Читать книгу Blutgefährtin 3 - Thomas M Hoffmann - Страница 5
2. Schatten
ОглавлениеLangsam schleiche ich durch die Straßen der menschenleeren Stadt. Alle meine Sinne sind aufs Äußerste gespannt. Ein leises Grollen rollt durch meine Kehle. Ich werde meine Beute finden, daran gibt es keinerlei Zweifel. Witternd bleibe ich stehen. Da! Ein Duft steigt mir in die Nase, der köstliche Duft einer warmen, pulsierenden Blutader. Doch der Duft verrät mir noch mehr. Mein Opfer hat Angst, Todesangst. Erwartungsvoll öffne ich meinen Mund, meine Eckzähne sind voll ausgefahren.
Mein Opfer hat vollkommen Recht, Angst zu haben. Denn ich habe Durst, schrecklichen Durst. Deshalb bin ich ja auch auf der Jagd. Aber nicht nur deswegen. Die Jagd lässt mich das Leben in mir spüren, die Kraft, die Anspannung. Die Jagd ist Freude pur und hat nur ein Ziel. Da! Diesmal höre ich ein leises Knirschen von rechts, mein Opfer versucht, sich davonzuschleichen. Oh, es will leise sein, aber ich bin nicht umsonst das gefährlichste Raubtier auf Erden.
Ich bin scheinbar erstarrt, meine Augen suchen die Wand des verfallen aussehenden Hauses ab. Die Hälfte der Fenster ist zerbrochen, aus einem weht eine dunkel schmutzige Gardine im leichten Wind. Entlang der Wand stehen alte Müllcontainer, die mit irgendwelchem Schrott gefüllt sind. In diesem Augenblick sehe ich einen huschenden Schatten zwischen zwei Container. Sofort setze ich mich in Bewegung. Ich mache mir nicht die Mühe, die Container zu umrunden, ich springe einfach darüber hinweg. Hinter dem Container wirbele ich zu meiner Beute herum.
Es ist eine Frau, die jetzt begriffen hat, dass ich sie längst entdeckt habe. Sie rennt, wie nur jemand rennen kann, der weiß, dass er kurz davor steht zu sterben. Mein Mund verzieht sich zu einem verächtlichen Lächeln. Sie versucht, in die enge Gasse zwischen zwei Häusern zu gelangen, mich abzuhängen, indem sie sich in irgendwelchen dunklen Ecken verkriecht. Dabei ist sie doch nur ein Mensch, ein lächerlicher Mensch. Ich lasse sie Hoffnung schöpfen, indem ich nicht sofort los jage. Sie nähert sich der Ecke, streckt sich danach aus, will sich hineinwerfen, um mir zu entkommen. Aber sie hat keine Chance. Im richtigen Augenblick springe ich los und lande auf ihrem Rücken.
Wir stürzen gemeinsam zu Boden, aber ich habe die volle Kontrolle. Von hinten schlage ich meine Zähne in ihren Hals, ihr köstliches Blut fließt mir in die Kehle, ihr Leben erfüllt mich, voller Hast trinke ich. Mehr, immer mehr, ich brauche mehr. Zuerst versucht sich mein Opfer noch zu wehren, doch sie hat wohl begriffen, dass es vorbei ist, die Gegenwehr erlahmt zusehends. Das dämpft meine Hast, reizt nicht mehr meine Gier. Ich will jetzt alles nehmen, was sie hat, aber ich will es genießen, ich will sie langsam aussaugen, gemütlich, jeden Schluck einzeln meine Kehle hinunterrinnen lassen. Dazu ist die Position, in der ich sie halte, zu unbequem. Ich muss sie herumdrehen, um einen besseren Winkel für ihre Halsschlagader zu haben. Also löse ich meinen Mund und lecke über die Wunde, damit sie sich schließt. Die Frau ist nur noch ein schlaffes Bündel, als ich sie umdrehe, der Kopf ist nach hinten gefallen. Aber sie lebt noch. Gerade will ich mich wieder in ihre Ader verbeißen, da hebt sie ein letztes Mal ihren Kopf.
Und ich blicke in die gebrochenen Augen von Catherine.
«Catherine!»
Mit einem Aufschrei schrecke ich hoch und will nach ihr greifen, sie umarmen, sie schützen, aber meine Hände greifen ins Leere. Verwirrt sehe ich mich um. Ich liege im Bett unseres Schlafzimmers, der große Kleiderschrank mit dem jetzt so nutzlosen Spiegel ist in der Dämmerung gerade so eben zu erkennen. In meinem Mund spüre ich noch den Geschmack des Blutes, in meinen Adern pulsiert noch die Erregung der Jagd. Neben mir regt sich Pierre.
«Schatz?» murmelt er mit müder Stimme.
Tief Luft holend lege ich meine Hand auf seine Schulter und drücke ihn nach unten, als er sich gerade aufrichten will.
«Nichts, es ist nichts, Liebster. Nur ein Traum. Schlaf weiter.»
Dann lege ich mich selber wieder hin und kuschele mich an meinen Ehemann. Er legt seinen Arm um mich, zieht mich näher, so dass mein Kopf auf seiner Schulter zu liegen kommt. Danach murmelt er noch ein paar unverständliche Worte. Nach ein paar Augenblicken zeigen mir seine gleichmäßigen Atemzüge, dass er bereits wieder eingeschlafen ist, vermutlich war er gar nicht richtig wach.
Ich vermag nicht, wieder einzuschlafen. Der Traum steckt mir noch in meinen Knochen, ganz deutlich steht mir diese Jagd vor den Augen, in der ich empfunden habe wie ein Raubtier, gehandelt und gedacht habe wie ein Raubtier. Menschen oder Menschlichkeit waren mir egal gewesen. Aber das schlimmste ist, dass ich tatsächlich ein Raubtier bin. Das schrecklichste Raubtier der Erde, fähig selbst die stärksten Männer mit einer Handbewegung zu töten.
