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3. Valerie

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Ich brauche den gesamten Rückweg zum Chateau, um meine Vampirin endgültig unter Kontrolle zu bringen. Mein Gott, so nahe war ich noch niemals dran gewesen, jemanden kaltblütig und vorsätzlich zu ermorden. Die drei Männer, die ich bei meiner Flucht vor Baxter umgebracht habe, waren die Opfer meiner Panik gewesen, meiner Angst vor dem Verräter. Aber das hier wäre etwas anderes gewesen. Nicht, dass es dieser Kerl nicht verdient hätte, aber bei den Menschen ist es nicht verboten, ein Mistkerl zu sein. Es ist noch nicht einmal verboten, ein Rassist zu sein. Aber es ist verboten, jemanden umzubringen, weil er ein Rassist ist.

Für einen Moment freue ich mich, eine Vampirin zu sein. Ein Vampir ist keinen Gesetzen unterworfen, außer den Gesetzen des Stärkeren und dem Gesetz der Auserwählten. Aber dann schaudert mich. Gregori war ein Stärkerer, Baxter war ein Stärkerer. Sie haben sich genommen, was sie wollten. Will ich tatsächlich so werden, wie sie waren? Was ist bloß los mit mir? Die Trish, die ich vor noch nicht einmal einem Jahr gewesen bin, hätte sich auch über diesen FN Typen geärgert, aber diesen überwältigenden Wunsch zu töten, den hatte ich früher nicht.

Als ich unser Wohnzimmer betrete, bin ich immer noch tief erschüttert von den Geschehnissen. Charles erwartet mich selbstverständlich bereits.

«Guten Tag Madame. Wünschen Sie etwas zu trinken?»

«Guten Tag, Charles. Ein Kaffee wäre jetzt das Richtige.»

«Sehr wohl, Madame.»

Er will sich gerade zurückziehen, da halte ich ihn mit einer Frage zurück.

«Charles?»

«Madame?»

«Du kennst Pierre jetzt schon wie lange?»

«Beinahe dreißig Jahre, Madame.»

«Und war er in dieser Zeit jemals gewalttätig gegen Menschen?»

Charles betrachtet mich stirnrunzelnd. Er ahnt wohl, dass ich einen besonderen Grund für diese Frage habe, aber er erlaubt es sich nicht, danach zu fragen.

«Nein Madame. Er hat vor etwa zwanzig Jahren eine Firma mit fast einhundert Mitarbeitern geführt, da ist es durchaus zu Konflikten gekommen. Aber Monsieur hat aus seiner Stärke immer auch die Ruhe gewonnen, den Menschen in diesen Konflikten überlegen zu sein. Da hatte er es nicht nötig, gewalttätig zu werden.»

«Danke, Charles.»

Das habe ich mir gedacht. Pierre hat seinen Vampir viel besser unter Kontrolle, als ich. Vor zwanzig Jahren hat auch Mireille noch gelebt, seine erste Frau und Blutgefährtin. Sie hat ihn menschlich gemacht, also konnte er wie ein Mensch agieren, aber mit der Stärke und der Schnelligkeit eines Vampirs. Aber wer macht mich menschlich? Und wenn ich aufhöre, menschlich zu sein, wer macht dann Pierre menschlich?


Mit Mühe schüttele ich die düsteren Gedanken ab. Ich bin, was ich bin, zu was mich Baxter gemacht hat. Es gibt keinen Weg zurück. Also bleibt mir nur, mich damit abzufinden, dass ich jetzt viel stärker als früher den Wunsch habe, Menschen zu beherrschen, zu töten und zu jagen. Ich muss halt vermeiden, mich aufzuregen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass schon später Mittag ist. Ich hatte Pierre versprochen, noch die Bestellungen zu bearbeiten, also sollte ich mich mal langsam daransetzen. Doch vorher muss ich Großvater noch von dem netten Herrn Dupont berichten. Also greife ich zum Telefon, Großvater geht bereits beim dritten Klingeln dran.

«Trish?»

«Hallo Großvater. Ich habe keine guten Nachrichten.»

«Was ist los?»

«Ich war bei der Zulieferfirma. Sie ist tatsächlich von einem neuen Juniorchef übernommen worden und er will nicht weiter mit uns Geschäfte machen.»

«Wieso das denn?»

