.“
Ich schluckte. „Lyana, weißt du, ich finde das ungerecht, das du immer weißt, was mir durch den Kopf geht und ich so gar keine Ahnung habe, was du selber denkst. Was...“
Lyana seufzte und stand auf. „Damit wirst du leben müssen, Leif.“
Sie beugte sich zu mir herunter und brachte ihr Gesicht nahe an meines.
„Blutsbruder,“ flüsterte sie.
Sie gab mir einen Kuss auf den Mund. Einen Augenblick lang blieben ihre Lippen auf meinen liegen und gerade fragte ich mich, ob ich sie an mich ziehen, meinen Mund auf ihre Lippen pressen und ihren Mund öffnen sollte, da machte sie sich von mir los. Sie verließ das Zimmer, ohne mich noch einmal anzublicken.