Das habe ich schon gemacht. Innerhalb von zwei Minuten habe ich drei Männer beiseite geräumt wie Abfall, sie waren tot, bevor sie auch nur ahnten, in was ich mich verwandelt hatte. Tante Anna hat mir gesagt, dass das die Schuld des Verräters Baxter gewesen ist, dessen Blut mich verwandelte und der nicht da gewesen war, um mir zu zeigen, wie ich meine Vampirin unter Kontrolle halten kann. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Tante Anna und auch Pierre haben mir seitdem die Dinge beigebracht, die ich wissen muss, aber trotzdem kämpfe ich immer noch verzweifelt um die Kontrolle.
Bisher habe ich niemanden mehr umgebracht, aber oft, zu oft, bin ich sehr nahe dran. Und in meinen Träumen zeigt mir meine Vampirin das, was sie sich ersehnt, was sie tun will. Sie zeigt mir, wie ich sein kann, wenn ich mir nicht diese unbequemen Beschränkungen der Menschlichkeit auferlege, wenn ich meiner Gier und meiner Wildheit freie Hand lasse. Diese Freiheit von allen Gesetzen lockt mich, singt mir von grenzenloser Macht und dem Ausleben aller Träume. Aber ich weiß, dass die Stimmen lügen.
Sollte ich ihnen nachgeben, sollte ich beginnen, zu jagen, zu töten, dann würde ich auffallen. Menschen würden sich fragen, wie eine junge Frau dermaßen stark und wild sein kann. Sie würden mich sehen, wie ich mich verwandle, in ein Wesen, das den Albträumen und Mythen der Menschen entstiegen ist. Die Vampirgesellschaft wird das nicht dulden. Gegen das Gebot, das meine Herrscherin, das Tante Anna selbst bestätigt hat, darf ich nicht verstoßen. Die Strafe wäre der Tod.
Meiner Vampirin ist das egal. Sie ist ein Tier, sie denkt nicht so weit. Sie will nur ihre Bedürfnisse befriedigen, jagen, Blut trinken, Sex. Es ist meine Aufgabe, sie zu zügeln, ihre Energien zu kanalisieren und in den Rahmen der vampirischen und menschlichen Gesellschaft zu pressen. Wenn mir das nicht gelingt, dann ist kein Platz mehr für mich, dann werde ich sterben.
Und ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird. Ich balanciere am Rand des Wahnsinns und jedes Mal, wenn ich mich im letzten Moment zurückhalten kann, scheint es mir, als wäre das das letzte Mal, dass es mir gelingt. Wie lange werde ich standhalten können? Wann werden die Mauern meines Widerstandes zerbrechen? Ich will nicht zur Mörderin werden, ich will nicht, dass meine Freunde, die, die mir nahe sind, Angst bekommen vor mir. Im Traum hat mich Catherine bereits mit solchen hoffnungslosen, blicklosen, toten Augen angeschaut. Ausgerechnet Catherine, die für mich seit dem Tod von Großmutter dem am nächsten gekommen ist, was eine Mutter für ihre Tochter darstellt.
Ich habe keine Ahnung, wie lange mich meine Gedanken quälen. Langsam beginnt die Nacht grau zu werden, der Morgen kündigt sich an. Ich versuche, möglichst still zu liegen, um Pierre nicht zu stören, aber Unruhe erfüllt mich. Meine Angst und meine Traurigkeit stört die Vampirin in mir. Sie spürt meine Emotionen und will an die Oberfläche, um zu sehen, was für eine Gefahr lauert. Mit aller Kraft halte ich sie unten, die Anstrengung lässt meine Muskeln verkrampfen.
«Hey, wie soll ich denn schlafen können, wenn du hier im Bett Tango tanzt?»
Erschrocken schaue ich in die wachen Augen von Pierre. Mist, ich habe ihn geweckt.
«Ich tanze gar nicht Tango.»
«Ha, dann würde ich aber gerne diesen Tanz lernen, den du so früh am Morgen einübst.»
«Entschuldige Pierre, habe ich dich geweckt?»
Sofort huscht ein besorgter Ausdruck über Pierres Gesicht.
«Was ist los? Kannst du nicht schlafen?»
Verlegen traue ich mich nicht, ihn anzuschauen. Ich will ihm nicht sagen, wie sehr ich um meine Menschlichkeit kämpfen muss. Fast zwei Jahre lang war ich der Mensch, der Pierre an die Menschlichkeit gebunden hat, ihm geholfen hat, den Vampir in sich zu besiegen. Das war die Grundlage unserer Beziehung gewesen, bis ich verwandelt wurde. Jetzt taumle ich dem Abgrund entgegen und wenn ich falle, dann werde ich Pierre mitreißen.
Wenn herauskommt, wie es um mich steht, dann wird es nur noch einen Weg geben. Ich brauche einen menschlichen Blutwirt, der es schafft, mich zurückzuhalten und Pierre bräuchte genauso eine menschliche Blutwirtin. Unsere Ehe wäre selbst nach menschlichen Maßstäben schneller gescheitert als normal. Das, was für die Ewigkeit gedacht ist, würde zerstört, weil ich zu schwach bin, weil ich nicht genug Kraft habe. Das darf nicht geschehen, das wird nicht geschehen.
«Was ist los, Trish?» fragt Pierre noch einmal.
Gott sei Dank gibt es ein Thema, bei dem meine Vampirin und ich im Gleichklang schwingen. Vorsichtig luge ich zu Pierre hin.
«Na ja, ich frage mich…»
Pierre zieht die Augenbrauen hoch.
«Was fragst du dich?»
Statt einer Antwort streichele ich mit meiner Hand über Pierres wunderbar weiche und sanfte Haut. Er schläft ohne Schlafanzug lediglich mit einer Boxershorts bekleidet, das nutze ich jetzt weidlich aus. Meine Lippen küssen sich zärtlich in Richtung seines Halses. Hitze durchströmt mich, als mich Erregung packt. Ich bin sicher, dass meine Vampirin meine Augen gelb blitzen lässt.
«Ich frage mich, ob ein alter Mann wie du wohl fit genug ist.» flüstere ich heiser, als ich seinen Hals erreiche. Pierres Augen weiten sich.