«Der Neue ist ein Monsieur Dupont. Ich kenne den von früher. Er ist aktives Mitglied bei der Front National und scheint der Meinung zu sein, wir würden unsere Saisonarbeiter zu gut bezahlen.»

«Was soll das denn? Ist der verrückt? Alle Weinbauern bezahlen ihre Saisonarbeiter gut.»

«Ja, aber offensichtlich ist unser Monsieur Dupont der Meinung, man muss denen einen Hungerlohn zahlen, um sie aus dem Land zu ekeln.»

Dazu schweigt Großvater einen Moment. Ich kann fast sehen, wie sein Unterkiefer arbeitet, wie immer, wenn er verärgert ist.

«Na gut, Trish. Da kann man wohl nichts machen, dann werden wir unser Zubehör eben woanders kaufen.»

«Äh, Großvater?»

«Was ist?»

«Nun ja, es kann sein, dass ich ein wenig, nun ja, wütend geworden bin. Möglicherweise beschwert sich dieser Monsieur Dupont in seinen Kreisen, dass ich ihn angegriffen habe.»

«Und? Hast du ihn angegriffen?»

«Du musst ihn dir mal anschauen, Großvater. Er ist bestimmt dreißig Kilo schwerer als ich.»

«Ich habe nicht die Absicht, diesem Monsieur Dupont in irgendeiner Weise näher zu kommen.»

«Ich wollte dich nur vorwarnen. Falls du irgendwelche Gerüchte hörst, kannst du ja immer noch betonen, dass ich ihn immerhin nicht umgebracht habe.»

Großvater lacht, vermutlich kann er sich nicht vorstellen, dass ich jemanden umbringen könnte.

«Gut Trish, das werde ich. Danke für deine Mühe.»

«Kein Problem. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.»

«Dir auch, Trish. Auf Wiederhören.»

Gott sei Dank hat Großvater nicht gemerkt, dass ich seiner Frage nach dem Angriff ausgewichen bin. Nicht, dass ich nicht auch lügen könnte, aber seit den Ereignissen vor drei Jahren habe ich eine Aversion dagegen, Großvater anzulügen. Lügen führen in der Regel zu noch mehr Lügen und das ganze Lügengebäude bricht dann irgendwann zusammen. So, jetzt muss ich mich aber an meine Arbeit machen.


Mit einem Klick der Maus nehme ich mir die nächste Bestellung vor. Als ich den Kundennamen markiere, zeigt mir das Programm an, dass wir es hier mit einem Neukunden zu tun haben. Erwartungsgemäß will er eine Weinprobe haben. Die meisten Neukunden wollen das. Das Angebot mehrerer kleiner, aber kostenloser Flaschen verschiedener Weine ist unser bestes Zugpferd, Leute für diese Art, Wein zu kaufen, zu interessieren. Wein im Internet zu verkaufen ist ein sehr neuer Vertriebsweg und es ist schwer, sich gegen die klassische Verkaufskonkurrenz durchzusetzen. Aber entgegen meiner Skepsis hat sich der Riecher von Pierre bewährt und unser Geschäft fängt an, zu florieren.

Doch die Ereignisse von heute Mittag beschäftigen mich immer noch, so dass ich es kaum schaffe, die Konzentration für meine Arbeit aufzubringen. Dazu kommt noch das Foto, das neben dem Bildschirm auf dem Schreibtisch steht. Immer wieder gleitet mein Blick dorthin. Es zeigt mich, eine junge, schlanke Frau in einem Traum von Kleid. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal sehen würde, wie das Hochzeitskleid an mir ausgesehen hat, aber dank der Errungenschaften der Digitalfotografie kann ich das jetzt jederzeit tun. Auf einem klassischen Foto wäre nichts zu sehen gewesen und unser Fotograph wäre sehr traurig darüber gewesen. Auch Pierre ist mit auf dem Bild, glücklich lächelnd, in seinem rassigen Anzug. Es ist das schönste Bild von Pierre und mir, das an diesem Tag gemacht worden ist.

