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5.

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Stürmischer Wind heulte um die Turmmauern. Er rüttelte an den Fenstern der Bibliothek. Wie an den vergangenen Nachmittagen waren Lyana, Kat und ich heraufgekommen, um zu lesen. Kat saß mit ihrem Buch über Heilmagie am Fenster und memorierte flüsternd mit geschlossenen Augen die magischen Sprüche. Ich griff mir ein altes nautisches Werk aus dem Regal, eine Beschreibung der Westmeerküste. Vielleicht fand ich ja irgendeinen Hinweis auf Barhut oder Halbaru. Etwas weiter oben an dem von Bücherregalen umgebenen Tisch saß Lyana. Ich setzte mich neben sie und warf einen Blick auf die Handschrift, in der sie las. Sie zeigte mir die Titelseite: „Beschwörungen - wie der Magier sie nutzt und wie er sich davor schützt“.

„Damit beschäftigst du dich?“

Sie nickte. „Halte ich für ziemlich wichtig in unserer Situation.“

Vielleicht sollte ich das auch irgendwann lernen.

Sie sah mich an und nickte noch einmal.

Ohne viel Hoffnung schlug ich das Buch auf und überflog die Darstellung von Untiefen und Strömungen entlang der Westküste des Kaiserreichs. Ich suchte das Kapitel über den nördlichsten Küstenabschnitt. Neben mir blätterte Lyana in ihrem Buch.

Moment mal!

Ich las die Passage noch einmal, die ich gerade überflogen hatte.

„Seht mal, hier! Ich glaub', ich hab was gefunden.“

Kat sah von ihrem Buch auf. Für einen Moment kniff sie die Lippen zusammen, als sie Lyana und mich nebeneinander sitzen sah. Lyana neigte sich über mein Buch. Ihre Schulter streifte meinen Arm. Ihr Haar duftete nach Wind und Meeresluft. Kat stand auf und kam um den Tisch. Zu dritt betrachteten wir die aufgeschlagene Seite.

Nordwaerts von torglund aber ist eyn unbewohnet land / man muss wohl vier oder fuenf tag segeln / so findet sich eyn kleyne siedeley alswo die dorfleut durch fischerey ein gar aermliches daseyn fristen / daselbst raget ein kleynes huegeliges gebirge auf / hat man alsda eine gruppe steiler klippen / so vier seemeilen von der kueste aus dem meere ragen / passieret / ist wohl noch ein tag zu segeln bis heylhafen alsda lieget an der muendung des schluchtwasser / wo die flanken der nordberge steil hinab fallen in das meer / von dorther fuhren in vergangener zeyt die haendelerkoggen nach harboror / entlang der kueste welche daselbst westlich ins meere vorspringet / dies aber war bevor die krone der staedte des nordens verwuestet ward von fremden heeren / unterginge und im meere versank

„Wie alt ist das Buch?“ fragte Kat.

Ich schlug die Titelseite auf. „Niedergeschrieben von Waren Nemorn, Kapitan zur See und Seyner Majestaet Leutenant im Achten Jahre des Kaisers Siegmund des Zweyten“ stand dort unter dem Titel.

„Siegmund der Zweite,“ überlegte Kat. „Ich glaube, er regierte kurz vor der Jahrtausendwende - die Schrift ist uralt!“

„Damals hat es anscheinend nördlich von hier eine Hafenstadt gegeben,“ stellte Lyana fest.

„Dabei kann es sich eigentlich nur um eine Barhuter Stadt gehandelt haben,“ überlegte Kat.

„Und dieses Harboror auf der ins Meer vorspringenden Landzunge,“ grübelte ich, „ob das vielleicht Halbaru ist?“

Rätselnd sahen wir uns an.

Die Tür zu den unteren Geschossen knarrte und schlurfende Schritte näherten sich. Der Turmverwalter tauchte hinter einem Regal auf. Er sah uns hasserfüllt entgegen, als wir von unserem Buch aufschauten.

„Da ist eine junge Dame unten am Tor, die wünscht den Herrn Brogsohn zu sprechen,“ zischte er.

„Eine Dame? Was für eine junge Dame denn?“ wollte Kat wissen.

Totter hob gelangweilt die Schultern.

„Weiß ich nicht,“ knurrte er, während er zwischen den Buchreihen davonschlurfte. „Eine junge Dame eben. Hat sich mir nicht vorgestellt. Kenne sie nicht, habe sie nie gesehen. So ein hübsches schwarz gelocktes Fräulein halt.“

„Ligeia!“ rief Kat alarmiert. „Was will die schon wieder von dir?“

„Sie wollte mir noch ein paar Gegenstände für die Fahrt mitgeben,“ überlegte ich.

Ich ignorierte Lyanas angewiderten Blick und meinte zu Kat: „Oder sie hat noch Heilpasten oder Schutzamulette für uns.“

Kat sah mich mit verzweifelter Wut an. „Sie will dich mitnehmen! Und Morgen früh in wer weiß was für einem Zustand wieder hier abliefern!“

Mir war klar, dass Ligeia gekommen war, um mich abzuholen in ihre Hütte im Moor. Nach dem Vollmondopfer hatte sie mir „bis bald, Liebster“ gesagt. Insgeheim hatte ich auf sie gewartet. Hilflos sah ich zwischen Kat und Lyana hin und her. Kat strich mir über die Schultern, tastete mit ihren Händen den Ausschnitt meiner Wolljacke entlang.

„Ich will nicht, dass du zu ihr gehst,“ flüsterte sie. „Ich ertrage das nicht, Leif!“

Unglücklich meinte ich: „Ich bin ihr Schüler, Kat...“

„Schüler!“ schrie sie. „Das glaubst du doch selbst nicht, dass sie zaubern üben will mit dir!“

„Kat, das... ich... das hat doch nichts zu bedeuten, wirklich nicht! Und wir hatten uns doch versprochen...“

„Ja, ja!“ Wuttränen rannen Kat übers Gesicht. „Nichts zu bedeuten! Ich weiß doch, dass du sie liebst, ich weiß es doch!“

Sprachlos schnappte ich nach Luft. Lyana beobachtete uns stumm. Kat krallte sich in den Halsausschnitt meiner Jacke und weinte hemmungslos.

„Also... dann...“ stotterte ich, „...ich geh runter und sag' ihr, dass ich nicht mitkommen kann...“

Es war Unsinn. Sie würde mir keine Wahl lassen. Kat wusste es genauso gut wie ich. Sie schloss die Augen und holte Luft.

„Du weißt, dass ich dich liebe, Kat - du bist meine Liebste, was immer geschieht.“

Sie biss die Zähne zusammen und nickte. „Verzeih. Ich bin so ein dummes Ding. Ich weiß, dass ich ungerecht bin.“

„Ach Kat...“ Mit einem Seitenblick auf Lyana meinte ich: „Ich wünschte auch, dass es nicht alles so kompliziert wäre...“

„Wahrscheinlich ist es gar nicht mal so kompliziert,“ meinte Kat nüchtern.

Sie ließ mich los und trat zur Seite. „Vielleicht machen wir es nur kompliziert.“

Tapfer und trotzig sah sie mich an. „Nun geh schon zu ihr. Lass dich nicht verhexen - nicht allzu sehr zumindest,“ fügte sie mit einem bitteren Lächeln hinzu.

Lyana sah mich still und ernst an.

„Ich pass' auf mich auf.“ Es klang kläglich.

Lyana und Kat sahen mir hinterher, als ich durch die Bücherregale hindurch zur Wendeltreppe ging. Ohne es zu wollen, fühlte ich mich schäbig und schlecht.

***

Ligeia stand am Gatter der Pferdekoppel und streichelte Zosimos schwarzem Pony das Maul. Der stürmische Wind fuhr ihr durch die Haare und ließ ihr das braune Gewand um den Körper flattern. Als ich über die Brücke ging, kam sie mir entgegen. Fast war es, als müsste ihr zarter Leib davongeweht werden, aber sie ging ruhig und sicher durch den Sturmwind. Zehn Schritt vor mir blieb sie stehen. Mit der Hand hielt sie sich die wehenden Locken aus dem Gesicht und sah mir mit mädchenhaftem Lächeln entgegen. Wie jedes Mal, wenn ich ihr begegnete, stockte mir der Atem. Der kaum zu widerstehende Drang ergriff mich, sie anzuschauen, ihren Namen zu flüstern, mit meinen Händen durch ihre schwarzen Locken zu fahren.

