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Wozu braucht man Rating-Agenturen?
Die Antwort ist überraschend einfach: eigentlich nicht. Wie in an-deren Bereichen auch verlässt man sich meistens dann auf den Fachmann, wenn es darauf ankommt. Davon leben auch die Rating-Agenturen. Wer seine Ersparnisse in eine Anleihe oder einen Rentenfonds investieren will, kann natürlich selbst das Kreditrisiko des Fonds analysieren. Meistens ist es dann aber doch einfacher, wenn man weiß, dass die Anleihen in dem Fonds ein bestimmtes Mindest-Rating haben, so dass der Fonds nur Anleihen von einer bestimmten Qualität hält.
Hier kommen die Rating-Agenturen ins Spiel: Sie bieten unabhängige Analysen mit einer standardisierten Skala, die von allen Beteiligten leicht zu verstehen ist und Vergleiche völlig verschiedener Anleihen ermöglicht. Beispielsweise kann man anhand eines Ratings von A-/A2 (S&P) sofort sehen, dass die in Britischen Pfund notierte 6,125-prozentige Anleihe von Siemens, fällig im Jahr 2066, von der gleichen Bonität ist wie die 4,75-prozentige Anleihe des amerikanischen Lebensmittelkonzerns Campbell Soup, deren Laufzeit nur bis zum Jahr 2021 reicht und die in Dollar notiert.18
Es ist also durchaus sinnvoll, Ratings als Entscheidungsgrundlage zu nutzen. So kann ein Aufsichtsgremium einer Lebensversicherung oder Rentenkasse, oder sogar ein Politiker im Aufsichtsrat einer Landesbank, leicht Mindestanforderungen an die Qualität der Anlagen der ihnen anvertrauten Gelder festlegen, ohne jede einzelne Anlage selbst prüfen zu müssen. Bei tausenden Anlagen wäre dies kaum möglich, und das Aufsichtsgremium müsste sich völlig auf die Einschätzung der angestellten Analysten verlassen. Eine Kontrolle würde nicht stattfinden, zumindest keine effektive.
Ratings brauchen die Zukunft nicht perfekt vorherzusagen, um nützlich zu sein. Die Agenturen mussten viel Kritik und Spott über sich ergehen lassen, weil sie Betrügereien bei Enron, Worldcom oder Parmalat nicht auf die Spur gekommen waren. Diese Kritik übersieht aber, dass Rating-Agenturen keine Wirtschaftsprüfer und schon gar keine Detektive sind, sondern lediglich eine unabhängige Risikoabwägung vornehmen. Diese Bewertungen werden in verschiedene Klassen eingeteilt, die das Risiko eines Kreditausfalls darstellen.
Dies bedeutet aber nicht, dass die Rückzahlung bei höchster Bonität garantiert, sondern nur dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist. Die Wahrscheinlichkeiten für einen Zahlungsausfall bei Bewertungen durch zwei der großen Rating-Agenturen ist in Tabelle 4 zu sehen. Selbst bei der höchsten Bonitätsstufe AAA besteht demnach noch eine geringe Chance von mehr als einem halben Prozent, dass ein so hervorragend bewertetes Unternehmen in Konkurs geht.
Rating | Moody‘s | S&P |
Aaa/AAA | 0,52 | 0,60 |
Aa/AA | 0,52 | 1,50 |
A/A | 1,29 | 2,91 |
Baa/BBB | 4,64 | 10,29 |
Ba/BB | 19,12 | 29,93 |
B/B | 43,34 | 53,72 |
Caa-C/CCC-C | 69,18 | 69,19 |
Gesamt | 9,70 | 12,98 |
Tabelle 4: Ausfallwahrscheinlichkeiten für von zwei großen Rating-Agenturen bewertete Unternehmensanleihen; Quelle: U.S. Municipal Bond Fairness Act, 2008, basierend auf Daten von Moody’s und S&P
Wenig wahrscheinlich bedeutet nicht unmöglich. Wenn es eine große Zahl von Unternehmen mit AAA-Bonität gibt, wird auch hin und wieder eines davon in Konkurs gehen. Und wenn der Ernstfall dann tatsächlich eintritt, wird behauptet, die Rating-Agenturen hätten Fehler gemacht.
