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Viertes Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Es war nicht bloß Altersschwäche, was die alte Madame Antoinette Buddenbrook, sechs Jahre ungefähr nachdem die Familie das Haus in der Mengstraße bezogen, an einem kalten Januartag endgültig auf ihr hohes Himmelbett im Schlafzimmer des Zwischengeschosses darniederwarf. Die alte Dame war rüstig gewesen bis zuletzt und hatte ihre dicken weißen Seitenlocken mit aufrechter Würde getragen; sie hatte zusammen mit ihrem Gatten und ihren Kindern die hauptsächlichsten Diners besucht, die in der Stadt gegeben wurden, und bei den Gesellschaften, die Buddenbrooks selbst veranstalteten, ihrer eleganten Schwiegertochter im Repräsentieren nicht nachgestanden. Eines Tages aber, ganz plötzlich, hatte sich ein halb unbestimmbares Leiden eingestellt, ein leichter Darmkatarrh anfangs nur, gegen den Doktor Grabow ein wenig Taube und Franzbrot verordnet hatte, eine mit Erbrechen verbundene Kolik, die mit unbegreiflicher Schnelligkeit Entkräftung herbeiführte, einen sanften und hinfälligen Zustand, der beängstigend war.

Als dann Doktor Grabow mit dem Konsul eine kurze, ernste Unterredung draußen auf der Treppe gehabt hatte, als ein zweiter, neu hinzugezogener Arzt, ein untersetzter, schwarzbärtiger, düsterblickender Mann, neben Grabow aus und ein zu gehen begann, da änderte sich gleichsam die Physiognomie des Hauses. Man ging auf den Zehen umher, man flüsterte ernst, und die Wagen durften nicht über die Diele rollen. Etwas Neues, Fremdes, Außerordentliches schien eingekehrt, ein Geheimnis, das einer in des anderen Augen las; der Gedanke an den Tod hatte sich Einlaß geschafft und herrschte stumm in den weiten Räumen.

Dabei durfte nicht gefeiert werden, denn es kam Besuch. Die Krankheit währte vierzehn oder fünfzehn Tage, und nach einer Woche kam der alte Senator Duchamps, ein Bruder der Sterbenden, nebst seiner Tochter von Hamburg an, während ein paar Tage später des Konsuls Schwester mit ihrem Gatten, dem Bankier aus Frankfurt eintraf. Die Herrschaften wohnten im Hause, und Ida Jungmann hatte alle Hände voll zu tun, für die verschiedenen Schlafzimmer zu sorgen und gute Frühstücke mit Krabben und Portwein bereitzuhalten, während in der Küche gebraten und gebacken ward …

Droben saß Johann Buddenbrook am Krankenbette und blickte, die matte Hand seiner alten Nette in der seinen, mit erhobenen Brauen und ein wenig hängender Unterlippe stumm vor sich hin. Die Wanduhr tickte dumpf und mit langen Pausen, viel seltener aber noch atmete die Kranke einmal kurz und oberflächlich auf … Eine schwarze Schwester machte sich am Tisch mit dem Beeftee zu schaffen, den man versuchsweise noch reichen wollte; dann und wann trat geräuschlos ein Familienmitglied ein und verschwand wieder.

Der Alte mochte sich erinnern, wie er vor 46 Jahren zum erstenmal am Sterbebette einer Gattin gesessen hatte, und er mochte der wilden Verzweiflung, die damals in ihm aufbegehrt war, die nachdenkliche Wehmut vergleichen, mit der er, nun selbst so alt, in das veränderte, ausdruckslose und entsetzlich gleichgültige Gesicht der alten Frau blickte, die ihm niemals ein großes Glück, niemals einen großen Schmerz bereitet, die aber viele lange Jahre mit klugem Anstand bei ihm ausgehalten und nun ebenfalls langsam davonging.

