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Zweites Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Zum Sommer, im Mai vielleicht schon, oder im Juni, zog Tony Buddenbrook immer zu den Großeltern vors Burgtor hinaus, und zwar mit heller Freude.

Es lebte sich gut dort draußen im Freien, in der luxuriös eingerichteten Villa mit weitläufigen Nebengebäuden, Dienerschaftswohnungen und Remisen und dem ungeheuren Obst-, Gemüse- und Blumengarten, der sich schräg abfallend bis zur Trave hinunterzog. Die Krögers lebten auf großem Fuße, und obgleich ein Unterschied bestand zwischen diesem blitzblanken Reichtum und dem soliden, wenn auch ein wenig schwerfälligen Wohlstand in Tonys Elternhause, so war es augenfällig, daß bei den Großeltern alles immer noch um zwei Grade prächtiger war, als zu Hause; und das machte Eindruck auf die junge Demoiselle Buddenbrook.

An eine Tätigkeit im Hause oder gar in der Küche war hier niemals zu denken, während in der Mengstraße der Großvater und die Mama wohl gleichfalls nicht viel Gewicht darauf legten, der Vater aber und die Großmama sie oft genug mahnten, den Staub zu wischen und ihr die ergebene, fromme und fleißige Kusine Thilda als Muster vorhielten. Die feudalen Neigungen der mütterlichen Familie regten sich in dem kleinen Fräulein, wenn sie vom Schaukelstuhle aus der Zofe oder dem Diener einen Befehl erteilte … Zwei Mädchen und ein Kutscher gehörten außer ihnen zum Personale der alten Herrschaften.

Was man sagen mag, so ist es etwas Angenehmes, wenn beim Erwachen morgens in dem großen, mit hellem Stoff tapezierten Schlafzimmer die erste Bewegung der Hand eine schwere Atlassteppdecke trifft; und es ist nennenswert, wenn zum ersten Frühstück vorn im Terrassenzimmer, während durch die offene Glastür vom Garten die Morgenluft hereinstreicht, statt des Kaffees oder des Tees eine Tasse Schokolade verabreicht wird, ja, jeden Tag Geburtstagsschokolade mit einem dicken Stück feuchten Napfkuchens.

Dieses Frühstück freilich mußte Tony, abgesehen von den Sonntagen, ohne Gesellschaft einnehmen, da die Großeltern lange nach Beginn der Schulzeit herunterzukommen pflegten. Wenn sie ihren Kuchen zur Schokolade verzehrt hatte, so ergriff sie die Büchermappe, trippelte die Terrasse hinunter und schritt durch den wohlgepflegten Vorgarten.

Sie war höchst niedlich, die kleine Tony Buddenbrook. Unter dem Strohhut quoll ihr starkes Haar, dessen Blond mit den Jahren dunkler wurde, natürlich gelockt hervor, und die ein wenig hervorstehende Oberlippe gab dem frischen Gesichtchen mit den graublauen, munteren Augen einen Ausdruck von Keckheit, der sich auch in ihrer graziösen kleinen Gestalt wiederfand; sie setzte ihre schmalen Beinchen in den schneeweißen Strümpfen mit einer wiegenden und elastischen Zuversichtlichkeit. Viele Leute kannten und begrüßten die kleine Tochter des Konsuls Buddenbrook, wenn sie durch die Gartenpforte in die Kastanienallee hinaustrat. Eine Gemüsefrau vielleicht, die, ihre große Strohschute mit hellgrünen Bändern auf dem Kopf, in ihrem Wägelchen vom Dorfe hereinkutschierte, rief ihr ein freundliches »God'n Morgen ook, Mamselling!« zu, und der große Kornträger Matthiesen, der in seinem schwarzen Habit mit Pumphosen, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen vorüberging, nahm vor Ehrerbietung sogar seinen rauhen Zylinder ab …