Wie hilfreich Ratings auch für Verbraucher sein können, zeigt der aktuelle Trend von kleinen und mittelständischen Unternehmen, sich bei Kunden direkt Geld durch sogenannte Mittelstandsanleihen zu leihen. Von Bäckereiketten bis zu Produzenten von Süßigkeiten haben zahlreiche Firmen Anleihen an meist in finanziellen Fragen wenig versierte Kleinanleger für schon 1.000 Euro mit der Aussicht auf hohe Renditen verkauft.
Wenn ein Safthersteller 7,375 Prozent für fünf Jahre zahlt, erscheint dies im Vergleich zu einem Sparkonto überaus lukrativ. Dazu kommt, dass manche Anleger stolz darauf sind, ihr Geld nicht gierigen Banken zur Verfügung gestellt zu haben. Valensina wird zwar von Creditreform für kurzfristige Laufzeiten mit BB19 bewertet, was einer Ausfallwahrscheinlichkeit von knapp über einem Prozent entspricht. Die langfristige Mittelstandsanleihe allerdings, die weit länger läuft als das Rating Aussagekraft hat, ist nicht bewertet. Valensina wirbt trotzdem mit dem BB-Rating der Creditreform. Dies verdeutlicht, dass auch Kleinanleger Wert auf eine unabhängige Einschätzung des Risikos legen.
Weshalb also das Theater um die Macht der Rating-Agenturen? Was der Öffentlichkeit als Problem verkauft wird, sind in Wirklichkeit Fehler der Politik. Sie reagiert empfindlich auf realistische Urteile unabhängiger Rating-Agenturen, weil die Europäische Zentralbank nur Sicherheiten höchster Bonität akzeptieren darf. Dies sollte die Glaubwürdigkeit der Zentralbank und damit auch des Euro festigen. Wer traut schon einer Währung, deren Zentralbank auch Schrott als Sicherheit akzeptiert? Noch dazu Schrottanleihen, die von Wackelstaaten emittiert wurden?
Als der Euro geschaffen wurde, war hohe Bonität der Sicherheiten ein notwendiges Kriterium, denn Skeptiker prophezeiten das baldige Ende der Gemeinschaftswährung. Doch dann kam die Krise, und plötzlich gaben Rating-Agenturen Griechenland nicht mehr die höchste Bonität. Doch die Bonität dieses Landes kann man natürlich nicht per Dekret stärken. Rating-Agenturen lassen sich dagegen eher mit Verwaltungsmaßnahmen weichklopfen, positive Einschätzungen abzuliefern. Genau diesen Weg will Europa jetzt einschlagen.
Rating-Agenturen sollen für Fehleinschätzungen haften. Das klingt zunächst vernünftig, hat jedoch einen Haken: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Wer eine Meinung vertritt, kann sich auch einmal verschätzen. Wenn die Meinung noch dazu in einer Wahrscheinlichkeit ausgedrückt wird, ist es unmöglich, eine Fehleinschätzung nachzuweisen. Selbst wenn ein Unternehmen mit AAA bewertet wird, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass es Konkurs anmelden muss. Bei 200 so bewerteten Unternehmen kann man also den Konkurs eines Unternehmens erwarten. Was, wenn zwei oder drei von 200 Unternehmen pleitegehen? Welches der Unternehmen war denn falsch bewertet? Und was passiert, wenn kein Unternehmen pleitegeht? Eine Haftung der Rating-Agenturen wird dazu führen, dass sie auf Nummer sicher gehen und alle Unternehmen ein bisschen niedriger einschätzen werden, als notwendig.
Noch absurder ist die neue EU-Vorschrift, nach der die Ratings von Staaten nur noch an vorher festgelegten Freitagen revidiert werden dürfen. Damit ist der bisher herrschende Überraschungseffekt bei Rating-Änderungen passé. Investoren können nun genau vorhersagen, wann eine Abwertung kommt. Damit stellt sich ein ähnlicher Effekt wie bei festen Wechselkursen ein: Spekulationen werden einfacher. War bisher der Zeitpunkt einer zu erwartenden Auf- oder Abwertung eines Ratings eine unsichere Variable, kann man nun mit einem festen Datum rechnen und geht bei spekulativen Transaktionen weniger Risiko ein. Die Vorschrift führt also genau zum Gegenteil von dem, was beabsichtigt war.