„Leif, mein Liebster!“ Trotz des Windes war ihre sanfte Stimme deutlich zu hören.

Ich ging zu ihr. Sie umarmte mich und küsste mich auf den Mund.

„Schön, dich wiederzusehen,“ flüsterte sie.

Schmerzhaft wurde mir bewusst, wie sehr Kat recht hatte.

Bei allen Sternen, ich liebe sie - und wie ich sie liebe!

Ich wusste, dass ich mich nicht auf Ligeia verlassen konnte. Sie nutzte mich aus, verdrehte mir hoffnungslos den Verstand. Sie war gefährlich und möglicherweise war diese Liebe tödlich für mich, und dennoch liebte ich sie! Ich hätte alles getan, was sie von mir verlangt hätte. Ich liebte sie mehr als mein Leben...

Mit einer vertrauten Geste strich Ligeia mir mit den Fingern über die Stirn, als wollte sie einen Schatten wegwischen. Sie schaute mich an, als suche sie etwas in meinen Augen.

„Sie ist wirklich ein dummes Ding, Leif,“ sagte sie leise, „wenn sie mehr Wert darauf legt, dich zu besitzen, als darauf, wie sehr du sie liebst.“

Ihr dunkler Blick ruhte auf mir. „Diese Liebe - die zu Katrina Rodewald - wird dir noch Schmerzen bereiten, mein Liebster.“

Und selbst wenn du recht hast, ich werde zu Kat stehen bis an mein Lebensende.

Sie sah mich rätselhaft an.

Mit einem Mal lächelte Ligeia ein süßes Lächeln. Das Dunkle in ihren Augen war fort. Zärtlich drückte sie sich an mich.

„In den Dörfern hier herum feiern sie heute den Abschied vom Herbst und den Winterbeginn. Wir wollen nach Lüdersdorf aufs Fest gehen. Ich war seit Ewigkeiten auf keinem Dorffest mehr. Wenn ich als fremdes Mädchen allein dort erscheine, bekommen es alle mit der Angst zu tun, weil sie fürchten, ich sei eine Hexe.“

Sie sah mich sehnsüchtig an. „Und ich möchte mit dir Abschied feiern, bevor du mit deinen Gefährten nach Norden aufbrichst.“

„Auf ein Dorffest willst du mit mir gehen?“

Allein mit dir!“ sagte sie wie in Erwiderung auf den Gedanken, den ich gehabt hatte.

Sie nahm mich an der Hand und wir gingen die Koppel entlang dem Waldweg entgegen. Der schwarze Ponyhengst lief schnaubend neben uns her. Das Pony des Kochs war nicht zu sehen. Ligeia blieb stehen und klopfte den Hengst den Nacken.

„Bist ein schönes Tier,“ flüsterte sie.

Im Weitergehen meinte sie: „Ich mag diese kräftigen, großen Tiere. Sie strahlen so viel sprühendes Leben aus.“

Bei ihren Worten wurde mir mulmig. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es ihr Lust bereitete, alles zu töten, was sie liebte.

Sie sah mich voller Abscheu an. „Ich habe Lust am Leben, Leif! Nicht am Töten.“

Ich konnte nicht anders, als zu denken, dass das in ihrem Fall auf das Gleiche hinauslief.

„Du bist aber heute grüblerisch veranlagt,“ schimpfte sie.

Doch um ihre Lippen spielte ein boshaftes Schmunzeln.

Erst jetzt fiel mir auf, dass Ligeia Bastschuhe trug.

„Du hast Schuhe an, Ligeia?“

Sie musste lächeln. „Es läuft sich ein bisschen ungewohnt. Aber die Leute im Dorf finden es unanständig, wenn ein Mädchen mit nackten Füßen geht - jedenfalls, wenn es keine schwieligen, platten Bauermagdsfüße sind.“

„Und deinen Rock musst du auch unten lassen, wenn du im Dorf über eine Pfütze steigst,“ neckte ich sie.

Sie lächelte mich verschwörerisch an. In ihren Augen blitzten Wildheit und Verlangen. Einen Moment lang glaubte ich, mir würde schwindlig.

Hand in Hand gingen wir durch den kahlen Wald. Der Weg war von nassem Laub bedeckt. Das Unterholz war gelichtet und man konnte weit zwischen den Stämmen hindurchsehen. Im Westen kroch die Sonne rot unter einer Wolkenbank hervor. Die Silhouetten der Bäume standen schwarz vor dem tiefroten Horizont.

Auf dem Weg erzählte Ligeia, dass sie das schwindsüchtige Mädchen in Kaltenborn besucht habe, dem Kat in den Nordbergen nicht helfen gekonnt hatte. Als wir auf Ligeias Insel gefangen waren, hatte Kat Ligeia von dem Mädchen erzählt.

„Es war nicht schwer, sie zu finden. Ihre Mutter ist zu mir gekommen, sobald sich herumsprach, dass eine alte Heilerin im Dorf sei.“

„Konntest du ihr helfen?“

„Ja.“ Ligeia blickte wütend in die Ferne. „Aber zuerst musste ich die Männer aus dem Haus werfen. Die Kleine saß am Ofen, sie konnte kaum noch gehen vor Schwäche. Blaue Flecken hat sie gehabt von der Prügel, die ihr Vater ihr gegeben hat, weil sie nicht arbeiten konnte. Sie war völlig verängstigt, glaubte, es sei ihre Schuld, dass sie so schwach sei.“

„Es war schlimm,“ meinte ich. „Kat hätte den Alten am liebsten umgebracht.“

Ein triumphierendes Lächeln spielte um Ligeias Lippen.

„Es geht ihm nicht gut,“ raunte sie. „Er hat sich was Böses eingefangen, glaube ich. In ein paar Wochen wird er sterben. ...und seine primitiven Söhne sollten gut aufpassen, dass sie sich nicht anstecken bei ihm!“

„Ligeia, ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist...“

Sie warf mir einen höhnischen Blick zu. „Deine Freundin wüsste das sofort, ob es richtig war oder nicht!“

Ich sah sie nicht an. Was konnte ich sagen? Ich hatte vor der Küste bei meinem Heimatdorf viel sinnloser gemordet.

„Als die Männer vor der Tür waren,“ erzählte Ligeia weiter, „habe ich die Mutter dazu gebracht, der Kleinen etwas von ihrem Blut zu spenden, damit sie wieder zu Kräften kam. Sie wäre in den nächsten Tagen gestorben. Jetzt haben wir - die Mutter und ich - sie bei ihrer Großmutter untergebracht. Dem Alten haben wir erklärt, sie solle da im Haushalt helfen, bei ihm würde es ja nichts. Na, er musste sich fügen, was hätte er tun sollen? Ich glaube, die alte Senna hat ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt.“

Wider Willen musste ich grinsen.

„Ich habe dem Mädchen die Medizin gegeben, die ich aus Schimmel gewonnen habe: penicillium chrysogenum heißt die Schimmelsorte bei euren gelehrten Pflanzenkundlern. Vielleicht hilft es ihr und sie überlebt die Krankheit.“

„Wirst du sie wieder besuchen?“

„Ja,“ meinte Ligeia. „Wenn ihr von eurer Fahrt zurück seid, berichte ich dir, wie es mit ihr geworden ist.“

***

Auf der schlammigen Dorfstraße waren Bretter zu Tischen und Bänken aufgestellt. Männer und Frauen mit rauen, von Wind und Arbeit gezeichneten Gesichtern in Kleidern aus geflicktem Zeug saßen vor Bierhumpen und Bechern mit Grog und Met. An einem Feuer wurde ein Schwein am Spieß gedreht. Ein dampfender Kessel hing über einem Holzkohlenfeuer. Kinder tollten zwischen den Tischen herum. Sie hatten sich die Gesichter mit Ruß bemalt und riefen einander „buh, buh!“ zu, als wollten sie sich gegenseitig erschrecken. Über den Köpfen der Feiernden waren Schnüre von Hüttendach zu Hüttendach gespannt, an denen groteske, geschnitzte Lampen hingen. Es waren kleine, ausgehöhlte Kürbisse, deren Lichtöffnungen die Form böse grinsender Fratzen hatten. In der Dunkelheit vor dem blutroten Streifen am Horizont jenseits der Steilküste leuchtete das flackernde Licht der Kürbismasken gespenstisch über den Festbesuchern.

