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Gaben Banken Griechenland leichtfertig Kredite?
Nicht nur den Rating-Agenturen wird Schuld am Griechenland-Debakel gegeben, sondern auch Banken. Sie hätten Griechenland nach dem Euro-Beitritt des Landes leichtfertig Kredite gewährt, ohne auf die Risiken zu achten.
Dieses Argument gehört zu den marktkritischen Denkmustern, mit denen Kapitalismuskritiker immer wieder die Kompetenz staatlicher Bürokratie höher schätzen als die der staatlichen Untertanen. Heiner Flassbeck, einst Staatssekretär im Finanzministerium unter Oskar Lafontaine und heute bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung in Genf, glaubt, Rating-Agenturen und Märkte könnten die komplexen Zusammenhänge von Märkten, Staaten und Menschen nicht richtig beurteilen.24
Vielleicht haben die Kritiker damit sogar recht. Vielleicht können es die Menschen in Rating-Agenturen und an den Märkten wirklich nicht. Doch wer kann es besser? Sind die Beamten der Ministerien Supermänner? Oder vielleicht sollte man die Kontrolle gar an unfehlbare Besserwisser wie Flassbeck abtreten?
Es hat sich in der Krise immer wieder gezeigt, dass Regierungen und Politiker ihre eigenen Ziele verfolgen und zu einer besseren Einschätzung als Märkte nicht in der Lage sind. Die Kreditvergabe an Griechenland in den Jahren vor der Krise ist dafür ein gutes Beispiel.
Wenn Regierungen wirklich bessere Fähigkeiten besitzen als Menschen, die in Märkten aktiv sind, hätten sie sicherlich nach dem Eintritt Griechenlands in den Euro überlegtere Entscheidungen treffenkönnen. Nicht zuletzt zum Haushaltsdefizit dieses Landes, das jedes Jahr weit über dem Maastricht-Kriterium von drei Prozent lag.
Doch aus der Politik kamen keine Weisheiten. Stattdessen wurde im Mai 2007 das Defizitverfahren gegen Griechenland eingestellt. Es war im Mai 2004 eingeleitet worden, ein Jahr nach dem Beginn des Verfahrens gegen Deutschland. Die optimistischen, ja schönfärberi-schen Prognosen der Kommission gehen aus der Presseerklärung in Exponat 1 hervor. Von der Bundesregierung kamen jedenfalls keine Proteste. Das lag vielleicht auch an der gleichzeitigen Einstellung des Defizitverfahrens gegen Deutschland.
Exponat 1
[…] Zur Situation in Griechenland stellte [Joaquin Almunia, EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung] Folgendes fest: „Das griechische Defizit wurde im Jahr 2006 auf ein Niveau unter 3 % gesenkt und wird voraussichtlich auch im nächsten und im übernächsten Jahr unterhalb dieser Marke bleiben.” […]
Griechenland
Die Kommission hat heute die Einstellung des Verfahrens gegen Griechenland durch den ECOFIN-Rat empfohlen, da ihrer Auffassung nach das übermäßige Defizit glaubwürdig und nachhaltig korrigiert wurde.
Das gesamtstaatliche Defizit wurde von 5,5 % des BIP im Jahr 2005 auf 2,6 % des BIP im Jahr 2006 zurückgeführt. Die strukturelle Anpassung, also die Verbesserung des konjunkturbereinigten Saldos ohne Anrechnung einmaliger und sonstiger befristeter Maßnahmen, belief sich zwischen 2004 und 2006 auf 41/2 Prozentpunkte des BIP. Nach der Frühjahrsprognose der Kommission dürfte sich das Gesamtdefizit im Jahr 2007 auf 2,4 % des BIP verringern (wobei einmalige Maßnahmen in der Größenordnung von 0,5 % des BIP noch eingerechnet sind) und bei unveränderter Politik im Jahr 2008 geringfügig auf 2,7% des BIP ansteigen, jedoch ohne weiteren Rückgriff auf einmalige Maßnahmen. Dies lässt darauf schließen, dass das Defizit glaubwürdig und nachhaltig unter den gemäß Vertrag vorgesehenen Referenzwert zurückgeführt wurde.