Er dachte nicht viel, er sah nur unverwandt und mit einem leisen Kopfschütteln auf sein Leben und das Leben im allgemeinen zurück, das ihm plötzlich so fern und wunderlich erschien, dieses überflüssig geräuschvolle Getümmel, in dessen Mitte er gestanden, das sich unmerklich von ihm zurückgezogen hatte und nun vor seinem verwundert aufhorchenden Ohr in der Ferne erhallte … Manchmal sagte er mit halber Stimme vor sich hin:

»Kurios! Kurios!«

Und als dann Madame Buddenbrook ihren letzten, ganz kurzen und kampflosen Seufzer getan hatte, als im Eßsaal, woselbst die Einsegnung stattfand, die Träger den blumenbedeckten Sarg aufgehoben hatten, um ihn schwerfällig davonzuschaffen, – da änderte sich seine Stimmung nicht, da weinte er nicht einmal; aber dies leise, erstaunte Kopfschütteln blieb ihm, und dies beinahe lächelnde »Kurios!« wurde sein Lieblingswort … Kein Zweifel, daß es auch mit Johann Buddenbrook zu Ende ging.

Er fing an, stumm und abwesend im Familienkreise zu sitzen, und wenn er einmal die kleine Klara auf die Knie genommen hatte, um ihr vielleicht eines seiner alten drolligen Lieder vorzusingen, zum Beispiel:

»Der Omnibus fährt durch die Stadt …«

oder

»Kiek, doa sitt'n Brummer an de Wand …«

so konnte er plötzlich stillschweigen, um dann die Enkelin, gleichsam aus einem langen, halb unbewußten Gedankengange heraus, mit einem kopfschüttelnden »Kurios!« zu Boden zu setzen und sich abzuwenden … Eines Tages sagte er:

»Jean, – assez, du?«

Und alsbald begannen in der Stadt die reinlich gedruckten und mit zwei Unterschriften versehenen Formulare zu zirkulieren, auf denen Johann Buddenbrook senior sich kundzutun erlaubte, daß sein zunehmendes Alter ihn veranlasse, seine bisherige kaufmännische Wirksamkeit aufzugeben, und daß er infolgedessen die von seinem seligen Vater Anno 1768 gegründete Handlung Johann Buddenbrook mit Activis und Passivis unter gleicher Firma von heute an seinem Sohne und seitherigen Associé Johann Buddenbrook als alleinigen Inhaber übertrage, mit der Bitte, das ihm so vielseitig geschenkte Vertrauen seinem Sohne zu erhalten … Hochachtungsvoll – Johann Buddenbrook senior, welcher aufhören wird zu zeichnen.

Als aber diese Kundgebung erfolgt war, als der Alte fortan sich weigerte, noch einen Fuß ins Kontor zu setzen, da nahm seine nachdenkliche Apathie in erschreckender Weise zu, da genügte, Mitte März, ein paar Monate nur nach dem Tode seiner Frau, irgendein kleiner Frühlingsschnupfen, um ihn bettlägerig zu machen, – und dann, in einer Nacht, kam die Stunde, wo die Familie auch sein Bett umstand, wo er zum Konsul sagte:

»Alles Glück, – du? Jean? Und immer courage!«

Und zu Thomas:

»Hilf deinem Vater!«

Und zu Christian:

»Werde was Ordentliches!«

– worauf er schwieg, alle anblickte und sich mit einem letzten »Kurios!« nach der Wand kehrte …

Er hatte Gottholds bis zum Schluß nicht Erwähnung getan, und auf die schriftliche Aufforderung des Konsuls, am Sterbebette des Vaters zu erscheinen, hatte der älteste Sohn mit Schweigen geantwortet. Am nächsten Morgen jedoch, ganz früh, als die Todesanzeigen noch nicht versandt waren und der Konsul auf die Treppe hinaustrat, um im Kontor das Notwendigste zu erledigen, geschah das Merkwürdige, daß Gotthold Buddenbrook, Inhaber der Leinenhandlung Siegmund Stüwing & Komp. in der Breitenstraße, raschen Schrittes über die Diele kam. Sechsundvierzigjährig, klein und beleibt, besaß er starke, aschblonde, mit weißen Fäden durchsetzte Kotelettes. Er war kurzbeinig und trug sackartig weite Hosen aus rauhem, kariertem Stoff. Die Treppe hinauf schritt er dem Konsul entgegen, indem er die Brauen hoch unter die Krempe seines grauen Hutes erhob und sie dennoch zusammenzog.