Ligeia hatte die Kapuze ihres Überwurfs über ihre Locken gezogen. Sie ging dicht an meiner Seite. Wir setzten uns neben eine Gruppe abgerissener Köhler an einen der äußeren Tische. Die Männer warfen uns misstrauische Blicke zu und rückten von uns ab. Ligeia drückte mir ein paar Münzen in die Hand und ich ging zum Ausschank - einem Schankbrett vor einem Bierfass und Krügen mit Schnaps und Met und holte Bier und zwei Becher süßen Met. Weiter oben auf der Dorfstraße waren Bretter über den Schlamm gelegt und mit Pflöcken zu einem Tanzboden befestigt worden. Ein Alter mit kaputten Zähnen schlug auf ein Tamburin und sang heiser dazu. Ein Junge begleitete ihn auf einer Flöte. Die beiden gaben sich alle Mühe, ihren Zuhörern zu gefallen. Ich hatte Katrina singen gehört und ich hatte Lyanas Weisen auf der Flöte gelauscht: Die beiden Lüdersdorfer Musikanten waren erbärmlich. Aber auf diesem seltsamen Fest in dem bettelarmen Fischerdorf waren sie etwas Besonderes. Zu Hause in Brögesand hatte es nie Musik gegeben.

Ich brachte Bier und Met zu Ligeia, stieg über die Bank und setzte mich zu ihr. Sie rückte an mich heran und nippte am Met. Dunkel und verliebt sah sie mich an.

„Nur dein Blut ist süßer,“ flüsterte sie.

„Ligeia, du bist gruselig! Wenn ich dich nicht so lieben würde, würde ich schreiend vor dir weglaufen!“

Sie legte sanft ihre Hand auf meinen Arm. „Lauf nicht weg, Liebster. Heute will ich deine Liebe, nicht dein Blut.“

Ich meinte, in ihren Augen zu ertrinken.

Über uns grinsten höhnisch die gelb leuchtenden Kürbismasken.

„Eine komische Idee, diese Kürbislampen,“ meinte ich.

„Es ist ein alter Brauch bei den Fischern und Bauern hier im Norden,“ antwortete Ligeia. „Die Kürbismasken sollen Dämonen und Geister verscheuchen, wenn die dunkle Jahreszeit beginnt.“

Gedankenverloren sah sie zu den im Wind baumelnden Lampen auf. „Ich würde euch gerne einen dieser Kürbisse auf eure Fahrt mitgeben – wenn sie irgendetwas nützen würden.“

„Sieh mal einer an, wen haben wir denn da!“ rief eine raue, vertraute Stimme.

Hinter den über ihren Schnaps gebeugten Waldarbeitern tauchte die ungeschlachte Gestalt des Kochs auf. Smut drängte die Männer uns gegenüber zur Seite. Mit einem Blick auf seine kräftigen Oberarme und die Axt in seinem Gürtel rückten sie stumm ab. Der Schiffskoch ließ sich auf die Bank fallen und nickte mir kumpelhaft zu.

„Der junge Leif Brogsohn – und in hübscher Begleitung!“

Er grinste Ligeia unflätig an. Sie blickte zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

„Was wohl das Fräulein Katrina sagen wird, wenn sie hört, dass du hier Bambule machst?“

Smut sah mich hämisch und nicht ohne Schadenfreude an.

„Ich hab Kat gesagt, dass ich mit ihr - “ ich wies mit dem Kopf auf Ligeia, „ - den Abend verbringe. Die beiden kennen sich.“

Der Koch stutzte. „So?“ brummte er ungläubig.

In seinen Augen blitzte es listig. „Er wohnt in der ollen Burg nördlich von hier, auf Dwarfencast, falls du davon gehört hast,“ wandte er sich an Ligeia. „Er ist dem Burgherrn dort dienstverpflichtet. Und er teilt dort das Zimmer mit so einer blonden Schönen, weißt du?“

Ligeia sah ihn still mit dunklen Augen an. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Smut blinzelte verwirrt und fuhr sich über die Stirn.

Ich fasste Ligeia am Arm. „Lass ihn.“

Zu Smut sagte ich: „Sei vorsichtig mit ihr! Sie ist das böse Mädchen, das hier herum unvorsichtige Männer in den Wald lockt, um sie in der Wildnis zu schlachten und ausbluten zu lassen! Die Lüdersdorfer können dir ein paar Geschichten über sie erzählen.“

Smut lachte schallend. „Du bist mir schon der richtige, Kamerad! Ich hab ja schon viel Seemannsgarn gehört in meinem Leben, aber sich von einem Mädchen ausbluten lassen - köstlich!“

Dennoch warf er Ligeia einen misstrauischen Blick zu.

„Ich mein's ernst!“ warnte ich. „Frag nur die Dorfleute!“

Smut schüttelte den Kopf. „Du scheinst ja eine Vorliebe für gefährliche Frauen zu haben.“

Er pochte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch, dass die Bierhumpen wackelten.

„Also dann, Kinder – amüsiert euch schön. Ich geh' mal wieder zu meiner Gertrud. Nicht, dass sie sich noch einen anderen anlacht, wenn ich sie zu lange allein lasse – obwohl sie im ganzen Dorf keinen schöneren Mann finden kann, als mich.“

Er stand schwerfällig auf, stieg über die Bank und verschwand zwischen den Tischen.

Ich holte einen Teller Krustenbraten, Brot und Bohnensuppe mit Speck für uns beide. Ligeia aß gierig. Sie sah mich mit leuchtenden Augen an. Ihre Finger und ihr Mund glänzten vom Fett. Die beiden Musiker oben beim Tanzboden spielten wieder und wieder dieselben drei, vier Volkslieder. Ab und zu versuchte einer von ihnen, ein neues Lied anzustimmen, aber jedes Mal kannte der andere es dann nicht gut genug, es versackte kläglich und sie griffen wieder auf ihr Standardrepertoire zurück. Nach und nach wagten sich ein paar junge Leute auf den Bretterboden, um unbeholfen zu tanzen, oder wenigstens schlecht und recht miteinander zu hopsen.

Ein Gruppe rußbemalter Kinder drängte sich um die Tische. Sie hielten den Leuten einen kleinen Sack entgegen und riefen jubelnd einen Kinderreim. Die Erwachsenen steckten ihnen Äpfel, Dörrpflaumen oder Brotstücke zu. Die fröhliche Schar drängelte sich an unseren Tisch.

„Süßes oder Saures!“ jubelte ein Junge mit wilden Haaren und schwarz bemaltem Gesicht. „Ich bin ein Dämon aus der Hölle, buuh! Gib mir was Süßes, oder du bekommst Saures von mir!“

Er streckte Ligeia seinen offenen Sack entgegen. Die anderen Kinder hielten sich zögernd im Hintergrund.

Ligeia streichelte dem Jungen über das struppige Haar. „Du bekommst einen süßen Kuss von mir.“

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste den überrumpelten Jungen auf den Mund. Als sie von ihm abließ, taumelte er benommen zurück. Die Kinder ergriffen kreischend die Flucht.

„Sie hat mich geküsst!“ schrie der Junge in heller Panik, als sie zwischen den Hütten verschwanden.

Ligeia sah den Kindern hinterher.