Griechenlands öffentlicher Bruttoschuldenstand ging von 1081/2 % des BIP im Jahr 2004 auf 1041/2 % im Jahr 2006 zurück. Die Kommission geht in ihrer Prognose von einem weiteren Rückgang bis auf etwa 971/2 % des BIP bis 2008 – bei unveränderter Politik – aus. Die Schuldenquote kann somit als hinreichend rückläufig angesehen werden. Griechenland verzeichnet derzeit nach Italien die zweithöchste Schuldenquote im Eurogebiet.
Nichtsdestoweniger muss Griechenland das starke Wirtschaftswachstum (4,3 % im Jahr 2006 und voraussichtlich 3,7 % im Jahr 2007) nutzen, um sein strukturelles Defizit, das trotz erheblicher Verringerung in den letzten zwei Jahren immer noch über 3 % liegt, abzubauen und der Realisierung seines mittelfristigen Ziels eines ausgeglichenen Haushalts näherzukommen. Die ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine rasche Reduzierung der öffentlichen Schulden und für eine Verbesserung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, die derzeit angesichts der zu erwartenden Rentenerhöhungen und anderer alterungsbedingter Ausgaben ernsthaft in Frage gestellt ist.
Das Defizitverfahren gegen Griechenland wurde im Mai 2004 eingeleitet, nachdem das Haushaltsdefizit im Jahr 2003 3,2 % des BIP betragen hatte. Im Februar 2005 beschloss der Rat, Griechenland gemäß Artikel 104 Absatz 9 des EGVertrags in Verzug zu setzen mit der Maßgabe, das übermäßige Defizit spätestens bis 2006 abzubauen. Der Rat forderte Griechenland darüber hinaus auf, für Verbesserungen bei der Erhebung und Verarbeitung der den Gesamtstaat betreffenden Daten zu sorgen. Die griechischen Statistikbehörden haben ihre Verfahren optimiert, was insgesamt zu einer höheren Datenqualität geführt hat. Die Kommission (Eurostat) hat daraufhin ihre Vorbehalte bezüglich der Qualität der übermittelten Daten zurückgezogen.
Quelle: Europäische Kommission: Kommission empfiehlt Einstellung des Defizitverfahrens gegen Deutschland, Griechenland und Malta. Presseerklärung, Brüssel, 16. Mai 2007 (Auszug)
Wie hätte also eine Bank reagieren sollen, als die Brüsseler Bürokratie das Defizitverfahren einstellte? Die Kreditvergabe drosseln? Griechenland stand damals auf einer Stufe mit dem ebenfalls rehabilitierten Deutschland. Gegen letzteres hatte das Verfahren immerhin drei Jahre gedauert, gegen Griechenland nur zwei.
Wie wäre wohl die Reaktion der Presse und Öffentlichkeit ausgefallen, von der Politik ganz zu schweigen, wenn Banken trotz dieser guten Nachrichten Kredite an Griechenland gekürzt hätten? Man kann sich die wütenden Tiraden der Gegner freier Märkte gegen angeblich außer Kontrolle geratene Banken und Finanzmärkte gut ausmalen.
Auch die fundamentalen Wirtschaftsdaten Griechenlands waren damals noch nicht so verheerend, wie es heute gerne vorgetäuscht wird. Tabelle 5 zeigt das Haushaltsdefizit und auch die Gesamtverschuldung mehrerer Euroländer. Italiens Staatsschulden sahen bis 2007 weit schlimmer aus als die Griechenlands. Auch beim Haushaltsdefizit war Griechenland nicht immer Schlusslicht – Portugal und Zypern standen ein paar Jahren lang noch schlechter da. Im Jahr 1995 hatte sogar Deutschland ein höheres Defizit als Griechenland. In sieben der dreizehn Jahre vor der Krise von 2008 hatten andere Länder höhere Defizite als Griechenland. Die Statistiken sahen für Griechenland also nicht hoffnungslos aus.
