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Verhindert „Turbokapitalismus“ nachhaltiges Wirtschaften?

Der Finanzkapitalismus wirtschaftet nur kurzfristig, behaupten seine Kritiker. Auf der Jagd nach der höchsten Rendite gehen Investoren über Leichen und interessieren sich nicht für Übermorgen. Zur Unterstützung dieser Thesen wird eine Reihe von Indizien herangezogen.

Zunächst zum Wirtschaften nach Quartalsergebnissen: Es gibt zweifellos zahlreiche Unternehmen, deren Führung versucht, von Quartal zu Quartal möglichst stabile Umsätze und Gewinne präsentieren zu können. General Electric war unter der Management-Legende Jack Welch das Paradebeispiel eines Unternehmens, das eine geradezu übernatürliche Stabilität aufwies und in jedem Quartal genau einen Cent mehr Gewinn erzielte, als Analysten prophezeit hatten. Mit dieser Strategie ließen sich zweifellos viele Anleger foppen. Doch es gab auch mehr als genug kluge Köpfe, die diese Tricksereien durchschauten. Kritiker des Wirtschaftens nach Quartalsergebnissen gehören offenbar nicht zu der letzteren Gruppe, denn sie sind selbst davon überzeugt, dass solche Tricksereien funktionieren.

Andere Kritiker jammern über das Aufkommen computergestützter Handelsstrategien, die im Mikrosekundentakt Wertpapiere kaufen und verkaufen, als Indiz für kurzfristige Anlagehorizonte. Das Aufkommen dieser Hochfrequenzhändler deutet jedoch eher auf das Gegenteil hin. Bis nach der Jahrtausendwende wurden Aktienkurse durch offizielle Kursmakler ermittelt, die bei festen Preisspannen zum niedrigeren Geldkurs (Disagio) kauften und teurer auf dem Briefkurs (Agio) wieder verkauften.

In Europa sind Kursmakler bereits in den 90er Jahren von der Computertechnik, in Deutschland insbesondere durch Xetra, ersetzt worden. An der New Yorker Börse konnten sie sich ihre lukrative Nische allerdings noch bis 2007 erhalten. Seitdem wird die Kurspflege nicht mehr von Menschen auf dem Parkett betrieben, sondern vollelektronisch von Computern in Sekundenbruchteilen. Die Preisspannen zwischen Kauf- und Verkaufskursen sind seitdem stark geschrumpft. Computergesteuerte Hochfrequenzhändler haben lediglich das Geschäft der ehemaligen Parketthändler übernommen, zudem mit wesentlich geringeren Margen.

Davon profitiert haben die Anleger, denn Transaktionskosten für institutionelle Anleger haben sich zwischen 2000 und 2011 halbiert.10 Auch Menschen, die nicht direkt an der Börse teilnehmen, kommen indirekt in den Genuss der niedrigeren Transaktionskosten, wenn sie Betriebsrenten oder Lebensversicherungen haben, denn deren Auszahlungen fallen bei niedrigeren Kosten entsprechend höher aus.

Hochfrequenzhandel stellt also keine fundamentale Wandlung des Börsengeschäfts dar. Es fand vielmehr eine Verschiebung des Geschäfts von Menschen auf dem Börsenparkett hin zu schnelleren und billigeren Computern statt. Ein technischer Wandel, der sich nicht wesentlich vom Übergang von Reisebüros zu Onlinebuchungen unterscheidet. Zwar gibt es nur wenige Firmen, die solche Computerstrategien einsetzen. Auch wurde Hochfrequenzhandel nicht von böswilligen Finanzhaien erfunden, sondern kam auf Betreiben der Wertpapieraufsicht zustande, die das Monopol der Parketthändler brechen wollte, um Transaktionskosten zu senken – eine Strategie, die aufgegangen ist. Wegen der extrem kurzen Haltedauer können Computer jedoch eine große Zahl von Transaktionen ausführen und sind deshalb für einen überproportional hohen Anteil an den Umsätzen verantwortlich.

Aus eigener Erfahrung und durch Gespräche mit Kollegen habe ich zwar den Eindruck gewonnen, dass es zu Beginn des computergestützten Handelns noch viele schlechte Programme zur Ausführung von Kundenordern gab. Dadurch konnten schnellere Systeme ab und zu ein paar Cent Marge pro Aktie machen. Inzwischen ist die Software aber so weit fortgeschritten, dass es kaum noch Möglichkeiten gibt, allein mit schnelleren Computern Geld zu verdienen, und viele ehemalige Hochfrequenzhändler bereits ihre Algorithmen und auch ihr Geschäftsmodell umstellen mussten. Zwischen 2008 und 2012 sind die Gewinne der Hochfrequenzhändler um drei Viertel zurückgegangen.11 Ironischerweise ist das Medieninteresse am Hochfrequenzhandel gerade in dem Moment gestiegen, als seine Profitabilität zu sinken begann.