Auf dem Foto kommt es mir so vor, als wäre ich schlanker als früher und den verschiedenen Bemerkungen von Großvater nach, habe ich in letzter Zeit tatsächlich Gewicht verloren. Aber das ist auch kein Wunder bei der extrem kohlehydratarmen Art von Nahrung, die ich jetzt zu mir nehme. Etwa ein Mal im Monat ziehen Pierre und ich los und suchen zwei Blutwirte, die nicht nur bereit sind, uns Leben in Form von Blut zu schenken, sondern auch bereit sind, den Sex, der damit unvermeidlich verbunden ist, miteinander zu teilen, anstatt mit dem Vampir. Denn in dieser Hinsicht gehört Pierre alleine mir und das macht eine Ehe von zwei Vampiren auch so schwierig.

Zähneknirschend rufe ich die nächste Bestellung auf. Ich will diese Arbeit endlich erledigen. Aber ich schaffe es lediglich, zwei weitere zu bearbeiten, bevor meine Gedanken wieder abschweifen. Die Hochzeit war der glücklichste Tag meines Lebens gewesen und ich will, dass es dabei bleibt. Diese Schatten in mir werde ich überwinden und eine Ewigkeit mit Pierre glücklich sein, basta.

Meine Gedanken werden durch eine Bewegung vor den Grenzen unseres Chateaus unterbrochen. Das Herrenhaus ist groß, 15 Zimmer, eine obere Etage, einen von einer Mauer umgrenzter Innenhof und eine wunderschöne Kastanienallee, die auf den weiten Bogen unseres Eingangstores führt. Vampire mögen es groß und geräumig und inzwischen kann ich das nachvollziehen. Draußen muss ich immer auf der Hut sein, immer aufpassen, dass ich nicht auffalle, also ist es gut, einen Bereich zu haben, in dem ich so sein kann, wie ich eben bin.

Draußen hat ein Auto gehalten und jemand ist ausgestiegen. Als Mensch hätte ich das nicht mitbekommen, aber meine vampirischen Sinne sind so viel schärfer. Unwillkürlich scanne ich den Ankömmling darauf, ob er ein Vampir oder ein anderes übernatürliches Wesen ist, aber ich spüre nichts. Also ist es vermutlich ein Mensch und Charles kann sich darum kümmern. Bewusst blende ich die Geräusche aus, die zeigen, dass der Ankömmling geklingelt hat und jetzt mit Charles redet. Ich muss endlich diese Bestellungen fertig bekommen. Doch kaum habe ich die Nächste geöffnet, werde ich dadurch aus der Konzentration gerissen, dass Charles vor der Tür steht und klopfen will.

«Ja, was ist Charles?»

Charles öffnet die Tür, ohne jegliches Erstaunen darüber, dass ich seine Anwesenheit schon bemerkt habe. Er weiß, wie scharf die Wahrnehmung von Vampiren ist.

«Entschuldigen sie die Störung, Madame. Eine Madame Delon steht draußen und möchte sie sprechen.»


Unwillkürlich atme ich scharf ein, ein Schmerz durchzuckt mich, der Schmerz einer nicht verheilten Enttäuschung. Valerie! Was will Valerie hier? Valerie war einmal meine beste Freundin gewesen, sie wohnte mit mir in einer WG, als ich in Montpellier Weinbau studierte. Sie wusste nichts von der übernatürlichen Welt, bis Jerome, der Vampir, der beauftragt war, mich zu entführen, sie verführte und ihr die Existenz von Vampiren offenbarte.

Nachdem ich wieder frei war, traf ich Valerie in dem Club eines Gestaltwandlers wieder, wo sich Vampire ihre Blutwirte suchen. Valerie war dem Verlangen nach dem Sex verfallen, den Vampire bieten können, obwohl sie von Vampiren in ihrer tiefsten Seele abgestoßen und angeekelt war. Als sie bemerkte, dass ich verwandelt worden war, ist sie voller Entsetzen und Abscheu geflohen. Sie ist weder zu meiner Hochzeit gekommen, noch hat sie es für nötig gehalten, auf die Einladung zu antworten.

«Soll ich sagen, dass Sie nicht zu sprechen sind?», fragt Charles, als ich nichts sage.

Was will Valerie? Ich habe nicht erwartet, sie jemals wiederzusehen. Der Blick des Abscheus, mit dem sie mich angeschaut hat, bevor sie entsetzt wegrannte, brennt immer noch in meinem Herzen. Und trotzdem ist sie jetzt hier, von allein zu mir gekommen, dem Monster, das sie fürchtet und vor dem ihr graut. Was kann sie nur wollen? Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum Valerie noch etwas mit mir zu tun haben wollen würde. Nun, es gibt nur einen Weg, herauszufinden, was sie trotz ihrer Abneigung hierher gebracht hat.