Es ist nicht neu, dass Regierungen versuchen, die freie Meinungsausübung in Wirtschaftsfragen zu beeinträchtigen. Im Politischen ist Meinungsfreiheit ein lang etabliertes Recht. In der Wirtschaft hingegen nicht. Zwei Beispiele verdeutlichen, die Regierungen immer wieder versuchen, unangenehme Wirtschaftsprognosen zu unterdrücken.
In Argentinien forderten die Machthaber alle privaten Analysten und Forschungsinstitute im Februar 2011 auf, ihre Methoden bei der Statistikbehörde zur Überprüfung einzureichen. Seit die Regierung 2007 einen politisch verlässlichen Chef an die Spitze der Statistikbehörde INDEC setzte, hatten die offiziellen Zahlen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Dazu kommt, dass die Regierung dem Internationalen Währungsfonds eine Prüfung der eigenen Methodik seit 2006 verweigert. Eine unabhängige Berechnung der Inflationsrate war also ein vielversprechendes Geschäftsmodell für unternehmerische Statistiker.
Allerdings hatten sie ihre Rechnung ohne die Skrupellosigkeit ihrer Regierung gemacht. Diejenigen, die der Forderung nachkamen und ihre Berechnungsmethoden der Statistikbehörde mitteilten, bekamen eine Geldbuße von je rund 100.000 Euro wegen angeblicher Fehler. Gegen ein privates und unabhängiges Forschungsinstitut, MyS Consultores, wurde sogar ein Strafverfahren eingeleitet.
Der wesentliche Unterschied zwischen den offiziellen und privaten Berechnungen lag im Erhebungsbereich der Daten. Die Privaten berechneten die Inflationsrate des Landes aufgrund von Daten, die sie selbst im ganzen Land erhoben. Die offizielle Inflationsrate hingegen wird nur aufgrund von Daten aus der Provinz Buenos Aires berechnet. Es verwundert kaum, dass die von privaten Agenturen errechneten Inflationsraten wesentlich höher liegen als die offizielle: rund 25 Prozent statt offiziell 9,7 Prozent. Der Leser kann selbst entscheiden, welche Methode glaubwürdiger ist. Politisch erwünscht ist natürlich immer die Methode, bei der die kleinere Zahl herauskommt.
Man muss jedoch nicht bis nach Südamerika schauen, um Eingriffe in die Redefreiheit und Druck auf Wirtschaftler zu finden. Auch in Europa gibt es bereits erschreckende Beispiele. Ausgerechnet in Lettland, immerhin ein Mitglied der Europäischen Union, wurde Ende 2008 der Wirtschaftswissenschaftler Dmitrijs Smirnovs in ein Gefängnis der Geheimpolizei gesperrt, weil er bei einer Online-Debatte die Abwertung des Lat gegenüber dem Euro vorhersagte. Er riet Sparern, ihr Geld lieber in anderen Währungen investieren, um der drohenden Abwertung zu entgehen. Nach seiner Freilassung zeigte sich Smirnovs, je nach Sichtweise entweder einsichtig oder eingeschüchtert: Er kündigte an, bei seinen Prognosen in Zukunft vorsichtiger zu sein.
Etwas weniger dramatisch als Smirnovs‘ Verhaftung war im Jahr davor der Fall von Alf Vanags, Direktor eines Forschungsinstituts in Riga. Nachdem Vanags bei einer Pressekonferenz vor dem steigenden Leistungsbilanzdefizit des Landes warnte, bekam er innerhalb einer Stunde einen Anruf von der Geheimpolizei. Sogar der Musiker Valters Frindbergs bekam Ärger mit der Polizei, weil er bei einem Konzert scherzte, die Besucher sollten bis zum Ende des Konzerts warten, bevor sie ihre Konten bei den Banken leeren. Wie gesagt, Lettland ist Mitglied der Europäischen Union.
Die Drohgebärden der Politik gegenüber Rating-Agenturen lassen also nichts Gutes erahnen, was die Zukunft objektiver Wirtschaftsanalysen im Euroraum angeht.
18 Ratings aktuell per August 2012. Es handelt sich streng genommen um die von der niederländischen Siemenstochter Siemens Financieringsmaatschappij N.V. begebene Anleihe mit ISIN XS0266840486. Die Campbell Soup Company-Anleihe hat die ISIN US134429AW93.
19 Zum 18. 3. 2011.