„Für sie ist es ein Spiel,“ murmelte sie. „Es hilft ihnen in den langen, dunklen Nächten, ihre Angst vor Gespenstern im Zaum zu halten, wenn die Winterstürme um die Hüttenwände heulen.“

„Auf der Ebene im Landesinnern und oben im Gebirge sind wir Geistern begegnet,“ meinte ich nachdenklich. „Ein alter Kätner am Rand des Nordgebirges behauptete, das Land ertrage die Toten nicht mehr. Deshalb wachsen die Knochen aus der Erde hervor und Totengeister spuken auf der Ebene.“

Ligeia schaute zu den Kürbismasken empor. Die grotesken Fratzen leuchteten in der Dunkelheit.

„Die Schatten kehren zurück. Die Schatten der Vergangenheit. Vor undenklichen Zeiten haben die Menschen mit den Schatten gelebt. Die dämonischen Mächte wohnten mitten unter ihnen wie die Mächte des Lebens und des Lichts. Für unsere Vorfahren gehörten Leben und Tod, Lust und Verzweiflung zusammen. Das eine konnten sie nicht ohne das andere denken. Sie ertrugen Hunger, Kälte und Krankheit wie Tiere, ohne dass ihnen ihr Elend bewusst war.“

Unten am Tisch stritten zwei Betrunkene. Vom Tanzboden waren juchzende Schreie der Mädchen zu hören.

„Vor langer Zeit sind den Menschen die Augen aufgegangen für Schönheit, Jugend und Glück. Sie entschieden sich für das Licht, für das Leben. Unsere Vorväter bannten die Dämonen durch Zauberei und magische Waffen. Aber das Unleben ist nicht aus der Welt,“ flüsterte Ligeia. „Die Dämonen - die Schatten, das Dunkle und Verdrängte - die Geister der Vergangenheit drängen zurück in die Welt, ans Licht.“

Eine grausame Schönheit lag auf ihrem Gesicht. Ihre Stimme klang rau.

„Allen, die nach Glück und Erfüllung streben, folgen die Schatten. Je intensiver du dein Leben lebst, Leif, je lebendiger du wirst, um so stärker werden die Dämonen, wird das Unleben und will dir das erlangte Leben entreißen. Jedes einzelne unerfüllte, gescheiterte, unglücklich gestorbene Wesen heftet sich an deine Fersen, verlangt sein Leben von dir zurück!“

„Ligeia!“ fuhr ich auf.

Alpträume erschlagener Seeleute standen mir vor Augen. Ligeia schaute mich unbewegt an. Das Dunkel in ihren Augen wuchs.

„Deshalb müssen wir Zauberer uns schützen. Je mächtiger wir werden, um so stärkere Schutzzauber brauchen wir. Du hast die Puppen und Geräte, die ich verwende, in meiner Kammer gesehen.“

Ihr Blick schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte etwas erwidern, aber ich fand meine Sprache nicht mehr.

„Noch brauchst du keine Schutzzauber, Leif. Wenn es soweit ist, bringe ich dir bei, wie du dich schützen kannst.“

Ligeia wandte ihren Blick ab und ich atmete auf, wie von einem Alpdruck befreit. Gedankenverloren betrachtete sie die leuchtenden Kürbismasken. Um uns herum brandete der Festlärm.

„Jetzt, in der dunklen Jahreszeit,“ sagte Ligeia leise, „sind die Grenzen zwischen dem Leben und dem Unleben - den Untoten, wie ihr sie nennt - durchlässiger als sonst. An heimgesuchten Orten lauern sie, warten darauf, hervorzukommen, herauszutreten ans Licht. Und sie kommen...“

Mit verzweifeltem Ernst sah sie mich an. „Ihr müsst schneller sein, als sie... Ihr müsst euch beeilen...“

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Mit einem Mal lächelte Ligeia und nahm meine Hände. „Heute Nacht wollen wir uns nicht darum sorgen, was kommt. Heute will ich mit dir feiern. Wer weiß, wie lange wir uns nicht wiedersehen. Komm, lass uns tanzen gehen.“

„Ich kann nicht tanzen, Ligeia. Ich habe in meinem ganzen Leben nie getanzt.“

Sie stand auf und zog mich an der Hand mit.

„Niemand kann hier tanzen,“ lachte sie. „Und dennoch tanzen sie alle!“

Wir drängten uns zwischen die trampelnden Paare auf dem Tanzboden. Von der Musik war so gut wie nichts zu hören unter dem Poltern der Tanzenden. Ligeia schmiegte sich eng an mich. Sie wiegte sich zu ihrer eigenen Musik, die nur sie hören konnte. Eine Gruppe nicht mehr junger Frauen am Rand des Bretterbodens beobachtete uns missbilligend mit neiderfüllten Blicken, wie wir uns eng umschlungen zwischen den hopsenden und juchzenden Paaren drehten, entrückt wie in einem süßen Traum. Ligeia duftete nach wilden Kräutern. Ihr warmer Atem war nahe meinem Ohr. Die Berührung ihres Körpers war zart und fest zugleich. Eine Zeitlang war da nur sie und die sanften Bewegungen ihres Körpers. Das Fest, die stampfenden und jubelnden Paare, der Lärm der Betrunkenen entschwand meinen Sinnen. Da war nur die Nacht – und Ligeia.

Als wir Hand in Hand den Tanzboden verließen, wusste ich nicht, ob wir eine ganze Stunde miteinander getanzt hatten oder ob es nur wenige Augenblicke gewesen waren. Nachtschwärze hüllte das Dorf ein. Viele der Kürbislampen waren erloschen. Der Festlärm war abgeklungen. Irgendwo zwischen den Hütten war das verliebte Kreischen eines Mädchens zu hören.

Ligeia drängte sich an mich. „Lass uns ein Plätzchen suchen für die Nacht.“

„Musst du nicht zurück? Es muss bald Mitternacht sein.“

In der Dunkelheit klang ihre Stimme warm und zärtlich nahe meinem Ohr. „Heute Nacht brauche ich meinen Ritualdolch nicht. Manchmal habe ich keine Lust, mir die Nacht auf dem Dachboden um die Ohren zu schlagen. Dann nehme ich mir ein stärkeres Opfer statt bloß einer armen Ziege oder einem Kälbchen... Es reicht, wenn ich morgen Nacht wieder ein Opfer habe.“

Ich wollte nicht darüber nachdenken, was – oder wen – sie gestern Nacht geopfert hatte, um diese eine Nacht mir mir verbringen zu können.

Sie nahm mich an der Hand und wir traten in Stolkas kleine Gaststube. Die Luft war stickig vom Tabakrauch und saurem Bierdunst. Betrunkene lagen an den Tischen und darunter. Ligeia trat auf die misstrauisch blickende Stolka zu.

„Hast du eine Kammer, wo mein Liebster und ich Zuflucht nehmen können vor all diesen Besoffenen?“

Stolka musterte uns skeptisch.

„Wir kommen aus Grobenfelde,“ log ich. „Da gibt es ein paar Leute, die uns nicht zusammen sehen sollen.“

Die Wirtin rümpfte die Nase. „Ach, so verhält sich das mit euch. Na, ich könnte euch die Kammer geben, in der sonst Stine schläft, meine Stieftochter. Wenn ihr fünf Kreuzer übrig habt?“

Schnell schüttelte ich den Kopf. „Lass das Mädchen in seiner Kammer schlafen. Wir suchen uns etwas anderes.“

„Heute wird sie die Nacht sowieso nicht allein in der Kammer hinterm Haus verbringen wollen, mit all den Betrunkenen, die hier um die Hütten schleichen,“ meinte Stolka. „Da könnt ihr die Kammer ruhig haben. Heute nehme ich das Mädchen mit ins Haus, damit ihr nichts passiert. Sie hat 'ne Patentante in der Gegend, die ziemlich besorgt um sie ist, bezahlt auch für sie. Ich hab keine Ahnung warum. Vielleicht will sie sie später als Zofe haben.“

Während Ligeia ihr das Geld auf die Hand zählte, meinte die Gastwirtin: „Die Kammer liegt in einem Bretterverschlag hinterm Haus. Die Tür ist offen. Innen ist ein Riegel. Einen Kerzenstummel geb' ich euch mit.“

Sie blickte zwischen Ligeia und mir hin und her. „Macht's euch nur gemütlich. Wenn dein Mann – oder seine Frau, was weiß ich - hier nach euch fragt: Ich hab euch nicht gesehen.“

***

Die Kammer war winzig, aber peinlich sauber. Ligeia stellte den brennenden Kerzenstummel auf ein Wandbrett, die einzige Abstellmöglichkeit in der Kammer, und schlug die grobe Wolldecke zurück, die über den mit Stroh gefüllten Bettkasten gebreitet war. Ich ging zum Pinkeln hinaus. Als ich zurückkam, hatte Ligeia sich ausgezogen. Ihr nackter, schlanker Körper stand als schwarze Silhouette vor dem Kerzenlicht.