«Nein. Führ sie bitte in den Salon und biete ihr einen Kaffee an. Sie mag ihn schwarz mit viel Zucker. Ich bin in fünf Minuten bei ihr.»

Zitternd hole ich tief Luft und konzentriere mich auf die beiden letzten Bestellungen. Meine Gedanken rasen und ich habe Angst, dass die alte Wunde der Enttäuschung wieder aufbricht. Aber sie ist zu mir gekommen, also wird es etwas sehr Wichtiges sein. Was immer sie von mir will, sie musste sich überwinden, um hierher zu kommen. Ich habe nichts Böses getan, es war nicht ich, der diese Freundschaft geopfert hat.

Nachdem ich das Bestellprogramm geschlossen habe, gehe ich langsam in den Salon, der vom Büro aus durch das Esszimmer erreichbar ist. Valerie steht an einem der Fenster und starrt nach draußen. Sie bemerkt nicht, wie ich das Zimmer betrete. Das wundert mich nicht, denn inzwischen bewege ich mich so lautlos, wie alle Vampire. Früher habe ich gedacht, dass sie das deshalb machen, weil es Raubtiere sind, aber heute weiß ich, dass sie das tun, weil sie so gut hören können. Es ist einfach irritierend, sich in der Lautstärke einer Büffelherde fortzubewegen.

«Hallo Valerie.»

Valerie zuckt zusammen und wirbelt herum. Ich rieche Angst und etwas anderes, Kummer? Sie starrt mich an, als würde sie erwarten, dass ich mich zähnefletschend auf sie stürzen und sie aussaugen würde. Das versetzt mir wieder einen Stich, aber ich beherrsche mich und betrachte Valerie. Sie hat zugenommen und ihre Augen sind rot umrandet, was darauf hindeutet, dass sie in letzter Zeit viel geweint hat. Ihre Haare sind unordentlich zurechtgemacht und ihre Schminke ist nachlässig aufgetragen. Wenn ich daran zurückdenke, mit wieviel Sorgfalt sie sich früher bemalt und schön gemacht hat, lässt das, was ich sehe, nur einen Schluss zu. Valerie geht es schlecht.

Unsere gegenseitige Betrachtung wird unterbrochen, als Charles hereinkommt und unseren Kaffee serviert, süß und schwarz für Valerie, mit viel Milch für mich. Ich bedeute Valerie, dass sie sich setzen soll und setze mich selbst so, dass der Couchtisch zwischen uns ist.

«Danke Charles.» sage ich, als Charles sich knapp verneigt und sich zurückzieht. Dann wende ich meine Aufmerksamkeit wieder Valerie zu.


Bevor das Schweigen zwischen uns wieder wächst, platzt sie mit dem nächstbesten Thema heraus, das ihr einfällt.

«Ich wusste ja gar nicht, dass ihr einen Butler habt. Er wirkt so echt. Genauso wie in diesen englischen Filmen. Wie bist du denn an den geraten?»

«Charles befindet sich seit fast dreißig Jahren im Dienst von Pierre.», antworte ich sanft.

«Wirklich? Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Eher...», ihre Stimme versagt, als sie merkt, dass sie beginnt Unsinn zu reden.

«Eher ein Faktotum, das über Särge wacht und mit Blut grausige Zeremonien abhält?», vollende ich ihren Satz.

Valerie wird rot.

«Äh, du siehst echt gut aus, Trish. Viel schlanker...»

«Warum bist du hier, Valerie?» unterbreche ich sie.

Aus dem Konzept gerissen setzt sie zwei Mal zu einer Antwort an und senkt dann den Kopf.

«Ich weiß nicht mehr weiter, Trish. Ich bin am Ende. Du bist die Einzige, die mir noch helfen kann.»

Valerie so am Boden zerstört zu sehen, macht mich traurig. Früher habe ich immer versucht, sie vor sich selbst zu schützen, aber Jerome hat meine Bemühungen zerstört und offensichtlich hat es Valerie nicht geschafft, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

«Was ist passiert?»

Valerie braucht noch einen Moment, dann fängt sie an zu erzählen.

