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Drittes Kapitel
ОглавлениеJean Jacques Hoffstede hatte, was die beiden Söhne des Konsuls Buddenbrook anging, sicherlich ein treffendes Urteil gefällt.
Thomas, der seit seiner Geburt bereits zum Kaufmann und künftigen Inhaber der Firma bestimmt war und die realwissenschaftliche Abteilung der alten Schule mit den gotischen Gewölben besuchte, war ein kluger, regsamer und verständiger Mensch, der sich übrigens aufs köstlichste amüsierte, wenn Christian, welcher Gymnasiast war und nicht weniger Begabung, aber weniger Ernsthaftigkeit zeigte, mit ungeheurem Geschick die Lehrer nachahmte – im besonderen den tüchtigen Herrn Marcellus Stengel, der im Singen, Zeichnen und derartigen lustigen Fächern den Unterricht erteilte.
Herr Stengel, aus dessen Westentaschen stets ein halbes Dutzend wundervoll gespitzter Bleistifte hervorstarrten, trug eine fuchsrote Perücke und einen offenen, hellbraunen Rock, der ihm fast bis an die Knöchel reichte, besaß Vatermörder, die sogar noch seine Schläfen bedeckten, und war ein witziger Kopf, der philosophische Unterscheidungen liebte, wie etwa: »Du sollst 'ne Linie machen, mein gutes Kind, und was machst du? Du machst 'nen Strich!« – Er sagte »Line« statt »Linie«. Oder zu einem Faulen: »Du sitzest in Quarta nicht Jahre, will ich dir sagen, sondern Jahren!« – Wobei er »Quäta« statt »Quarta« sagte und nicht »Jahre«, sondern beinahe »Schahre« aussprach … Sein Lieblingsunterricht bestand darin, in der Gesangstunde das schöne Lied »Der grüne Wald« üben zu lassen, wobei einige Schüler auf den Korridor hinausgehen mußten, um, wenn der Chorus angestimmt hatte: »Wir ziehen so fröhlich durch Feld und Wald …« ganz leise und vorsichtig das letzte Wort als Echo zu wiederholen. Waren jedoch Christian Buddenbrook, sein Vetter Jürgen Kröger oder sein Freund Andreas Giesecke, Sohn des Branddirektors, hiermit beamtet, so warfen sie, statt das zarte Echo zu vollführen, den Kohlenkasten die Treppe hinunter und mußten nachmittags um vier Uhr in der Wohnung des Herrn Stengel nachsitzen. Hier ging es ziemlich behaglich zu. Herr Stengel hatte alles vergessen und befahl seiner Haushälterin, den Schülern Buddenbrook, Kröger und Giesecke »je« eine Tasse Kaffee zu verabreichen, worauf er die jungen Herren wieder entließ …
In der Tat, die vortrefflichen Gelehrten, die unter der freundlichen Herrschaft eines humanen, tabakschnupfenden, alten Direktors in den Gewölben der alten Schule – einer ehemaligen Klosterschule – ihres Amtes walteten, waren harmlose und gutmütige Leute, einig in der Ansicht, daß Wissenschaft und Heiterkeit einander nicht ausschlössen, und bestrebt, mit Wohlwollen und Behagen zu Werke zu gehen. Es war da in den mittleren Klassen ein ehemaliger Prediger, der im Lateinischen unterrichtete, ein gewisser Pastor Hirte, ein langer Herr mit braunem Backenbart und munteren Augen, dessen Lebensglück geradezu in dieser Übereinstimmung seines Namens mit seinem Titel bestand, und der nicht oft genug die Vokabel pastor sich übersetzen lassen konnte. Seine Lieblingsredensart lautete »grenzenlos borniert!« und es ist niemals aufgeklärt worden, ob dies ein bewußter Scherz war. Beabsichtigte er aber, seine Schüler völlig zu verblüffen, so gebot er über die Kunst, die Lippen in den Mund zu klemmen und sie wieder hinauszuschnellen, in einer Art, daß es knallte wie ein springender Champagnerpfropfen. Er liebte es, mit langen Schritten im Klassenzimmer umherzugehen und einzelnen Schülern mit ungeheurer Lebhaftigkeit ihr ganzes zukünftiges Leben zu erzählen, und zwar zu dem ausgesprochenen Zwecke, ihre Phantasie ein bißchen anzuregen. Dann aber ging er ernstlich zur Arbeit über, das heißt, er überhörte die Verse, die er über genus-Regeln – er sagte »Genußregeln« – und allerhand schwierige Konstruktionen mit wirklichem Geschick gedichtet hatte, Verse, die Pastor Hirte mit unaussprechlich triumphierender Betonung des Rhythmus und der Reime hervorbrachte …