Ich fiel vor ihr auf die Knie, schlang meine Arme um ihre Hüften und vergrub mein Gesicht zwischen ihren Schenkeln. Sie fuhr mit ihren Händen durch mein Haar.

„Leif, mein Süßer!“ seufzte sie.

Wild küsste ich ihren Schoß. Sie stammelte entzückt einen Kosenamen nach dem anderen. Ich hob sie hoch - wie leicht ihr Körper war - und trug sie zu der schmalen Bettstatt, drückte sie ins Stroh. Doch sie entwand sich mir und riss mir atemlos die Kleider vom Leib. Wir umschlangen einander, rollten und wanden uns keuchend im Stroh des schmalen Betts. Sie presste ihre Schenkel gegen meine Hüften und stieß meinen Oberkörper von sich, um sich um so heftiger unter mir zu bewegen und mich tiefer in sich hineinzunehmen. Sie war wie ein wildes Tier, warf ihren Kopf hin und her, krallte mir die Fingernägel in die Haut. Sie kämpfte mit mir, stöhnend vor Lust.

Aber als ich später zum zweiten Mal in sie eindrang, bezwang ich sie doch. Ihre Körperspannung löste sich, sie wurde weich und süß und ihr Seufzen, als wir beide kamen, war schöner als alle Musik, die ich jemals gehört hatte.

***

Graues Morgenlicht sickerte durch die Türritzen in die Kammer. Wir lagen schweißgebadet nebeneinander. Ligeias Atem hatte sich beruhigt und sie lag entspannt da. Ich streichelte das weiche, feuchte Haar ihres Schoßes, entrückt und verloren in einem Traum von schmerzlichem Verlangen, Erfüllung und bittersüßer Sehnsucht.

„Wir müssen aufstehen,“ flüsterte Ligeia. „Es ist höchste Zeit, dass du zur Burg zurückkehrst.“

„Noch einen Moment, Ligeia. Lass uns noch ein wenig zusammen liegen.“

„Das hast du vor einer halben Stunde auch schon gesagt. Wir müssen jetzt wirklich aufstehen, Leif!“

Mit einer sanften Geste schob sie mich von sich weg. Als ich mich aufsetzte, überkam mich schlagartig die Müdigkeit. Benommen raffte ich Hemd und Hose auf und zerrte mir beides über. Am liebsten hätte ich mich rücklings in den Bettkasten zurückfallen lassen, um auf der Stelle einzuschlafen, aber Ligeia schubste mich zärtlich aus dem Bett.

„Na los, steh auf, du Schlafmütze! Ich will gehen und die fette Herbergsmutter nach Frühstück fragen.“

Ich stand auf und wankte zur Tür. Kalte Morgenluft drang mir entgegen. Im trüben Licht des frühen Tages zogen Nebelschwaden von der Küste heran und verbargen die gegenüberliegende Waldanhöhe vor meinen Augen. Ligeia folgte mir, als ich müde um das Haus herumschlich. Die Haustür war noch verschlossen. Herdqualm drang unter dem Dach hervor. Ligeia streifte sich ihre Kapuze über und strich mit beiden Händen murmelnd über die Tür. Sie drückte sie auf und verschwand in der Gaststube.

Ich ließ mich auf die Bank vor der Wirtsstube fallen. Die Dorfstraße lag verlassen. Weißer Nebel dampfte von den Strohdächern der Hütten. Hunde bellten. Irgendwo krähte ein Hahn. Ein paar Volltrunkene schliefen auf den Festbänken ihren Rausch aus. Ich stützte den Kopf in die Hände. Nichts wünschte ich mir in diesem Augenblick sehnlicher, als irgend eine Ecke, in der ich mich zusammenrollen und schlafen konnte.

...und noch zwei Wegstunden zurück zum Turm...

Ligeia kam mit zwei Schalen Getreidegrütze aus der Schankstube. Obwohl wir am Abend gut gegessen hatten, spürte ich plötzlich, dass ich hungrig war. Müde blinzelte ich Ligeia an.

„Hast du nicht irgend ein Zaubermittel gegen Müdigkeit? Ich glaub', ich schlaf' sonst unterwegs im Gehen ein.“

Ligeia lächelte. „Warte, ich hole dir einen Becher Gerstenkaffee. Ich werde schon dafür sorgen, dass er dich wieder munter macht.“

***

Das Land lag hinter Dunstschleiern verborgen und feiner, kalter Regen sprühte über die Landstraße, als Ligeia und ich das Fischerdorf verließen und in den Waldweg nach Dwarfencast einbogen. Ligeia hatte ihre Bastschuhe ausgezogen und ging barfuß durch die Pfützen. Ihre schwarzen Locken hingen klatschnass herab. Ich bereute es, dass ich meinen Filzumhang nicht mitgenommen hatte. Regenwasser troff mir aus den Haaren und meine Wolljacke war schwer vor Nässe. Ligeia musste tatsächlich etwas an den bitteren Gerstenkaffee getan haben, denn die bleierne Müdigkeit, die mich beim Aufstehen übermannt hatte, war einer leichten Benommenheit gewichen. Ich fühlte mich nicht wirklich wach, aber längst nicht so erschöpft wie vor dem Frühstück. Wie durch einen Traum wanderte ich an ihrer Seite auf dem überschwemmten Waldweg. Zu den Seiten stand das schwarz glänzende Gitterwerk der Zweige.

„Wenn ihr übermorgen loszieht – wo werdet ihr nach Halbaru suchen?“ wollte Ligeia wissen.

Ich erzählte ihr, was ich über das Königreich Barhut wusste. Ich berichtete ihr von meinem gestrigen Fund in der Bibliothek und von den Ruinen auf der Landzunge fern im Norden, die man von der Turmzinne aus sehen konnte. Sie fand unsere Entscheidung richtig, entlang der Küste nach Norden zu gehen in der Hoffnung, dass es sich bei der Ruinenstadt um Halbaru handelte.

Wir waren eine Stunde gegangen, als Ligeia anhielt. Um uns rauschte der Regen. Ligeia zog einen in Leder gewickelten Dolch aus ihrem Gewand und gab ihn mir zusammen mit einem kleinen Lederbeutel.

„Hier sind die Dinge, die du brauchst, um das Ritual durchzuführen. Auch für den Fall, dass ihr zum Vollmond noch nicht zurück seid - wer weiß, wie lang eure Fahrt wird. Dann musst du die Opferhandlung allein vollziehen. Ein kleines Tier wird dir genügen. Nimm wenn möglich eine irdene Schale, um das Blut aufzufangen. Es geht aber auch mit jedem anderen Gefäß.“

„Also, Ligeia, ich weiß wirklich nicht...“

Sie sah mir in die Augen. „Wenn es Vollmond wird, und ich bin nicht bei dir, wirst du froh sein, diese Geräte zu haben, Leif. Glaub mir, du wirst nicht wohlauf sein ohne zu opfern. Du hast es doch schon letzten Vollmond gespürt, oder nicht?“

Ich nickte verlegen. Dann wickelte ich das krumme Messer aus. Es war der rostige Dolch, den ich so gut kannte. In dem Säckchen waren Kräuter. Eine Welle von Magie entströmte ihnen. Ich band den Beutel wieder zu.

„Danke, Ligeia,“ murmelte ich. „Brauchst du den Dolch nicht selbst?“

„Ich habe noch andere,“ lächelte sie. „Nun leb wohl, Leif. Ich gehe hier durch den Wald zurück. Dort vorne kommen deine Gefährtinnen.“

Ich sah den Weg entlang, aber in den Regenschleiern konnte ich niemanden erkennen.