«Nachdem du ausgezogen bist, hatte ich Angst und die Nase voll von Männern und Sex. Ich habe gelebt wie eine Nonne. Ich habe meinen Master in Rekordzeit abgeschlossen, wollte nur weg aus Montpellier. Ich meine, wie hätte ich denn wissen können, ob ich nicht wieder auf einen – einen von ihnen treffen würde.»

Ich weiß, was Valerie meint. Als Mensch zu erkennen, dass man einen Vampir vor sich hat, ist sehr schwer, selbst ich habe Jerome erst als Vampir erkannt, als es schon zu spät war.

«Ich bin dann in mein Heimatdorf geflohen und habe eine Anstellungen in einem Ingenieurbüro für landwirtschaftliche Maschinen gefunden. Dort habe ich dann Andrej getroffen. Erst wollte ich es nicht wahrhaben, aber er ist der Mann, den ich mir schon immer erträumt habe. Er ist sanft und zuvorkommend, er will Kinder und eine große Familie, er sieht gut aus und hat eine geheimnisvolle Seite. Und er ist an mir interessiert und hat mich nach allen Regeln der Kunst umworben.»

Valerie stockt.

«Das ist doch wundervoll», wende ich ein.

Valeries Augen werden feucht, aber sie bricht nicht in Weinen aus.

«Es war auch wundervoll bis wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben. Andrej konnte sich bemühen, wie er wollte, aber ich bin nicht in Fahrt gekommen. Es war, als wäre mir jegliche Lust abhandengekommen. Immerzu hatte ich das Gefühl, als müsste dieser besondere Kick noch kommen.»

Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht laut zu fluchen. Menschliche Blutwirte geben sich Vampiren hin, weil deren Biss eine so euphorische, sexuelle Wirkung hat. Aber die Nebenwirkung des Vampirbisses ist, dass es für den Menschen unmöglich wird, eine normale sexuelle Beziehung zu einem anderen Menschen zu führen. Hat man sich zu tief auf unsere Welt eingelassen, gibt es keinen einfachen Weg mehr heraus. Und Valerie ist zu tief in die übernatürliche Welt eingetaucht.

«Andrej dachte, es läge an ihm, dass er etwas falsch macht und in meiner Verzweiflung habe ich ihm dann erzählt, warum ich nicht mehr in der Lage bin, normalen Sex zu haben.»

Valerie senkt den Kopf.

«Er hat mir nicht geglaubt. Er denkt, ich hätte Wahnvorstellungen und wäre in meiner Kindheit missbraucht worden oder so. Er will, dass ich therapeutische Hilfe suche. Wenn ich das nicht tue, dann ist er nicht mehr in der Lage, mit mir zusammen zu sein, hat er gesagt.»


Valerie schweigt und ich bin verwirrt. Warum kommt sie damit zu mir?

«Vielleicht solltest du wirklich einen Therapeuten aufsuchen, Valerie. Nicht weil du Wahnvorstellungen hattest, sondern weil du so einen Weg finden könntest zu vergessen. Du könntest dir selbst einreden, du hättest Wahnvorstellungen gehabt. Dann könntest du zusammen mit Andrej einen Weg suchen, wie ihr zusammen sein könntet, ohne dass du auf deine Lust zurückgreifen musst.»

Valerie runzelt die Stirn und blickt mich an. Ich sehe, dass sich ihr Gesicht anspannt, wie das immer der Fall ist, wenn sie wütend ist.

«Du willst, dass ich mich zur Irren mache, obwohl ich gar nicht irre bin. Du hast mir das schließlich alles eingebrockt.»

Jetzt werde ich selbst wütend.

«Wieso habe ich dir das eingebrockt? Ich habe dich eindringlich vor Jerome gewarnt. Ich habe versucht, dich davon abzuhalten, dich in etwas zu stürzen, dessen Konsequenzen du nicht verstehen kannst. Ich habe dich beschworen, dich aus einer Welt zu lösen, die nicht die deine ist.»

«Du hast mich angelogen.»

«Ich habe versucht, dich zu schützen.»

«Aber erst lebst du fast zwei Jahre unter meinem Dach. Warum bist du nicht bei einem deiner Art untergekrochen?»