»Johann«, sagte er, ohne dem Bruder die Hand zu reichen, mit hoher, angenehmer Stimme, »wie steht es?«

»Heute nacht ist er heimgegangen!« sagte der Konsul bewegt und ergriff die Hand des Bruders, die einen Regenschirm hielt. »Er, der beste Vater!«

Gotthold senkte die Brauen so tief, daß seine Lider sich schlossen. Nach einem Schweigen sagte er nachdrücklich:

»Es ist nichts geändert worden, bis zum Schlusse, Johann?«

Und sofort ließ der Konsul seine Hand fahren, ja, er trat sogar eine Stufe zurück, und während seine runden, tiefliegenden Augen klar wurden, sagte er:

»Nichts.«

Gottholds Brauen wanderten wieder unter die Hutkrempe hinauf, und seine Augen richteten sich mit Anstrengung auf den Bruder.

»Und was habe ich von deiner Gerechtigkeit zu gewärtigen?« sagte er mit gesenkter Stimme.

Der Konsul seinerseits senkte nun den Blick; dann aber, ohne ihn wieder zu erheben, machte er jene entschiedene Handbewegung von oben nach unten und antwortete leise und fest:

»Ich habe dir in diesem schweren und ernsten Augenblick meine Hand als Bruder gereicht; was aber geschäftliche Dinge betrifft, so kann ich dir immer nur als Chef der ehrwürdigen Firma gegenüberstehen, deren alleiniger Inhaber ich heute geworden bin. Du kannst nichts von mir gewärtigen, was den Verpflichtungen widerspricht, die mir diese Eigenschaft auferlegt; meine sonstigen Gefühle müssen schweigen.«

Gotthold ging … Zum Begräbnis jedoch, als die Menge der Verwandten, Bekannten, Geschäftsfreunde, der Deputationen, Kornträger, Kontoristen und Speicherarbeiter Zimmer, Treppen und Korridore füllte und die sämtlichen Mietkutschen der Stadt die ganze Mengstraße hinunterstanden, – zum Begräbnis kam er zur aufrichtigen Freude des Konsuls aufs neue; ja, er brachte sogar seine Gattin, die geborene Stüwing, und seine drei schon erwachsenen Töchter mit: Friederike und Henriette, die beide sehr lang und hager waren, und Pfiffi, die achtzehnjährige Jüngste, die allzu klein und beleibt erschien.

Und als dann am Grabe, am Buddenbrookschen Erbbegräbnis dort draußen vorm Burgtore, am Rande des Friedhofgehölzes, Pastor Kölling von Sankt Marien, ein robuster Mann mit dickem Kopf und derber Redeweise, das maßvolle, gottgefällige Leben des Verstorbenen gepriesen hatte, im Gegensatze zu dem der »Wollüstigen, Fresser und Säufer« – dies war sein Ausdruck, obgleich manche Leute, die sich der Diskretion des jüngst verstorbenen alten Wunderlich erinnerten, die Köpfe schüttelten, – als die Feierlichkeiten und Formalitäten beendet waren und die 70 oder 80 Mietkutschen in die Stadt zurückzurollen begannen … da erbot sich Gotthold Buddenbrook, den Konsul zu begleiten, weil er ihn unter vier Augen zu sprechen wünsche. Und siehe da: hier, neben dem Stiefbruder auf dem Rücksitz der hohen, weiten, plumpen Kutsche, eins seiner kurzen Beine über das andere gelegt, zeigte er sich versöhnlich und sanft. Er erkenne, sagte er, mehr und mehr, daß der Konsul handeln müsse, wie er es tue, und das Andenken des Vaters solle für ihn kein böses sein. Er verzichte auf seine Ansprüche, und zwar um so lieber, als er gesonnen sei, sich von allen Geschäften zurückzuziehen und sich mit seinem Erbe und dem, was ihm sonst erübrige, zur Ruhe zu setzen, denn das Leinengeschäft mache ihm wenig Freude und gehe so mäßig, daß er sich nicht entschließen werde, noch mehr hineinzustecken … »Der Trotz gegen den Vater hat ihm keinen Segen gebracht!« dachte der Konsul mit einem inneren frommen Aufblick; und Gotthold dachte wahrscheinlich dasselbe.

In der Mengstraße aber begleitete er den Bruder ins Frühstückszimmer hinauf, woselbst die beiden Herren, nach dem langen Stehen in der Frühlingsluft in ihren Fräcken fröstelnd, einen alten Kognak miteinander tranken. Und als dann Gotthold ein paar höfliche und ernste Worte mit seiner Schwägerin gewechselt und den Kindern die Köpfe gestreichelt hatte, ging er davon, um am nächsten »Kindertag« bei Krögers draußen im Gartenhause zu erscheinen … Er begann schon zu liquidieren.

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