Toms und Christians Jugendzeit … es ist nichts Bedeutendes davon zu melden. In jenen Tagen herrschte Sonnenschein im Hause Buddenbrook, wo in den Kontoren die Geschäfte so ausgezeichnet gingen. Und manchmal gab es ein Gewitter, ein kleines Unglück wie dieses:
Herr Stuht in der Glockengießerstraße, ein Schneidermeister, dessen Gattin alte Kleidungsstücke kaufte und darum in den ersten Kreisen verkehrte, Herr Stuht, dessen Bauch von einem wollenen Hemd bekleidet war und in erstaunlicher Rundung über das Beinkleid hinunterfiel … Herr Stuht hatte den jungen Herren Buddenbrook zwei Anzüge gefertigt, die zusammen siebenzig Kurantmark kosteten; allein auf den Wunsch der beiden hatte er sich bereit finden lassen, schlanker Hand achtzig auf die Rechnung zu setzen und ihnen bar den Rest einzuhändigen. Das war ein kleines Geschäft … kein ganz säuberliches wohl, aber durchaus kein ungewöhnliches. Das Unglück aber bestand darin, daß durch das Walten irgendeines finsteren Schicksales das Ganze an den Tag kam, daß Herr Stuht, einen schwarzen Rock über dem wollenen Hemd, im Privatkontor des Konsuls erscheinen mußte und Tom und Christian in seiner Gegenwart einem strengen Verhör unterzogen wurden. Herr Stuht, der breitbeinig, aber mit seitwärts geneigtem Kopf und in achtungsvoller Haltung neben dem Armsessel des Konsuls stand, hielt eine wohltönende Rede, des Inhaltes, daß »dat nu so'n Saak« sei und daß er froh sein werde, die siebenzig Kurantmark wiederzubekommen, »indem de Saak ja nu mal scheep gangen« sei. Der Konsul war heftig aufgebracht über diesen Streich. Nach ernster Überlegung aber auf seiner Seite war das Ergebnis, daß er das Taschengeld seiner Söhne erhöhte; denn es hieß: Führe uns nicht in Versuchung.
Augenscheinlich waren auf Thomas Buddenbrook größere Hoffnungen zu setzen als auf seinen Bruder. Sein Benehmen war gleichmäßig und von verständiger Munterkeit; Christian dagegen erschien launenhaft, neigte einerseits zu einer albernen Komik und konnte andererseits die gesamte Familie auf die sonderbarste Weise erschrecken …
Man sitzt bei Tische, man ist beim Obste angelangt und speist unter behaglichen Gesprächen. Plötzlich jedoch legt Christian einen angebissenen Pfirsich auf den Teller zurück, sein Gesicht ist bleich, und seine runden, tiefliegenden Augen über der allzu großen Nase haben sich erweitert.
»Ich esse nie wieder einen Pfirsich«, sagt er.
»Warum nicht, Christian … Was für ein Unsinn … Was ist dir?«
»Denkt euch, wenn ich aus Versehen … diesen großen Kern verschluckte, und wenn er mir im Halse steckte … und ich nicht Luft bekommen könnte … und ich spränge auf und würgte gräßlich, und ihr alle spränget auch auf …« Und plötzlich fügt er ein kurzes, stöhnendes »Oh!« hinzu, das voll ist von Entsetzen, richtet sich unruhig auf seinem Stuhle empor und wendet sich seitwärts, als wollte er fliehen.
Die Konsulin und Mamsell Jungmann springen tatsächlich auf.
»Gott im Himmel, – Christian, du hast ihn doch nicht verschluckt?!« Denn es hat vollkommen den Anschein, als sei es wirklich geschehen.
»Nein, nein«, sagt Christian und beruhigt sich allmählich, »aber wenn ich ihn verschluckte!«
Der Konsul, der gleichfalls blaß vor Schrecken ist, beginnt nun zu schelten, und auch der Großvater pocht indigniert auf den Tisch und verbittet sich die Narrenspossen … Allein Christian ißt wirklich längere Zeit keinen Pfirsich mehr. –