Einen Moment ziehen wieder rote Schlieren vor meinen Augen, so wütend bin ich. Nach dem, was ich getan habe, um Valerie abzuschirmen, sind ihre Vorwürfe mehr als ungerecht. Mein Herz beginnt wieder zu schmerzen, meine Muskeln spannen sich, die Emotionen drohen, mit mir durchzugehen. Aber das dürfen sie nicht, das würde nur meine Vampirin hervorlocken. Ich will Valerie anschreien, aber ich beherrsche mich. Als Vampir die Beherrschung zu verlieren, kann katastrophale Folgen haben.

«Ich bin bei einem meiner Art untergekrochen.»

Jetzt schnappt Valerie nach Luft und funkelt mich an.

«Ich bin nicht von deiner Art.»

«Ich war von deiner Art.»

Das verblüfft Valerie. Ihr Gesichtsausdruck wird unsicher.

«Wie meinst du das?»

«Warum meinst du wohl habe ich mein Studium abgebrochen? Verwandelt darf ich in Montpellier nicht studieren.»

«Warum das denn?»

«Das hat Gründe, die dich aber nichts angehen. Es sind interne Gründe meiner Art, meiner jetzigen Art. Tatsache ist, dass ich ein Mensch war, studieren wollte und dich in diese ganze Sache niemals reinziehen wollte. Es tut mir leid, dass das nicht funktioniert hat, aber was geschehen ist, ist geschehen. Du musst jetzt einfach damit umgehen, genauso wie ich.»

Das bringt Valerie einen Augenblick zum Nachdenken. Aber ihre Wut ist stärker.

«Du hast gut reden. Du hast in diesen Palast hier reingeheiratet und machst jetzt, was auch immer ihr so den ganzen Tag macht. Aber Jerome hat mein Leben zerstört, wegen ihm wird mir der Mann meines Lebens abhauen. Ich habe nachts Albträume, ich schrecke hoch, weil ich das Gefühl habe, er würde jeden Augenblick vor der Tür stehen. Wenn Andrej mich in den Arm nimmt, dann sehe ich Jeromes Zähne und mein Körper verspannt sich in Erwartung von dem Kick, der nicht kommt.»

«Jerome wird niemals wieder auftauchen.»

«Woher willst du das wissen? Die Polizei fahndet nach ihm, aber er ist bislang verschwunden.»

«Die menschliche Polizei fahndet nach ihm, er wird aber niemals gefunden werden. Meine Art kann man nicht einsperren. Entweder du hältst dich an die Gesetze oder…»


Das bremst Valerie endgültig. Sie hat sehr wohl verstanden, ich muss ihr nicht erzählen, dass ich selbst für Gerechtigkeit gesorgt habe. Jerome war der erste, den ich getötet habe. Ich benutze die Pause, um auf das eigentliche Problem zurückzukommen.

«Valerie. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Jetzt hängt es allein an dir und deinem Andrej, welcher Weg möglich ist. Wenn er dich wirklich liebt, wird er dich so lieben, wie du jetzt bist. Wenn nicht, dann gib ihm den Laufpass und vergiss ihn.»

Valerie senkt ihren Kopf. Die Wut läuft aus ihr heraus, wie Wasser aus einem zersprungenen Glas.

«Ich will doch nur, dass er mir glaubt. Wenn ihm klar ist, was tatsächlich geschehen ist, dann wird er auch ganz anders mit mir umgehen. Jetzt denkt er, ich würde mir irgendwelche Geschichten ausdenken und ist davon überzeugt, dass ich nur durch eine Behandlung so normal werden kann, dass er sein Leben mit mir verbringen kann.»

«Dann geh doch in eine Behandlung. Erzähle dem Therapeuten, was passiert ist und er wird es so nehmen, wie du das erzählst. Für ihn ist es gleichgültig, ob du die Wahrheit sagst oder nicht, er wird dir helfen, damit zurechtzukommen.»

Das facht Valeries Wut aber nur wieder an.

«Ich will nicht, dass mir irgendein dahergelaufener Therapeut glaubt, ich will, dass mir Andrej glaubt. Ich will ihm nicht vorspielen, ich wäre eine geheilte Irre, nur damit sein Weltbild erhalten bleibt. Er soll begreifen, was ihr mir angetan habt.»

Langsam hole ich tief Luft. Offensichtlich fühlt sich Valerie besser, wenn sie mir die Schuld zuschieben kann.

«Wie auch immer. Warum bist du hier?»