Ligeia nahm meine Hände. „Auf Wiedersehen, mein Liebster. Denk an das, was ich dir gesagt habe. Pass gut auf dich auf - und komm gesund zu mir zurück.“

Wasser rann ihr aus den Haaren übers Gesicht. Ihre Augen blinkten feucht. Sie wandte sich rasch ab und ging auf bloßen Füßen durch das Unterholz davon.

Durch die Regenschleier preschten zwei Reiter heran. Wasser spritze unter den Hufen der Pferde. Als sie mich sahen, zügelten sie ihre Pferde. Es waren Kat und Lyana. Lyana galoppierte auf Zosimos Ponyhengst voraus. Kat folgte ihr auf dem Pony des Kochs. Beide hatten die Schwerter an der Seite. Lyana ritt zu mir heran und beugte sich mir vom Pferd herab entgegen. Angst und Erleichterung zugleich spiegelten sich in ihren Zügen.

„Leif!“

Sie sprang vom Pony, schlang die Arme um mich und presste sich an mich. Ich umarmte sie ungeschickt. Immer noch hielt ich den Dolch und das Kräutersäckchen in den Händen. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen - aber es war ja auch unnötig, ihr etwas zu sagen.

Kat kam herangeritten. Sie stieg vom Pferd und blickte zwischen Lyana und mir hin und her. Lyana ließ mich los und wandte ihr Gesicht ab. Ich hatte den Eindruck, sie wurde rot.

Kat sah mich atemlos an. „Der Koch hat uns erzählt, er hätte dich und Ligeia gestern Abend in Lüdersdorf gesehen, auf so einer Art Herbstfest.“

Sie blickte mich seltsam an. „Alles in Ordnung mit dir?“

Ich nickte beschämt. „Ja. Sie... ich...“

Kat sah zur Seite.

„Wenn's weiter nichts gewesen ist...“ meinte sie bitter.

Ich wollte irgendetwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Stumm und verlegen blickte ich vor mich hin. Kat wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, zog hoch und blinzelte. Regenwasser tropfte von der Kapuze ihres Mantels auf ihre Nasenspitze.

„Wir haben gedacht, du brauchst vielleicht Hilfe, wenn sie dich dort irgendwo bei Lüdersdorf liegenlassen hat - halb ausgeblutet vielleicht. Da haben wir uns die Pferde genommen...“

Ich traute mich nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.

„Was hast du da für Sachen?“ fragte Lyana mit einem Blick auf den Dolch und das Kräutersäckchen.

„Ach das,“ stotterte ich. „Das hat Ligeia mir gegeben - für den Schutzzauber, den sie mir beigebracht hat.“

Lyana sah mir in die Augen. „Schutzzauber?“

„...na ja...“

Ohne mich anzusehen, nahm Kat meine Hand. Mit der anderen griff sie die Zügel von Zosimos Pony und schlug den Weg zurück zum Turm ein. Lyana führte ihr Pony schweigend an unserer Seite.

„Glaubst du, dass das gut ist, was Ligeia dir beibringt?“ fragte Kat, während wir den Weg entlanggingen.

Der Regen hatte aufgehört und kalte Feuchtigkeit dampfte vom laubbedeckten Waldboden auf.

„Es ist ein sehr mächtiger Zauber...“ meinte ich zögernd. „Na ja, wahrscheinlich ist es auch gefährlich. Vielleicht kann es uns nützen... aber ich glaube nicht, dass ich das auf Dauer mitmachen will.“

Ich hoffte, es klang glaubwürdig. Verstohlen sah ich zu Lyana herüber, aber sie verzog keine Miene.

Kat betrachtete mein Gesicht. „Wirst du es schaffen, von ihr loszukommen, wenn du meinst, es fängt an, dir zu schaden?“

Ich schluckte. „Ich muss es schaffen. Wieland ist es auch gelungen.“

„Sie hat dich völlig in ihrem Bann, Leif!“

„Kat, ich glaube nicht, dass es so schlimm ist,“ murmelte ich.

„Das Schlimme ist, dass du es willst,“ meinte sie bitter. „Und dass du nicht von ihr lassen kannst. Mir ist doch klar, was ihr heute Nacht gemacht habt. Ich kann es riechen, Leif, trotz deiner nassen Klamotten!“

***

Während Kat und Lyana die Ponys in den Stall brachten, ging ich über die Brücke und durch die Küche in den Brunnenraum. Ich zog einen Eimer Wasser herauf und streifte meine feuchten Kleider ab. Ich goss mir das Wasser über Kopf, Brust und Rücken, benetzte meinen zitternden Leib mit kaltem Wasser und rieb mich ab, bis mir warm wurde. Ich wollte den Geruch dieser Nacht loswerden. Aber ich glaubte, den Duft von Ligeias Körper würde ich mein Leben lang in der Nase behalten.

Das eisige Brunnenwasser war belebend nach der klammen Kälte. Ich schöpfte mit beiden Händen Wasser und wusch mein Gesicht ab.

Du musst einen klaren Kopf bekommen!

Doch die Benommenheit wollte nicht weichen, die ich spürte, seit ich heute Morgen vor Stolkas Wirtschaft den bitteren Kaffee getrunken hatte. Die maßlose Enttäuschung in Kats Stimme, als sie zu mir sagte: „Wenn's weiter nichts gewesen ist...“ - Lyanas stumme Verzweiflung, die plötzliche Röte in ihrem Gesicht - ein Chaos von Gefühlen wirbelte in mir.

Ich hatte mich verstrickt, verfangen in einem Dornendickicht, hoffnungslos verlaufen in einem Labyrinth, in dem jeder Weg, jede Abzweigung mich nur näher der dunklen Mitte brachte, wo in den Schatten etwas lauerte, was mein Leben unweigerlich zugrunde richten und zerstören würde.

Du kannst dich nicht weiter so treiben lassen, du musst etwas unternehmen. Triff eine Entscheidung! Reiß dich los!

Aber was konnte ich tun? Auf welche Weise hätte ich meine Situation ändern können? Und wollte ich sie denn überhaupt ändern?

Ich rieb mich mit meinem Hemd ab und zog mir die Kleider über die nasse Haut. Irgend ein Weg würde sich finden. Auf irgendeine Weise würde sich alles klären...

***

Am Nachmittag wichen die Regenwolken einer grauen, hohen Wolkendecke. Kalter Wind blies vom Meer herüber, während wir alle vier auf dem Platz vor dem Turm ein letztes Mal vor dem Aufbruch unsere Kampffähigkeiten probten. Kat bewegte sich mit vorgehaltenem Schwert langsam um Sven herum, der sprungbereit mit erhobenen Fäusten auf eine Gelegenheit wartete, ihre Deckung zu durchbrechen und an ihren Schwert vorbei an sie heranzukommen. Wenn Kat auf ihn zusprang, warf er sich zur Seite, sprang sofort wieder auf und versuchte zuzuschlagen, noch während ihr Schwert durch die Luft sauste. Aber immer hatte sie die Schwertspitze schon wieder auf ihn gerichtet, wenn er auf die Füße kam. Die beiden umkreisten sich, stürzten aufeinander zu und hechteten auseinander, ohne sich aus den Augen zu lassen. Es sah mehr nach einem verzweifelten Tanz aus, als nach einem Übungsgefecht. Sie konnten nicht voneinander lassen, und doch stolperten sie immer wieder aneinander vorbei.

Lyana trat auf mich zu und hob ihr Schwert. „Bist du bereit?“

Ich nickte. Wir übten Angriff, Verteidigung, Gegenangriff. Obwohl sie ihr Schwert geschickt handhabte, waren ihre Angriffe nur angedeutet. Statt zuzuschlagen, wenn ich ins Stolpern kam, wartete sie jedes Mal ab, bis ich wieder sicher stand. Das gesamte Training über sagte sie kein Wort und vermied es, mich anzusehen.