«Oha, Madame Nimmersatt. Soll das etwa eine Herausforderung sein?»
Vorsichtig spiele ich mit seinen Brustwarzen.
«Nun, ich habe dich doch immerhin eine ganze Nacht schlafen lassen. Das muss doch belohnt werden, oder?»
Ganz leicht küsse ich seinen Hals, seine Ader pocht dicht an meinen Lippen, was meine Gier und Erregung weiter stärkt. Sein Blut vermag mich zwar nicht am Leben zu halten, aber es schmeckt dennoch köstlich süß. Ich merke, wie sich mein Mund verändert, wie sich meine Reißzähne ausfahren.
«Wenn du nicht richtig kannst, dann habe ich da einen ganz speziellen Trick. Willst du, dass ich ihn mal ausprobiere?» frage ich, bevor die Vampirin endgültig das Steuer übernehmen kann. Doch als ich mich gerade gehen lassen will, packt mich Pierre, wirft mich auf den Rücken und drückt mich mit seiner Kraft in die Kissen. Seine Augen blitzen gelb.
«Ich brauche keine Tricks, um wegen dir heiß zu werden. Du bekommst deine Belohnung, aber ganz langsam. Ganz langsam. Du wirst heute noch um Gnade betteln, das verspreche ich dir.»
Damit verschlingt er mich in einem innigen Kuss, während eine Hand unter mein Nachthemd und in Richtung meiner Brüste wandert.
Eine Stunde später liegen wir in den wunderbaren Nachbeben unserer Liebe Arm in Arm. Meine Vampirin hat sich befriedigt zurückgezogen, die düsteren Gedanken meines Traums sind vertrieben. Eigentlich ist das eine ganz nette Form der Therapie. Unser Liebesleben war schon vor meiner Verwandlung heiß gewesen, doch seitdem meine Vampirin mitmischt, können wir froh sein, überhaupt noch außerhalb des Bettes Zeit für andere Dinge zu finden. Charles, der das als Teil des Haushaltes am ehesten mitbekommt, muss denken, wir wären verrückt geworden. Aber in seiner zurückhaltenden Art akzeptiert er alles, was seine Herrschaften sich so alles leisten.
Pierre ist wieder in einen Halbschlaf gefallen, weshalb ich ihm einen sanften Kuss auf die Stirn gebe, als die Sonne langsam in unserem Fenster erscheint.
«Ich dusche zuerst, Schatz. Was hast du heute vor?»
«Heute kommen ein paar Bewerber für die Stelle, die wir ausgeschrieben haben. Aber ich habe Zeit, der erste ist für elf eingeladen.» murmelt Pierre.
«Gut, ich warte dann unten, bis du fertig bist. Ich will Großvater besuchen.»
Pierre brummt zustimmend und ich winde mich aus der Bettdecke. Ich dusche so heiß, dass Dampfschwaden durch das Badezimmer ziehen. Als Vampirin macht mir weder Kälte noch Hitze sonderlich viel aus. Die Hitze erinnert mich an die Hitze zwischen Pierre und mir, so dass ich diese Art zu duschen mit sehr angenehmen Erinnerungen verbinden kann. Anschließend ziehe ich mich bequem an, Jeans und T-Shirt. Ich statte Großvater einen Arbeitsbesuch ab, um zu sehen, wie er die hinter uns liegende Lese kräftemäßig überstanden hat. In den letzten zwei Tagen haben wir das letzte Feld für die geplante Spätlese abgeerntet, und auch wenn Jules die meiste harte Arbeit leistet, lässt es sich Großvater nicht nehmen, in allen Phasen dabei zu sein.
Ich habe natürlich auch mit angepackt, wo es nur ging. Offiziell soll ich das Weingut einmal übernehmen, doch ich weiß bereits, dass das nicht möglich sein wird. Da Pierre und ich zu Tante Annas Clan gehören und die europäischen Vampire sie nicht als Herrscherin anerkennen, dürfen wir nur mit der Sondergenehmigung von Vlad Dracul hier wohnen, solange Großvater lebt. Sollte ich einmal das Weingut erben, dann müssen wir diese Gegend verlassen. Aber es war immer mein Traum gewesen, ein Weingut zu betreiben, also will ich alles lernen, was Großvater mir beibringen kann.
Während ich mich anziehe beobachtet mich Pierre aus halb geöffneten Augen, als wäre er ein fast verhungerter Löwe und ich eine schmackhafte Gazelle. Bevor ich nach unten gehe, gebe ich ihm einen Kuss auf die Nasenspitze.
«Und da ruft mich einer Madame Nimmersatt. Was denkst du wohl, wenn du mich dermaßen anstarrst?»
Blitzschnell zieht mich Pierre zu sich herunter, als ich mich gerade aufrichten will. Lachend gebe ich nach und küsse ihn.
«Ich komme lediglich meinen ehelichen Pflichten nach.»
Schnell winde ich mich aus seinen Armen, bevor er es schafft, mich ganz in sein Bett zu ziehen und meine Haare wieder durcheinander zu bringen. Es macht unendlich viel Mühe, die Haare zu ordnen, wenn man sich nicht in einem Spiegel sehen kann.
«So, so, lediglich Pflichten. Ich bedaure dich zutiefst. Aber ich frage mal den Priester, ich bin sicher, es gibt ein Gesetz gegen diese Lüsternheit, die du an den Tag legst.»
«Wehe. Dann erzähle ich ihm von den verruchten Methoden, mit denen du harmlos schlafende Männer am Morgen weckst.»
«Du weißt doch Schatz. Jeder muss Opfer bringen, wenn die Pflicht ruft.»
Lachend verschwinde ich durch die Tür, bevor mich das Kissen treffen kann, das Pierre nach mir geworfen hat. Ich habe mir die vampirische Art zu gehen angewöhnt, deshalb bin ich sicher, dass ich kein für Menschen wahrnehmbares Geräusch mache, als ich unser Wohnzimmer betrete. Dennoch steht Charles fast unmittelbar danach in dem Durchgang zum Küchenbereich, der mehr oder weniger sein Herrschaftsgebiet ist. Pierre und mir ist es nur unter Auflage strenger Beschränkungen erlaubt, dort einzudringen.