Tony blieb ein bißchen stehen, um auf ihre Nachbarin Julchen Hagenström zu warten, mit der sie den Schulweg zurückzulegen pflegte. Dies war ein Kind mit etwas zu hohen Schultern und großen, blanken, schwarzen Augen, das nebenan in der völlig von Weinlaub bewachsenen Villa wohnte. Ihr Vater, Herr Hagenström, dessen Familie noch nicht lange am Orte ansässig war, hatte eine junge Frankfurterin geheiratet, eine Dame mit außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillanten der Stadt an den Ohren, die übrigens Semlinger hieß. Herr Hagenström, welcher Teilhaber einer Exportfirma – Strunck & Hagenström – war, entwickelte in städtischen Angelegenheiten viel Eifer und Ehrgeiz, hatte jedoch bei Leuten mit strengeren Traditionen, den Möllendorpfs, Langhals' und Buddenbrooks, mit seiner Heirat einiges Befremden erregt und war, davon abgesehen, trotz seiner Rührigkeit als Mitglied von Ausschüssen, Kollegien, Verwaltungsräten und dergleichen nicht sonderlich beliebt. Er schien es darauf abgesehen zu haben, den Angehörigen der alteingesessenen Familien bei jeder Gelegenheit zu opponieren, ihre Meinungen auf schlaue Weise zu widerlegen, die seine dagegen durchzusetzen und sich als weit tüchtiger und unentbehrlicher zu erweisen als sie. Konsul Buddenbrook sagte von ihm: »Hinrich Hagenström ist aufdringlich mit seinen Schwierigkeiten … Er muß es geradezu auf mich persönlich abgesehen haben; wo er kann, behindert er mich … Heute gab es eine Szene in der Sitzung der Zentral-Armen-Deputation, vor ein paar Tagen im Finanz-Departement …« Und Johann Buddenbrook fügte hinzu: »Ein oller Stänker!« – Ein anderes Mal kamen Vater und Sohn zornig und deprimiert zu Tische … Was passiert sei? Ach, nichts … Eine große Lieferung Roggen nach Holland sei ihnen verloren gegangen; Strunck & Hagenström hätten sie ihnen vor der Nase weggeschnappt; ein Fuchs, dieser Hinrich Hagenström …

Solche Äußerungen hatte Tony oft genug angehört, um gar nicht zum besten gegen Julchen Hagenström gestimmt zu sein. Sie gingen gemeinsam, weil sie einmal Nachbarinnen waren, aber meistens ärgerten sie einander.

»Mein Vater hat tausend Taler!« sagte Julchen und glaubte entsetzlich zu lügen. »Deiner vielleicht –?«

Tony schwieg vor Neid und Demütigung. Dann sagte sie ganz ruhig und beiläufig:

»Meine Schokolade eben hat furchtbar gut geschmeckt … Was trinkst du eigentlich zum Frühstück, Julchen?«

»Ja, ehe ich es vergesse«, antwortete Julchen; »möchtest du gern einen von meinen Äpfeln haben? – Ja päh! ich gebe dir aber keinen!« Und dabei kniff sie ihre Lippen zusammen, und ihre schwarzen Augen wurden feucht vor Vergnügen. –

Manchmal ging Julchens Bruder Hermann, ein paar Jahre älter als sie, gleichzeitig zur Schule. Sie besaß noch einen zweiten Bruder namens Moritz, aber dieser war kränklich und ward zu Hause unterrichtet. Hermann war blond, aber seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe. Auch schmatzte er beständig mit den Lippen, denn er atmete nur durch den Mund.

»Unsinn!« sagte er, »Papa hat viel mehr als tausend Taler.« Das Interessante an ihm aber war, daß er als zweites Frühstück zur Schule nicht Brot mitnahm, sondern Zitronensemmel: ein weiches, ovales Milchgebäck, das Korinthen enthielt, und das er sich zum Überfluß mit Zungenwurst oder Gänsebrust belegte … Dies war so sein Geschmack.

Für Tony Buddenbrook war das etwas Neues. Zitronensemmel mit Gänsebrust, – übrigens mußte es gut schmecken! Und wenn er sie in seine Blechbüchse blicken ließ, so verriet sie den Wunsch, ein Stück zu probieren. Eines Morgens sagte Hermann:

»Ich kann nichts entbehren, Tony, aber morgen werde ich ein Stück mehr mitbringen, und das soll für dich sein, wenn du mir etwas dafür wiedergeben willst.«

Nun, am nächsten Morgen trat Tony in die Allee hinaus und wartete fünf Minuten, ohne daß Julchen gekommen wäre. Sie wartete noch eine Minute, und dann kam Hermann allein; er schwenkte seine Frühstücksdose am Riemen hin und her und schmatzte leise.

»Na«, sagte er, »hier ist eine Zitronensemmel mit Gänsebrust; es ist nicht einmal Fett daran, – das pure Fleisch … Was gibst du mir dafür?«

»Ja, – einen Schilling vielleicht?« fragte Tony. Sie standen mitten in der Allee.

»Einen Schilling …« wiederholte Hermann; dann schluckte er hinunter und sagte:

»Nein, ich will etwas anderes haben.«

»Was denn?« fragte Tony; sie war bereit, alles Mögliche für den Leckerbissen zu geben …

»Einen Kuß!« rief Hermann Hagenström, schlang beide Arme um Tony und küßte blindlings darauf los, ohne ihr Gesicht zu berühren, denn sie hielt mit ungeheurer Gelenkigkeit den Kopf zurück, stemmte die linke Hand mit der Büchermappe gegen seine Brust und klatschte mit der rechten drei oder viermal aus allen Kräften in sein Gesicht … Er taumelte zurück; aber im selben Augenblick fuhr hinter einem Baume Schwester Julchen wie ein schwarzes Teufelchen hervor, warf sich, zischend vor Wut, auf Tony, riß ihr den Hut vom Kopf und zerkratzte ihr die Wangen aufs jämmerlichste … Seit diesem Ereignis war es beinahe zu Ende mit der Kameradschaft.