***

Den letzten Abend vor dem Aufbruch verbrachten wir vor dem Kamin. Auch Sven war zugegen, obwohl er später noch einmal in die Schmiede hinuntergehen wollte, um der magischen Waffe für den Burgherrn den letzten Schliff zu geben. Wir hatten uns von Smut eine Kanne Wein bringen lassen und nippten schweigend an unseren Bechern. Ich hatte den Eindruck, auch meine Gefährten hingen wie ich ihren Gedanken über die jüngsten Ereignisse nach und grübelten, was uns auf der Fahrt in der beginnenden dunklen Jahreszeit bevorstand. Wir sahen einander nicht an. Alle vier blickten wir gedankenverloren in die prasselnden Flammen, die mit der Zeit kleiner und kleiner wurden und schließlich erloschen. Glut und Asche blieben im Kamin zurück. In der Dunkelheit vor den Turmfenstern heulte der Sturm.

Spät abends im Bett fragte Kat mich: „Findest du das nicht auch furchtbar, dass man alles, was einem lieb und teuer ist, wieder loslassen muss? Dass man nichts behalten kann - es rinnt einem alles durch die Finger davon.“

„Ach, Kat...“

Ich wollte ihr versichern, dass sie sich, egal, was käme, auf mich verlassen könne, aber ich brachte es nicht heraus. Wieder stand mir ihr Blick vor Augen, mir dem sie mich am Vormittag auf dem Weg zwischen Lüdersdorf und Dwarfencast angesehen hatte. Ich streckte meine Hand nach ihr aus und strich ihr vorsichtig über den Rücken.

Sie seufzte. „Und jetzt müssen wir schon wieder hinaus - keine Kaminabende mehr, kein warmes Bett, nur Kälte, Wind und schlechter Fraß. Und wenn wir Pech haben, Stürme und Schnee für wer weiß wie lange. Und wer weiß, ob wir diesen elenden Gral überhaupt finden.“

„Zusammen kommen wir durch, Kat,“ sagte ich leise.

Im Schein der herunterbrennenden Kerze lächelte sie mich bitter an. „Wenn ich ehrlich bin, mag ich gar keinen Tag länger hier bleiben. Dieses Gemäuer erdrückt mich. Ich will nur weg - egal wohin, irgendwohin, wo es besser ist!“

„Ich komme mit, Kat. Wo auch immer du hingehst - das weißt du!“

„Ach Leif,“ sie verbarg ihr Gesicht an meiner Brust. „Es ist ja in Ordnung. Ich bin nur so furchtbar, so entsetzlich eifersüchtig. Ich kann nichts dafür!“

Ich legte meinen Arm um sie. „Kat, was auch immer geschieht - du bist meine Liebste. Und wirst es immer sein.“

„Ich liebe dich auch, Leif,“ antwortete sie leise.

***

Vor Sonnenaufgang versammelten wir uns in der Schmiede, wo Sven die fertig geschmiedete Waffe an Zosimo Trismegisto übergeben wollte. Fackeln an den Wänden tauchten das Gewölbe in unruhiges Licht. Sven hatte dunkle Ringe unter den Augen, doch seine Körperhaltung drückte Stolz und Zufriedenheit aus. Auf einem Steinsims an der Rückwand lag ein großer, in Lederhäute eingeschlagener Zweihänder. Sven stand davor und wartete auf das Erscheinen des Burgherrn. Wir hörten die Stiefel des Zwergs, noch während er auf der Treppe war. Mit schweren Schritten kam er den Gang herunter. Ohne jede Begrüßung stürmte er auf Sven zu.

„Na, wo hast du dein Werkstück?“ Seine kleinen Augen funkelten unter den buschigen Augenbrauen hervor.

Sven drehte sich zum Mauersims um und schlug wortlos das Ledertuch zurück. Ein kaltes Leuchten brach hervor. Die breite Schwertklinge glänzte silbrig. Zosimo blieb wie angewurzelt stehen. Gebannt starrte er auf das strahlende Schwert.

Kat näherte ihr Gesicht meinem Ohr. „Svens Herodin sieht edler aus,“ wisperte sie.

Sven nickte dem atemlos dastehenden Zwergenkrieger zu.

„Ehok Barrakul,“ sagte er heiser.

„Barrakul ak hogbar,“ antwortete der Zwerg.

Er griff nach dem Schwert und nahm es mit beiden Händen auf.

In demselben rauen Akzent rief er: „Turhok Barrakul torres!“

Ein greller Blitz lief die Schwertklinge entlang. Blauglänzende Runen erschienen auf der Klinge, glühten auf und erloschen wieder. Zosimo hob das glänzende Schwert feierlich über seinen Kopf. Er sagte etwas zu Sven in dem fremden Dialekt und Sven antwortete ihm in der gleichen Sprache. Lyana, Kat und ich beobachteten die Szene mit stummem Staunen. Sven neigte den Kopf und legte die rechte Hand an seine Brust. Der stämmige Krieger sagte etwas zu ihm und Sven kniete nieder. Zosimo berührte mit der flachen Klinge Svens rechte Schulter und sprach laut ein paar Worte. Sven antwortete mit gesenktem Kopf. Als der Burgherr das Schwert hob, stand Sven auf. Die beiden ungleichen Männer wechselten ein paar Worte in der fremden, harten Sprache, dann wandte Zosimo sich um, warf Sven im Gehen einen Satz zu und verließ das Schmiedegewölbe. Sven sah ihm blinzelnd und ungläubig nach.

„Dürfen wir mal wissen, was hier geschieht?“ fragte Kat.

Sven starrte immer noch dem Zwerg hinterher, dessen schwere Stiefel auf der Treppe zu hören waren. Er schüttelte den Kopf, als versuche er, aus einem Traum aufzuwachen.

„Er hat mich zum Ritter geschlagen,“ murmelte er.

Kat stieß einen Ruf des Erstaunens aus. „Er hat was?“

Sven atmete heftig aus wie nach einer bestandenen Prüfung. Seine Körperhaltung löste sich und er sah uns mit strahlenden Augen an.

„Er sagte, mit dieser Waffe hätte ich mich um Karrakadar verdient gemacht. Sie sei wertvoller als ein Kettenhemd. Er hat mich zu einem Ritter Karrakadars geschlagen, das stehe ihm als Abkömmling eines alten Adelsgeschlechts zu. Die Ritterwürde ist der unterste Adelsstand in Karrakadar, meinte er. Und ich soll ab sofort über meinem Kettenhemd die Farben Dwarfencasts tragen.“

Kat sah ihn mit offenem Mund an.

„Du bist geadelt, Sven...“ stieß sie hervor.

Sie schenkte ihm einen bewundernden Blick, aber gleich darauf zuckte ein spöttisches Grinsen um ihren Mund. „...wenn auch bloß bei den Zwergen!“

„In was für einer Sprache hast du mit ihm gesprochen?“ wollte Lyana wissen.

Sven grinste. „Karrakadarisch. Ich hab 'ne Weile gebraucht, bis ich kapiert hab, dass die Sprache, in der die Zaubersprüche der Waffenmagier gehalten sind, die Zwergensprache ist. Wieland hat es mir nie erzählt.“

Kat ging auf ihn zu und strich ihm mit den Händen über die Brust. „Herzlichen Glückwunsch, mein Ritter!“

Sie küsste ihn. Sven zog sie an sich und die beiden küssten sich leidenschaftlich. Lyana und ich sahen uns an.

Ich fragte mich, ob wir sie allein lassen sollten, aber Sven und Kat ließen von einander ab und Sven sagte: „Zosimo hat uns in die Ahnenhalle befohlen, die große Säulenhalle im Weinkeller. Er will noch ein Wort mit uns sprechen, bevor wir aufbrechen.“

***

Auf der Treppe ins untere Kellergeschoss murmelte Sven mir leise zu: „Entschuldige, dass ich deine Frau geküsst habe.“

Ich flüsterte wütend zurück: „Sven, jetzt hör aber auf mit dem Schwachsinn!“

„Nein, ich mein' das ernst, Freund.“

„Du bist ja so blöd, du weißt gar nicht wie sehr!“

Sven sah mich an, als wollte er mir eine gepfefferte Antwort geben, aber er presste nur die Kiefer zusammen und schwieg.