«Guten Morgen Madame. Wünschen Sie das Übliche?»
«Guten Morgen Charles. Ja bitte.»
Eigentlich haben wir auch ein Esszimmer, aber da Pierre und ich nichts mehr essen, haben wir uns angewöhnt, im Wohnzimmer zu frühstücken, was eigentlich nur einige Tassen Kaffee bedeutet, für Pierre schwarz und für mich mit Milch. Charles bereitet den besten Kaffee zu, den ich kenne, er kocht und backt auch ganz hervorragend, aber diese Seite an ihm kann ich nun niemals wieder würdigen.
Während ich auf Pierre und meinen Kaffee warte, blättere ich ein wenig in der Lokalzeitung, die Charles für uns bereitgelegt hat. Eigentlich ist Lorgues tiefste Provinz, noch sehr dörflich im Charakter, wenn man von der zentralen Kirche mit angeschlossenem Kloster absieht. Im Grunde viel zu dörflich für ein Vampirehepaar, unsereiner fällt in so einer Umgebung viel schneller auf, als in der Anonymität der Stadt. Deshalb müssen Pierre und ich auch immer in eine größere Stadt fahren, wenn wir trinken müssen. Etwas, was mir noch sehr unangenehm ist, denn die freien Blutwirte stellen sich nur deshalb zur Verfügung, weil unser Biss sie so sehr erregt. Sex gegen Blut lautet das Geschäft, was schon schwierig genug ist, wenn man als einzelner Vampir einen Blutwirt sucht.
In diesem Augenblick kommt Charles mit meinem Kaffee herein, doch neben dem Duft des Getränks bemerke ich sofort einen anderen Geruch. Charles hat eine frisch gebackene Brioche neben meine Tasse gestellt, so wie er es früher oft gemacht hat. Ich habe diese Brioches immer geliebt, fast so sehr, wie Catherines Crêpes. Der Anblick des Gebäcks macht mich traurig. Ich bin dem Tod entkommen, ich habe viel gewonnen, aber ich habe auch sehr viel verloren.
Meine Kehle ist wie zugeschnürt, so dass ich gar nichts sagen kann, während Charles das Geschirr vor mir arrangiert, auch wie früher. Offenbar merkt er gar nicht, was er da anrichtet, deshalb überwinde ich mich, als er sich gerade abwenden will.
«Charles?»
Er wendet sich mir zu und schaut erwartungsvoll.
«Madame?»
Schweigend schiebe ich den Teller mit der Brioche von mir und schüttele leicht den Kopf. Charles starrt einen Augenblick verblüfft, dann wird er kreidebleich.
«Oh Gott. Was habe ich getan … Verzeihen Sie Madame, es tut mir schrecklich leid. Ich habe tatsächlich ganz vergessen … »
Hastig rafft er den Teller und das zugehörige Besteck zusammen, ohne in der Lage zu sein, mir in die Augen zu schauen. Für jemanden, der so sehr auf Korrektheit Wert legt, wie Charles, muss seine Vergessenheit eine mittlere Katastrophe sein.
«Es tut mir leid, Charles. Ich habe deine Brioches immer geliebt. Ich würde viel dafür geben, sie noch einmal kosten zu können.»
Doch die Traurigkeit in meiner Stimme macht die Sache nur noch schlimmer. Charles scheint den Tränen nahe.
«Ein unverzeihlicher Fehler, Madame. Ich diene ihnen schlecht. Ich bin in letzter Zeit so vergesslich. Bitte bestrafen sie mich, ich will alles auf mich nehmen, es ist alleine meine Schuld.»
Beladen mit dem Teller und dem Besteck will er in seinen Bereich fliehen. Doch das lasse ich nicht zu. Bevor er die Tür erreicht, bin ich bei ihm und halte ihn zurück.
«Halt Charles. Jeder kann mal einen Fehler machen. Du dienst Pierre und mir mit einer Hingabe und Korrektheit, die seinesgleichen sucht. Du bist für mich mehr als ein Diener, du bist ein Freund. Denke nicht mehr daran, ok?»
Charles Gesicht ist wieder eine nicht durchschaubare Maske.
«Ich verstehe Madame. Ich danke ihnen.»
Damit wendet er sich um und entflieht.
Nachdenklich setze ich mich zu meinem Kaffee. Charles kommt in die Jahre und seine Vergesslichkeit könnte das Anzeichen einer Krankheit sein. Aber selbstverständlich ist Charles in all den Jahren nicht krank gewesen und mehr als eine gelegentliche Erkältung habe ich auch niemals bei ihm gesehen. Ich muss Pierre dazu bringen, Charles einmal zu einem Checkup zu schicken. Freiwillig geht er bestimmt nicht.
Ich trinke gerade meinen zweiten Schluck, als ich spüre, dass Pierre herunterkommt. Er hat sich ganz geschäftsmäßig angezogen. Nicht gerade Anzug und Krawatte, aber doch elegant und funktionell. Er ist so gekleidet, wie man das von einem Chef eines kleinen Unternehmens erwartet. Pierre hat mir mal erzählt, dass er darauf ziemlich Wert legt, denn es geht ja nicht nur darum, einen geeigneten Bewerber auszuwählen, sondern auch darum, gute Bewerber durch einen guten Eindruck zu interessieren.
Unser Begrüßungskuss wird von Charles unterbrochen, der mit dem Kaffee für Pierre hereinkommt.
«Guten Morgen Monsieur.»
Charles ist wieder der tadellose Butler, der keinerlei Fehler macht, aber Pierre scheint trotzdem etwas von der nervösen Spannung zu merken, die Charles ausstrahlt, zumal der es vermeidet, mich anzuschauen.
«Guten Morgen Charles.»
Als Charles nichts weiter sagt, schaut mich Pierre mit einem fragenden Blick an.
Es ist nichts weiter. Charles hat eben einen Fehler gemacht und schämt sich deswegen.