Tabelle 5: Staatsschulden und Haushaltsdefizit. Schattiert sind die Jahre, in denen andere Länder schlechter abschnitten als Griechenland; Quelle: Eurostat, OECD
Problematisch dabei war nur, dass die von der Europäischen Kommission bekanntgegebenen Defizitdaten nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmten. Griechenland hatte, angeblich unbemerkt, falsche Zahlen übermittelt. Doch 2007 wusste das noch niemand. Im Gegenteil. Die Statistikbehörde Eurostat hatte zur Einstellung des Defizitverfahrens entschieden:
Die griechischen Statistikbehörden haben ihre Verfahren optimiert, was insgesamt zu einer höheren Datenqualität geführt hat.
Doch das war gelogen: Eurostat wusste, dass Griechenlands Zahlen im großen Stil manipuliert waren. Die BBC hat eine interne Email von Goldman Sachs veröffentlicht, laut der Eurostat in einer Telefonkonferenz bestätigt hatte, dass Griechenland die offiziellen Defizitstatistiken durch Derivate verbessern kann.25
Inzwischen hat die Nachrichtenagentur Bloomberg News die EZB auf die Herausgabe der entsprechenden Unterlagen verklagt.26 Vielleicht wird man bei einem Erfolg der Klage mehr über den wahren Kenntnisstand der europäischen Behörden erfahren. Die Rolle von Goldman Sachs wird heute gerne überspitzt dargestellt. Es ist ja nicht so, dass eine gierige Bank ein paar überforderte griechische Beamte zu einem Geschäft zwang, durch das die Defizitquote eher zufällig geschönt wurde. Vielmehr war es eine politische Entscheidung Griechenlands, die Statistik zu manipulieren, wozu Goldman Sachs als Ausführungsgehilfe herangezogen wurde.
Kurzum: die Zahlen sahen gut aus und außer der EU-Nomenklatura wusste niemand, dass sie gefälscht waren. Wenn schon die europäischen Behörden trotz ihrer wesentlich besseren Informationen nicht vor potentiellen Finanzproblemen in Griechenland warnten, dann ist es überheblich, wenn man heute den Kreditgebern Griechenlands Leichtfertigkeit vorwirft. Im Nachhinein ist man immer schlauer, wie man in diesem Buch immer wieder sehen kann.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass Kreditgeber und Märkte durch frisierte Zahlen ausgetrickst wurden. Betrug hat im Wirtschaftsleben schon immer existiert und wird sich nie vollständig eliminieren lassen. Auch Betrug durch Staaten kommt immer wieder vor, wenngleich er nur selten wie im Fall Griechenlands publik wird. Normalerweise besitzen Staaten ausreichend Souveränität, um Veröffentlichungen ihrer Fehltritte zu unterdrücken. Es ist wahrscheinlich nur dem Prozess der europäischen Einigung zu verdanken, dass die Tricksereien Griechenlands überhaupt aufgedeckt wurden.
Die Lektion, die man aus dieser Episode lernen sollte, lautet: wenn Staaten mit ihrer geballten Macht als Legislative und Exekutive im Wirtschaftsleben mitmischen, dann stehen die Chancen für ihre privaten Gegenüber meist schlecht, wenn Probleme auftreten.
24 Sonia Boffa, Heiner Flassbeck: The wisdom of the herd – What the financial markets can tell about sovereign risk. Swiss Derivatives Review 42, Chêne-Bourg, Juni 2010.
25 Eurostat reiterated that forward starting swaps are fine, out of the money swaps can be used to lower the deficit forex debt is calculated post-currency swaps. Quelle: Nick Dunbar: How Goldman Sachs Helped Mask Greece’s Debt. BBC News, 12. 2. 2012.
26 Elisa Martinuzzi, Alan Katz : Bloomberg Sues ECB to Force Disclosure of Greece Swaps. Bloomberg News, 22. 12. 2010.