Valerie stockt, an ihren Augen sehe ich, dass sie jetzt zu dem eigentlichen Anlass ihres Besuches kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich nicht erfreut sein werde.

«Na ja. Ich dachte, wenn mir Andrej nicht glaubt, egal, was ich sage, so wäre er doch gezwungen, einem von euch zu glauben. Es ist ziemlich schwer, euch für eine Erfindung zu halten, wenn man die Zähne direkt vor Augen hat. Und du bist die einzige, die ich aus eurer Welt kenne, du und Pierre. Also hatte ich gehofft, dass du…»

Aha, daher weht also der Wind. Ich soll das Monster spielen, damit dieser Andrej Valerie ernst nimmt.

«Aber Valerie. Wir dürfen unsere Existenz nicht einfach in die Welt hinausposaunen. Das könnte grauenhafte Konsequenzen haben.»

«Aber immer, wenn ihr jemandem Blut abzapft, dann macht ihr doch klar, dass es euch gibt.»

«Ja, aber das sind immer einzelne Leute, von denen im Zweifel angenommen wird, dass sie Wahnvorstellungen hatten, so wie bei dir.»

«Aber Andrej wäre ja auch nur ein einzelner und wenn er versuchen würde, es an die große Glocke zu hängen, würde ich ihn stoppen.»

Offensichtlich hat sich Valerie die Sache gut ausgedacht. Im Grunde hat sie Recht. Einen einzelnen Menschen im privaten Umfeld über die Existenz der übernatürlichen Welt aufzuklären, hätte vermutlich nicht schwerwiegendere Konsequenzen, als sich einen neuen Blutwirt zu suchen. Und was auch wichtig ist, ich möchte Valerie gerne helfen. Der Bruch zwischen uns war sehr schmerzhaft. Wir haben uns so nahe gestanden, dass ich dachte, wir würden ein Leben lang Freundinnen bleiben können. In Montpellier habe ich ständig versucht, Valerie von unüberlegten Beziehungen abzuhalten. Dass sie jetzt so überzeugt von Andrej als den Mann ihres Lebens berichtet, macht mich zusätzlich neugierig. Kurzentschlossen treffe ich eine Entscheidung.

«Na gut», sage ich, «ich werde deinen Andrej aufklären.»

Ein Strahlen geht über Valeries Gesicht, ihr fällt sichtlich eine schwere Last vom Herzen.

«Danke. Danke, Trish.»

«Aber dir muss klar sein, dass das auch massiv nach hinten losgehen kann. Vielleicht lässt er dich endgültig fallen, weil du ihm ein Monster auf den Hals gehetzt hast.»

Oder er will die Öffentlichkeit um jeden Preis informieren, woraufhin ich ihn beseitigen müsste. Aber das erzähle ich Valerie lieber nicht. Sie lässt aufgrund meiner Bemerkung wieder den Kopf hängen.

«Ich habe ihn ja schon so gut wie verloren. Das Risiko muss ich eingehen.»

Dazu schweige ich lieber. Dieser Andrej muss Val schon ziemlich tief erwischt haben, so wie sie jetzt reagiert. Früher war sie immer schnell bereit, eine Beziehung einzugehen, aber sie ist über ein Scheitern auch immer schnell weggekommen. Zumindest von ihrer Seite scheint es diesmal echt ernst zu sein. Ich kann nur hoffen, dass es Andrej auch Wert ist.

«Wie kann ich ihn denn am besten treffen?»

«Übermorgen fahre ich zu meinem jüngeren Bruder. Ich habe mir dafür extra freigenommen. Andrej hat noch keine Pläne für den Abend, das wäre für dich die beste Zeit, mit ihm zu reden.»

Sie diktiert mir den Namen und die Adresse des Ingenieurbüros, in dem Andrej arbeitet. Wir vereinbaren, dass Valerie ihm nichts von meinem anstehenden Besuch erzählt, ich will ihn unvoreingenommen treffen und zuerst sehen, was er für ein Typ ist. Nachdem wir die Details geklärt haben, merke ich, dass Val unruhig wird. Sie ist über die Tatsache, dass ich verwandelt bin, immer noch nicht hinweggekommen. Wenn ich ihr geholfen habe, werde ich sie vermutlich trotzdem nie wiedersehen.

Nun, vielleicht ist das auch besser so.

Blutgefährtin 3

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