Charles und einen Fehler? Erzähl.
Er hat vergessen, dass ich verwandelt bin und hat mir etwas zu essen serviert. Sag mal. Hat er in letzter Zeit öfter etwas vergessen? Vielleicht solltest du ihn mal zum Arzt schicken.
Nicht, dass mir aufgefallen wäre. Aber du hast Recht. Ich werde einmal darauf achten und ihn untersuchen lassen. Ich vergesse nur zu leicht, dass er immer noch ein Mensch ist.
Inzwischen hat Charles den Kaffee für Pierre angerichtet und blickt auf, um weitere Wünsche entgegenzunehmen.
«Danke Charles. Trish und ich sind heute Vormittag nicht da, du hast das Haus also für dich.»
«Sehr wohl, Monsieur. Ich wünsche ihnen einen erfolgreichen Vormittag.»
Nachdem Charles das Zimmer verlassen hat, trinken wir beide still unseren Kaffee. Dieses Vorkommnis hat mich nachdenklich gemacht. Ich bin so an Charles Dienste gewöhnt, dass ich ihn fast nicht mehr zur Kenntnis nehme. Da ich nicht mehr älter werde, besteht die Gefahr, dass mir das in Zukunft öfter passiert. Das ist der erste Schritt dazu, Menschen generell als geringwertig zu ignorieren. Ein weiteres Indiz dafür, auf welchem Pfad ich mich befinde.
Pierre ist auch in Gedanken versunken, schaut mich dann aber wieder konzentriert an.
«Meinst du, dass du bis heute Nachmittag bei James fertig bist?»
«Ich denke schon. Die Arbeit macht Jules schon von allein, ich will nur schauen, dass sich Großvater nicht überanstrengt.»
«Kannst du dann auch noch die neuen Bestellungen bearbeiten? In der Nacht sind wieder ein paar hereingekommen.»
«Klar mache ich.»
Entgegen meinen Erwartungen ist der online Handel mit Wein in den letzten Jahren in Schwung gekommen und Pierre hat es geschafft, sich eine treue Stammkundschaft aufzubauen, die über ganz Europa verstreut sitzt. Das liegt hauptsächlich daran, dass Pierre seinen Webshop mit vielen Extras ausgestattet hat, wie online Weinseminaren, ausführliche Besprechungen von Weinen und Weingegenden, Empfehlungen von Lagen und Sorten, kostenlose Weinproben und so weiter. Das alles können die Leute zwar auch in guten Weingeschäften bekommen, aber eben nicht bequem von der Couch aus.
Für unsere Web Präsenz haben wir auch extra einen Computer Freak eingestellt, der die ganze Technik für uns macht. Dazu haben wir noch zwei Leute für Verpackung und Versand, den Rest der Arbeit teilen Pierre und ich uns auf. Da ich das Kaufmännische schon bei Großvater auf dem Weingut gelernt habe, mache ich das Meiste davon, aber inzwischen ist der Papierkram dermaßen angewachsen, dass wir jetzt noch jemanden für das Büro einstellen wollen. Dadurch werden Pierre und ich uns auf die Auswahl der Weine, Einkauf und Vertrieb konzentrieren können. Ich habe seit meiner Verwandlung gelernt, welche Vorteile es in diesem Geschäft hat, dass ich jetzt eine sehr empfindliche Nase habe und erheblich mehr Düfte erkennen kann, als mir dies als Mensch noch möglich war.
Langsam wird es Zeit aufzubrechen. Ich sehe, dass auch Pierre seinen Kaffee ausgetrunken hat und stehe fast synchron mit ihm auf. Lächelnd nimmt er mich in den Arm.
«Schöne Grüße an James, Liebste.»
«Bestelle ich. Und du sieh zu, dass du einen jungen, hübschen Kerl einstellst. Deine Frau will schließlich etwas fürs Auge haben.»
Pierre zieht die Augenbrauen hoch.
«Kommt gar nicht in Frage, Madame. Ich dachte da eher an eine junge Dame, die man ab und zu – eh – zum Essen ausführen kann.»
Ich wackle mit meinem Zeigefinger vor seiner Nase.
«Untersteh dich. Solche Angestellte haben die Tendenz, hysterische Anfälle zu bekommen und wegen anhaltender Angstzustände arbeitsunfähig zu werden.»
«Ach komm. So schlimm ist die Chefin des Unternehmens auch wieder nicht. Und gegen dich kann sowieso keine anstinken.»
Mit einem Kuss erstickt er einfach allen Widerspruch, den ich noch auf den Lippen haben könnte. So ein Mistkerl, immer hat er das letzte Wort. Aber eigentlich liebe ich ihn dafür. Also gebe ich mich einfach diesem Kuss hin, der ein deutliches Versprechen enthält.
Schließlich löse ich mich lachend.
«Nun aber los. Du willst unseren ersten Bewerber doch nicht gleich zu Anfang warten lassen.»
Pierre seufzt theatralisch, lässt mich aber los.
«Na gut. Geh schon mal, ich hole noch ein paar Unterlagen aus dem Büro.»
Ich werfe ihm noch eine Kusshand zu und mache mich dann auf den Weg. Großvaters Weingut liegt ein paar Autominuten außerhalb von Lorgues, so dass ich ziemlich schnell dort bin. Ich hätte den Weg auch laufen können, als Vampirin wäre ich sogar schneller, als mit dem Auto. Aber ein Mensch hätte gut eine halbe Stunde dafür benötigt, also fahre ich lieber, um nicht aufzufallen. Das Gut selbst ist ein sehr altes Anwesen, das bereits seit langer Zeit für Weinbau benutzt wird. Äußerlich sieht das Haupthaus aus, wie ein typisches altfranzösisches Bauernhaus, aber innen ist es immer wieder von den jeweiligen Besitzern renoviert und saniert worden. Als wir es vor einigen Jahren unerwartet geerbt hatten, hat Großvater nur wenig tun müssen, um es in ein modernes und gemütliches Heim zu verwandeln. Hier war ich in den letzten Jahren wahrhaft zuhause.