Wir traten aus dem Treppenhaus in die Säulenhalle. Zosimo war nicht da. Langsam schritten wir durch die Halle nach vorn, wo die Vitrine mit der Chronik der Trismegisto stand.

„Inzwischen werden unsere Namen in dieser Chronik für kommende Generationen festgehalten sein,“ meinte Kat.

Sven öffnete die Tür zur Weinstube. „Wie wär's mit einem Weinbrand zum Aufwärmen vor der Fahrt?“

Wir schauten uns gegenseitig an. Warum eigentlich nicht?

„Wir können ja auf deine frisch errungene Ritterwürde anstoßen,“ entschied Kat.

Wir hatten unsere Becher gerade an einem Weinbrandfass gefüllt, als wir Schritte in der Halle hörten. Mit den Bechern in der Hand traten wir in die Halle. Zosimo kam uns entgegen. Hinter ihm folgten Smut und Totter. Smut trug das Kettenhemd und das wattierte Wams über dem Arm, die Sven bereits jeden Tag beim Training getragen hatte. Totter hatte Mühe, mit dem Zwerg und dem Koch Schritt zu halten. Er hielt ein zusammengefaltetes Tuch oder Kleid aus hellgrünem Stoff in der Hand. In der anderen hielt er eine Papierrolle.

Zosimo verzog sein narbenversehrtes Gesicht zu einer Grimasse, die man mit etwas Fantasie für ein Lächeln halten konnte.

„Wir werden gleich miteinander auf gutes Gelingen für eure Fahrt trinken. Aber zuerst will ich dem jungen Helden hier sein Kettenhemd übergeben. Tritt vor, Sven Bredursohn, Ritter von Dwarfencast.“

Smut streifte Sven Wams und Kettenhemd über. Zosimo nahm Totter den hellgrünen Stoff ab und faltete ihn auseinander. Es war ein Überwurf. Vorne auf der Brust war das Wappen von Dwarfencast aufgenäht, die von Weinreben umgebene Flamme. Der etwas verblichene Stoff roch nach Mottenkugeln. Offenbar war das Kleidungsstück lange nicht mehr getragen worden. Zosimo selbst zog Sven den Überwurf über das Kettenhemd. Zufrieden sah er an ihm herunter.

„Na, zumindest bis zu den Knien bist du gerüstet, wie es sich für einen Ritter Karrakadars gehört.“ Mit einem missbilligenden Blick auf Svens Mokassins knurrte er: „Sieh zu, dass du dir ein paar anständige Stiefel verschaffst.“

„Wir werden den ersten Schuster beauftragen, dem wir unterwegs begegnen,“ spottete Kat.

Zosimo ließ sich von Totter das zusammengerollte Schriftstück geben.

„Die Bergkette im Norden gehört zu den westlichen Ausläufern Karrakadars. Vermutlich werdet ihr an der Küste keinen Zwergen begegnen, aber oben in den Bergen nahe der Küste liegt die alte, königstreue Stadt Darkness. Ich gebe euch dieses Beglaubigungsschreiben mit für den Fall, dass ihr unseren Kriegern begegnet. Das Schreiben weist Sven Bredursohn als von mir berufenen Ritter aus und gibt euch Vollmacht, in Karrakadar zu reisen und alle Unterstützung zu erhalten, die ihr für eurer Unternehmen benötigt.“

Kat trat vor und nahm das Schreiben mit einem höfischen Knicks von Zosimo entgegen.

„Und jetzt trinken wir auf das Gelingen eurer Fahrt!“ rief Zosimo. „Totter, hol mir einen Becher Branntwein!“

Der Greis hastete ins Kaminzimmer und füllte drei Becher für Zosimo, Smut und sich selbst. Wir stellten uns im Kreis auf.

Zosimo hob seinen Becher. „Auf dass ihr wohlbehalten und erfolgreich zurückkommt!“

Smut blinzelte Kat an. „Ich trinke darauf, Fräulein Katrina, dass du einen Mann findest, der dich ordentlich in Zucht nimmt, dir die Flausen austreibt und dich lehrt, dich wie ein fügsames Mädchen zu benehmen!“

Kat hob ihm ihren Becher entgegen und schmunzelte: „Auf dein Wohl, Smut. Bleib immer brav und anständig. Du weißt - ich komme wieder!“

Auch Totter hob seinen Becher. „Auf den Gralsritter und sein Gefolge!“ krächzte er. Ein ironischer Unterton schwang in seiner Stimme mit.

***

Eine Stunde später zogen wir die Steilküste entlang nach Norden. Der stürmische Wind wehte vereinzelte Regentropfen vom Meer heran. Das Land lag grau in feuchter Kälte. Weit unten donnerte die Brandung gegen die Küste. Vor uns, einige Stunden Fußmarsch entfernt, zogen sich die Wetterberge bis an die Abbruchkante der Steilküste heran. Dort, wo die Bergflanken zum Meer abfielen, stand lichter Küstenwald aus Kiefern und vereinzelten Eichen an den Hängen.

Sven und Kat gingen vor mir. In seinem Kettenhemd, mit dem spitzen Helm und dem trotz trübem Wetter glänzenden Herodin an der Seite seines Rucksacks sah Sven tatsächlich aus wie ein Krieger auf dem Marsch. Kat hatte ihren Helm an den Rucksack gebunden. Lichthüter schlenkerte an ihrer Seite. Sie sang ein Lied im Gehen. Lyana ging ein paar Schritte abseits. Mit leichtem Schritt lief sie durch das mit Moos und Heidekraut durchsetzte Gras. Immer wieder blickte sie sich mit wachen Augen nach allen Seiten um.

Der Turm hinter uns war in graue Ferne gerückt. Kaum konnte ich noch das bläuliche Leuchten ausmachen, das aus den Dachfenstern im obersten Turmgeschoss schimmerte. Ein dunkler Schwarm Vögel zog in engen Kreisen um die Turmspitze. Es mochten Möwen sein oder Krähen.

Ich zog meinen Filzumhang enger um mich. Trotz des schnellen Marschierens fröstelte ich im nasskalten Wind. Das zusätzliche Gewicht des Rundschilds, den ich hinten über meinem Rucksack gehängt hatte, zog an meiner Schulter. Am Unterkiefer spürte ich das Zerren des Helmgurts. Trübsinnig blickte ich den grauen Silhouetten der Berge entgegen, die hinter vorbeiziehenden Regenschleiern aufragten. Im Norden waren die Wetterberge höher und zerklüfteter als in der Nähe des Turms. Am späten Nachmittag würden wir sie erreichen. Vielleicht fanden wir dort irgendwo Schutz vor dem Wetter für die Nacht.

Ich dachte an das Zimmer im Turm, das Kat und ich eine gute Woche miteinander geteilt hatten. Ob ich je wieder so nah mit ihr zusammen sein würde, wie in der kurzen Zeit, die wir auf Burg Dwarfencast zwischen der letzten und der gerade begonnenen Fahrt verbracht hatten? Was lag vor uns auf unserer Wanderschaft in die menschenleere Einöde im Norden? Noch wenige Wochen, und der Winter würde hereinbrechen. Und außer düsteren Vorahnungen und dunklen Andeutungen einer unbegreiflichen Gefahr hatten wir kaum einen Hinweis auf unser Ziel, die alte Ruinenstadt Halbaru. Nicht einmal die Richtung, in die wir zu gehen hatten, wussten wir mit Sicherheit und mehr aufs Geratewohl wanderten wir die Küste herauf nach Norden.

Ein paar Schritt vor mir stimmte Kat ein neues Lied an. Es hatte eine getragene, traurige Melodie. Die Worte ihres Lieds klangen leise im Wind.

Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde

klingen Abendglocken dumpf und matt,

Uns zu geben wunderbare Kunde

von der alten Wunderstadt.

In der Fluten Schoß hinabgesunken

blieben unten ihre Trümmer stehn.

Ihre Zinnen lassen helle Funken

widerscheinend auf dem Wasser sehn.“

Der Sturmwind brauste und trug Kats Stimme mit sich davon. Nur vereinzelte Melodiefetzen konnte ich noch durch den heulenden Wind hören.

Die Meergeborenen

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