Übrigens hatte Tony sicherlich nicht aus Schüchternheit dem jungen Hagenström den Kuß verweigert. Sie war ein ziemlich keckes Geschöpf, das mit seiner Ausgelassenheit seinen Eltern, im besondern dem Konsul, manche Sorge bereitete, und obgleich sie ein intelligentes Köpfchen besaß, das flink in der Schule erlernte, was man begehrte, so war ihr Betragen in so hohem Grade mangelhaft, daß schließlich sogar die Schulvorsteherin, welche Fräulein Agathe Vermehren hieß, ein wenig schwitzend vor Verlegenheit, in der Mengstraße erschien und der Konsulin höflichst anheim gab, der jungen Tochter eine ernstliche Ermahnung zuteil werden zu lassen – denn dieselbe habe sich, trotz vieler liebevoller Verwarnungen, auf der Straße aufs neue offenkundigen Unfugs schuldig gemacht.

Es war kein Schade, daß Tony auf ihren Gängen durch die Stadt alle Welt kannte und mit aller Welt plauderte; der Konsul zumal war hiermit einverstanden, weil es keinen Hochmut, sondern Gemeinsinn und Nächstenliebe verriet. Sie kletterte, gemeinsam mit Thomas, in den Speichern an der Trave zwischen den Mengen von Hafer und Weizen umher, die auf den Böden ausgebreitet waren, sie schwatzte mit den Arbeitern und den Schreibern, die dort in den kleinen dunklen Kontoren zu ebener Erde saßen, ja, sie half sogar draußen beim Aufwinden der Säcke. Sie kannte die Schlachter, die mit ihren weißen Schürzen und Mulden durch die Breite Straße wanderten; sie kannte die Milchfrauen, die mit ihren Blechkannen vom Lande hereinkamen und ließ sich manchmal ein Stück von ihnen kutschieren; sie kannte die graubärtigen Meister in den kleinen, hölzernen Goldschmiedebuden, die in die Marktarkaden hineingebaut waren, die Fisch-, Obst- und Gemüsefrauen auf dem Markte, sowie die Dienstmänner, die an den Straßenecken ihren Tabak kauten … Gut und schön!

Aber ein bleicher, bartloser Mensch, dessen Alter nicht zu bestimmen ist und der morgens mit einem traurigen Lächeln in der Breiten Straße zu lustwandeln pflegt, kann nichts dafür, wenn er gezwungen ist, bei jedem plötzlichen Laut, den man ausstößt – zum Beispiel »Ha!« oder »Ho!« – auf einem Beine zu tanzen; und dennoch ließ Tony ihn tanzen, sobald sie ihn zu Gesichte bekam. Es ist ferner nicht schön, eine ganz winzige kleine Frau mit großem Kopfe, welche die Gewohnheit hat, bei jeder Witterung einen ungeheuren, durchlöcherten Schirm über sich aufgespannt zu halten, beständig durch Rufe wie »Schirmmadame!« oder »Champignon!« zu betrüben; und es ist tadelnswert, wenn man mit zwei oder drei gleichgesinnten Freundinnen vor dem Häuschen der alten Puppenliese erscheint, die in einer engen Twiete bei der Johannisstraße mit wollenen Puppen handelt und allerdings ganz merkwürdig rote Augen hat, – dort aus Leibeskräften die Glocke zieht und, wenn die Alte herauskommt, mit falscher Freundlichkeit fragt, ob hier vielleicht Herr und Madame Spucknapf wohnen, worauf man mit großem Gekreisch davonrennt … Das alles aber tat Tony Buddenbrook und zwar, wie es schien, mit völlig gutem Gewissen. Denn wurde ihr von seiten irgendeines Gequälten eine Drohung zuteil, so mußte man sehen, wie sie einen Schritt zurücktrat, den hübschen Kopf mit der vorstehenden Oberlippe zurückwarf und ein halb entrüstetes, halb mokantes »Pa!« hervorstieß, als wollte sie sagen: »Wage es nur, mir etwas anhaben zu wollen! Ich bin Konsul Buddenbrooks Tochter, wenn du es vielleicht nicht weißt …«

Sie ging in der Stadt wie eine kleine Königin umher, die sich das gute Recht vorbehält, freundlich oder grausam zu sein, je nach Geschmack und Laune.

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