Im Haus treffe ich zunächst niemanden an, also schaue ich in der Küche nach. Erwartungsgemäß finde ich Catherine dort, die den Haushalt führt und schon so gut wie zur Familie gehört.
«Hallo Catherine. Weißt du, wo Großvater ist?»
Catherine wendet sich von ihrer Arbeit ab, um mich in den Arm zu nehmen.
«Hallo Trish. Ich glaube, er ist mit Jules drüben bei der Kelter.»
«Ok, dann geh ich gleich zu ihm.»
«Bleibst du zum Mittagessen?»
«Ich denke nicht, ich muss noch etwas für Pierre erledigen.»
Catherine nickt traurig und ich wende mich schnell ab, um nicht zu zeigen, wie schwer es mir fällt, sie immer wieder zu enttäuschen. Früher war es für mich selbstverständlich gewesen, bei den Mahlzeiten dabei zu sein und Catherine kann auch hervorragend kochen. Aber seit meiner Verwandlung muss ich diese Gelegenheiten zur Gemeinschaft vermeiden und Catherine versteht das natürlich nicht. Sie denkt, dass ich mich von ihr abgewendet habe. Das stimmt zwar nicht, aber wie soll ich ihr das nur klarmachen?
Diese Gedanken nach hinten schiebend, gehe ich zu der Kelter, wo ich tatsächlich Großvater und Jules antreffe. Sie sind gerade dabei, die Ernte der letzten Tage zu pressen. Damit eine gute Spätlese daraus werden kann, muss dieser Vorgang beständig kontrolliert werden, auch wenn es nicht mehr die anstrengende, manuelle Arbeit von früher ist. Großvater ist so konzentriert bei der Sache, dass er mich fast nicht wahrnimmt und ich will ihn nicht unterbrechen. Stattdessen verfolge ich das, was er tut, aufmerksam. Vieles von dem, worauf es ankommt, kenne ich schon, aber Großvater hat immer noch mehr Wissen und Erfahrung als ich. Immerhin bin ich schon so weit, dass ich mich an den Diskussionen beteiligen kann und Großvater beachtet meine Meinung genauso sorgfältig, wie die von Jules.
Nach gut zwei Stunden bemerke ich, wie die Energie von Großvater nachlässt und seine Bewegungen langsamer und träger werden. Jules ist immer noch mit Feuereifer dabei, aber er ist ja auch noch jung und dynamisch. Ich tue so, als müsste ich meine müden Knochen strecken.
«Wie wäre es mit einer kleinen Pause, Großvater?»
Er lächelt mich an und nickt.
«Gute Idee. Kommst du auch Jules?»
«Ich mache hier noch kurz zu Ende und komme dann. Geht ihr schon einmal vor.»
Also gehen Großvater und ich vor, waschen uns kurz und setzen uns im Wohnzimmer hin, wo Catherine bereits mit Kaffee und ein paar Gebäckstückchen ankommt. Dem Schein nach nehme ich auch ein Stück, das ich dann irgendwann unauffällig verschwinden lasse. Großvater muss erschöpfter sein, als ich angenommen hatte, denn er sagt erst etwas, nachdem er den Kaffee einen Moment genossen und sich ausgeruht hat.
«Bleibst du zum Mittagessen, Trish?»
«Ich muss noch die Auftragseingänge bearbeiten. Ich helfe euch, bis der Most fertig gepresst ist, dann muss ich los.»
«Danke für deine Hilfe, Schatz. Wir sind ja praktisch durch, du kannst nach der Pause also auch gehen. Ich denke, es wird ein guter Jahrgang.»
«Ja, das denke ich auch. Willst du dich damit um eine Medaille bewerben?»
«Ich weiß noch nicht. Dazu müssten wir erst einmal abwarten, wie der Gärvorgang verläuft. Wir hatten einige sehr schöne Sonnentage, also hoffe ich dass der Zuckergehalt ausreicht, um eine gute Qualität zu erzeugen.»
«Das wird schon werden, die ersten Messungen waren ja vielversprechend.»
Bevor Großvater antworten kann, kommt Jules herein und beginnt sofort eine Diskussion über die Gärung. Ich lausche ihm mit einem Lächeln. Jules sprüht nur so vor Optimismus, das liegt einfach in seiner Art. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir eine Goldmedaille bereits so gut wie sicher. Während Großvater die Dinge kühl und sachlich betrachtet, muss Jules eher gebremst werden, damit er sich nicht in irgendwelchen verrückten Ideen verrennt. Die beiden ergänzen sich hervorragend.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, stehe ich auf und gebe Großvater einen Kuss.
«So, ich gehe dann mal. Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.»
«Danke Trish. Ach ja, kannst du mir noch einen Gefallen tun?»
«Klar. Was denn?»
Großvater beugt sich zum Tisch herüber, wo ein Stapel Papiere liegt. Dort zieht er einen Brief hervor und reicht ihn mir.
«Was hältst du davon?»
Stirnrunzelnd überfliege ich den Brief. Er ist von einem der Weinbau Zulieferunternehmen aus Lorgues, mit denen wir seit Jahren Geschäfte machen. Im Wesentlichen sagt der Brief aus, dass sie nichts mehr an uns liefern wollen, es sei denn, wir wären bereit, das Doppelte der marktüblichen Preise zu zahlen. Es scheint fast so, als wollten die nichts mehr an uns verkaufen.
«Das ist aber komisch. Haben die einen an der Klatsche?»
«Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen. Ich habe schon versucht, dort anzurufen, aber die Sekretärin hat mich abgewimmelt. Offensichtlich ist ein neuer Juniorchef in die Firma gekommen und der will nicht mit mir sprechen.»
«Soll ich da mal persönlich vorbeischauen?»
«Ja, mach das bitte. Wir können unser Zubehör auch problemlos in Toulon kaufen, aber ich würde gerne zuerst wissen, was in die gefahren ist.»
«Gut, das liegt ja fast auf dem Weg. Ich sage dir dann Bescheid, wenn ich mehr weiß.»