Weitere Thesen über das angeblich kurzfristige Denken der Märkte basieren auf der Vorstellung, dass Kapital stets nur die höchste Rendite sucht und abgezogen wird, sobald anderswo höhere Gewinne locken. Im Kapitel 30 werde ich jedoch zeigen, wie sich Pensionsfonds als universelle Eigentümer verstehen, die auf Jahrzehnte hinaus die ihnen anvertrauten Ersparnisse verwalten. Die Behauptung, Fonds mit Milliarden an Kapital würden von einem Tag auf den anderen zwischen Anlagen hin- und her springen, ist absurd. Schon alleine durch die Größe des Anlagevolumens ist dies unmöglich.

Aber auch von der Anlagephilosophie her passt dies nicht zur Strategie der Fonds. Zunächst summieren sich Transaktionskosten bei häufigem Handeln schnell, so dass noch höhere Renditen notwendig wären, um die Kosten auszugleichen. Dies lässt sich aber nur durch höheres Risiko erzielen, was man wiederum nicht mit einem langfristigen Anlagehorizont vereinbaren kann. Noch wichtiger als Transaktionskosten ist für eine langfristig solide Rendite die Reduzierung von Risiken durch eine breite Streuung des Kapitals über verschiedene Anlageklassen wie Aktien, Anleihen und Immobilien, und das jeweils über verschiedene Länder hinweg.

Bei einer solchen Diversifikation kann man nicht einfach schnell der höchsten kurzfristigen Rendite hinterherjagen, da dies die sorgfältig geplante Risikostreuung durcheinanderbringt. Deshalb investieren seriöse Investoren ganz bewusst in Fonds und bei Managern mit niedriger Umschlagshäufigkeit. Das ist genau das Gegenteil kurzfristiger Renditejagd.

Man kann dem Finanzkapitalismus bestenfalls den Vorwurf machen, zu langfristig zu denken. Kapital stellt lediglich den Gegenwartswert zukünftig zu erwartender Gewinne dar. Je länger in die Zukunft man schaut, desto mehr Einfluss haben kleine Veränderungen in der Gegenwart. Ein Beispiel: Wenn eine Zahlung von 10.000 Euro pro Jahr um drei Prozent pro Jahr steigt, beträgt die Summe der Zahlungen nach 20 Jahren rund 268.000 Euro. Ist der Anstieg nur ein Prozent höher, also vier Prozent, beträgt die Summe rund 30.000 Euro mehr. Das entspricht also drei Jahren an zusätzlichen Zahlungen. Verlängert man die Dauer der jährlichen Zahlungen von 20 Jahren auf 30 Jahre, dann beträgt der Unterschied zwischen drei und vier Prozent bereits 85.000 Euro.

Dieses einfache Beispiel zeigt, weshalb nicht kurzfristiges Denken zu starken Kursschwankungen an Märkten führt, sondern langfristiges. Denn bei langfristigem Denken haben selbst kleine Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen große Auswirkungen auf den Gegenwartswert.12 Würde der Turbokapitalismus also wirklich nur kurzfristig wirtschaften, dann dürften die immer wieder beobachteten starken Kursschwankungen gar nicht auftreten.

Die These, wonach der Turbokapitalismus und die Finanzmärkte kurzfristig wirtschaften, klingt zwar auf den ersten Blick verführerisch, stellt sich aber bei genauerem Hinsehen als reine Phantasie heraus.

10 Siehe insbesondere die Analysen von Elkins McSherry Inc. oder Abel/Noser Corp.

11 Quelle: Rosenblatt Securities. Danach beliefen sich im Jahr 2008 die Gesamtgewinne aller Hochfrequenzhändler noch auf 2,94 bis 4,40 Milliarden Dollar, im Jahr 2012 auf nur noch 0,81 bis 1,21 Milliarden Dollar.

12 Auch Barwert genannt. Bei dem hier beschriebenen Beispiel wurde implizit mit einem Diskontsatz von null Prozent gerechnet. Das ist zwar nicht unbedingt realistisch, ändert aber nichts am grundsätzlichen Effekt, den kleine Schwankungen in Wachstumsraten langfristig bewirken.

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