Damit gebe ich ihm noch einen Kuss, winke Jules zu und mache mich auf den Weg. Ich entschließe mich, bei unserem Chateau zu parken und den Weg zu dieser Firma zu Fuß zurückzulegen. Der Tag ist herrlich sonnig, wie so oft hier in Südfrankreich, obwohl man der Luft bereits den Herbst und nahenden Winter anmerkt. Während auf dem Weingut bald die gemütliche Zeit beginnt, ist es für Pierre und mich etwas hektisch, denn jetzt gilt es, sich die besten Weine zu sichern, damit der Verkauf auch nächstes Jahr problemlos läuft.
Nach einem gemütlichen Spaziergang stehe ich vor dem Eingang zu dem Unternehmen, von dem wir seit Beginn unserer Anwesenheit hier die Dinge gekauft haben, die man für die Herstellung von Wein so benötigt. Ich kann mich auch noch an den Inhaber erinnern, doch wenn ich mich recht besinne, habe ich gehört, dass er vor ein paar Wochen ins Krankenhaus musste. Vermutlich hat der Juniorchef, von dem Großvater erzählte, jetzt das Sagen.
Am Empfang sitzt eine gelangweilt aussehende Blondine, die sich mit voller Intensität ihren Fingernägeln widmet. Sie ist etwa zehn Jahre älter als ich und mir sofort unsympathisch. Vermutlich sitzt sie nur wegen ihres Aussehens dort, nicht aber wegen ihrer Kompetenz. Ich werde in meiner Ansicht bestätigt, als ich an sie herantrete, sie aber keinerlei Bereitschaft zeigt, mich zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Fingernägel sind ja auch so etwas von wichtiger. Nach ein paar Sekunden verliere ich die Geduld und räuspere mich deutlich hörbar. Damit erringe ich endlich ihre Aufmerksamkeit.
«Sie wünschen?»
Ihr Tonfall ist überaus gelangweilt und deutet an, dass ich lediglich eine unwillkommene Störung bin. Mit Mühe beherrsche ich mich.
«Ich hätte gerne den Chef gesprochen.»
«In welcher Angelegenheit?»
«Es geht um einen Zuliefervertrag, den ihre Firma nicht mehr erfüllen möchte.»
«Und ihr Name?»
«Ich komme im Auftrag des Weingutes Strong.»
«Tut mir leid, der Chef ist leider beschäftigt.»
Ihre Antworten kommen ohne Zögern und in der ganzen Zeit hat diese Frau ihren Blick nicht von ihren Fingernägeln gelassen. Jetzt zieht sie auch die letzte Aufmerksamkeit wieder von mir ab, als wäre es ihr vollkommen gleichgültig, was ich angesichts dieser Zurückweisung tun werde. Heiße Wut durchströmt mich, ein solches Verhalten muss ich mir nicht bieten lassen. Diese Schlampe soll mich noch kennenlernen. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt ungeteilt auf sie gerichtet, mein Blick fokussiert sich auf sie, alles andere tritt in den Hintergrund.
«Sie werden jetzt ihrem Chef ankündigen, dass er Besuch hat, ist das klar?»
Ich weiß nicht, was diese Frau fühlt. Aber plötzlich sind ihre Augen auf mich gerichtet, ihre Pupillen weiten sich, ich rieche Angst, die aus allen ihren Poren ausbricht. Mein Gesicht ist nicht verwandelt, aber es ist dicht davor. Ich weiß aus meinen früheren Erfahrungen mit Vampiren, dass ich jetzt eine Drohung ausstrahlen muss, die selbst die unempfindlichsten Menschen bemerken.
«Äh. Was? Oh Gott. Natürlich, natürlich, Madame. Äh. Wen soll ich melden?»
Ein Lächeln erscheint auf meinen Lippen, es ist bestimmt kein freundliches Lächeln. Ich meine es auch nicht so.
«Sagen sie ihm, dass Madame Polignac mit ihm sprechen will.»
Hastig nickt sie und greift zu ihrem Telefon. Sie scheint gute Lust zu haben, sich in eine der Ecken zu flüchten, aber der Empfang ist so gebaut, dass sie das nur erreichen kann, wenn sie ganz offen vor mir zurückweichen würde. Jemand geht am Ende der Leitung an den Apparat.
«Äh, Monsieur Dupong? Eine Dame, Madame Polignac, möchte sie sprechen. Ja, es scheint dringend zu sein. Äh, sie besteht aber darauf. Jawohl Monsieur.»
Dann wendet sie sich wieder mir zu. Ein Zittern liegt in ihrer Stimme, das zeigt, dass sie sich der Lebensgefahr bewusst ist, in der sie schwebt, auch wenn sie anscheinend keine Ahnung hat, welcher Art die Gefahr ist.
«Die nächste Tür rechts, Madame. Monsieur Dupont erwartet sie.»
Lässig nicke ich ihr zu und wende mich dem Chefzimmer zu. Diese Frau kann mir ja gleichgültig sein, aber wenn der Juniorchef dermaßen unfähige Leute einstellt, wird es diese Firma in Bälde nicht mehr geben. Das Zimmer, das ich betrete, wird von einem riesigen Schreibtisch dominiert, der aus feinstem Holz besteht, ich vermute Mahagoni. Das ganze Büro ist äußerst edel eingerichtet, alles sieht brandneu aus. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein recht junger Mann, der mir vage bekannt vorkommt. Irgendwo habe ich den schon einmal gesehen. Er schaut mit gerunzelter Stirn zu mir, sein Gesichtsausdruck deutet darauf hin, dass ich ihn bei irgendetwas Wichtigem gestört habe. Vermutlich beim Tetris Spielen.
«Was wollen sie?»
Der Tonfall ist eher unfreundlich und ich bin sowieso schon gereizt. Kein guter Anfang.
«Ich komme im Auftrag meines Großvaters, James Strong. Wir stehen seit einigen Jahren in einer geschäftlichen Beziehung und sie haben uns vor kurzem einen Brief geschrieben, mit dem sie diese aufkündigen wollen. Ich bin hier, um nach dem Grund zu fragen.»
Der Mann schaut mich einen Augenblick verblüfft an, dann ändert sich sein Gesichtsausdruck von genervt in höhnisch.
«Wir können Geschäfte treiben, mit wem wir wollen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Auf Wiedersehen – Madame.»
Sein Zögern deutet darauf hin, dass er Mademoiselle hat sagen wollen, bevor er sich auf Madame verbessert hat. Offensichtlich kennt er mich auch und zwar aus einer Zeit, als ich noch nicht verheiratet war. Plötzlich fällt es mir wieder ein. Die ziemlich unangenehme Szene von damals erscheint vor meinem geistigen Auge, Mathéo, ein Stand dieser rechtspopulistischen Partei Front Nationale, eine schwarze Frau, der ich geholfen habe.
Ich trete an den Schreibtisch heran, beuge mich leicht vor und fixiere diesen Kerl mit den Augen.
«Ich kenne Sie doch. Sind Sie nicht dieser Typ, der sich für die Front Nationale eingesetzt hat? Dieser Freund von dem Kinderschänder Mathéo?»
Der Mann springt auf und faucht mich ärgerlich an.
«Bringen sie mich nicht mit diesem Verräter in Verbindung. Monsieur Dubois wurde ordnungsgemäß aus der Partei ausgeschlossen, als seine widernatürlichen Neigungen bekannt geworden waren.»
Nun, ohne Pierres Bemühungen wären Mathéos widernatürliche Neigungen vermutlich immer noch verborgen. Aber das braucht dieser Kerl nicht zu wissen.
«Wie auch immer. Warum legen sie ein dermaßen unprofessionelles Verhalten an den Tag?»
Der Blick von Monsieur Dupont flackert zwischen Widerwillen und Triumph.
«Das braucht sie nicht zu interessieren.»
«Es hat doch etwas mit ihrer rechtsradikalen Gesinnung zu tun, nicht wahr?»
Damit habe ich ins Schwarze getroffen, jetzt überzieht Wut sein Gesicht.
«Ich warne Sie Madame. Ihre Verleumdungen könnten Sie teuer zu stehen kommen. Mit Leuten ihrer Gesinnung sollten wahre Franzosen keine Geschäfte machen.»
«Gesinnung, was meinen Sie mit Gesinnung?»
Meine Stimme hat einen warnenden Unterton angenommen, ich bin kurz davor zu explodieren. Aber diese Made bemerkt das in seiner Wut gar nicht.
«Ausländer wie Sie richten die Grande Nation zugrunde. Sie lassen diese illegalen Schmarotzer bei sich arbeiten, die guten Franzosen die Arbeitsplätze wegnehmen. Und dann pumpen Sie die auch noch dermaßen voll Geld, dass sie ihrer ganzen Brut zuhause Bescheid sagen, dass es hier jede Menge Gold zu erbeuten gibt. Und so kommen immer mehr von diesen Illegalen und zerstören unser Land.»
Rote Schlieren durchziehen meinen Blick. Er spielt auf die Saisonarbeiter an, die jeder Weinbauer während der Lese benötigt. Großvater achtet immer darauf, dass alle eine Arbeitserlaubnis haben, und zahlt den nicht sehr hohen, aber offiziell festgelegten Mindestlohn. Bei besonderen Leistungen, wie bei der Ernte des Spätlesefeldes, zahlen wir auch Zuschläge. Doch aus dem Mund dieses Dreckskerls hört sich das an, wie ein Verbrechen.
In einem Augenblick bin ich um den Schreibtisch herum. Ein Knurren entspringt meiner Brust und eine unbändige Lust am Töten durchströmt mich. Er hat nur noch Zeit für ein kurzes Japsen, dann sind meine Hand an seiner Kehle und mein Mund in der Nähe seines Halses. Mein Mund verändert sich, die Gier nach seinem Blut erfüllt mich. Aber der Ekel, von einem solchen Menschen zu trinken, lässt mich im letzten Augenblick zögern.
Mit unglaublicher Mühe zwinge ich meine Reißzähne wieder zurück, ganz langsam gewinne ich die Kontrolle über das Monster, das in mir erwacht ist. Er versucht sich zu befreien, der Mann ist breiter und massiger als ich. Aber gegen meine vampirischen Kräfte kommt er nicht an.
«Wie ich sehe hat die kleine erzieherische Maßnahme meines Mannes bei ihnen nicht gewirkt.»
In meiner Stimme liegt immer noch ein Knurren, das das Tier in mir zum Ausdruck bringt. Jetzt zappelt der Kerl in Todesangst, ein Tod, den ich ihm nur zu gerne gewähren würde. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, als würde meine Vampirin die Oberhand gewinnen. Schnell stoße ich ihn von mir. Er fällt in seinen Schreibtischstuhl, durch den Schwung bis zur Wand rollend. Entsetzt greift er sich an den Hals und starrt mich an.
Ich bin Trish, ich bin noch menschlich.
Ich.
Bin.
Noch.
Menschlich.
Ich bin keine Mörderin, die Vampirin beherrscht mich nicht. Sie dient mir, nicht ich ihr. Ich bin noch menschlich, menschlich. Ich bin kein Tier.
Durch die ständige Wiederholung des Mantras dränge ich die Vampirin immer weiter nach hinten. Kaltes Grauen überdeckt die Wut, die mich erfüllt. Schließlich vermag ich wieder auf diesen Mann zu blicken, ohne mir vorzustellen, wie er als Leiche vor mir liegt.
«Sie haben Recht, Monsieur. Unsere Firmen haben keinerlei Geschäftsgrundlage mehr. Beten Sie, dass wir uns nicht mehr über den Weg laufen.»
Diesmal klingt meine Stimme nur noch kälter als Eis. Abrupt wende ich mich ab und verlasse das Zimmer, bevor er sich erholen und nach der Polizei rufen kann. Auch die Blondine beachte ich nicht. Stattdessen stürme ich an die frische Luft und ziehe gierig den Atem ein. Aber die Schatten in meinem Inneren kann das nicht vertreiben.