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1.1 Was ist Wissenschaftsethik?

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Wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin bemerkt, „ist es nicht ausgeschlossen, dass für verschiedene Bereiche menschlicher Praxis unterschiedliche normative Kriterien angemessen sind, die sich [. . .] nicht auf ein einziges System moralischer Regeln und Prinzipien reduzieren lassen“ (Nida-Rümelin, 1996, S. 63). Dementsprechend würden für diese verschiedenen Bereiche der menschlichen Praxis unterschiedliche moralische Systeme gelten, die in verschiedenen Ethiken, d. h. in verschiedenen Teilbereichen der akademischen Ethik, thematisiert werden. Wie in Kapitel 2 ausführlicher thematisiert wird, wird mit „Ethik“ üblicherweise das akademische Fach bezeichnet, in dem moralische Systeme, Urteile und Überzeugungen erforscht werden, während mit „Moral“ diese Systeme, Urteile und Überzeugungen selbst gemeint sind. Ethik ist also, kurz gesagt, das Fach, das Moral erforscht. Eine „Bereichsethik“ (Nida-Rümelin, 1996, S. 63) ist dementsprechend ein Teilbereich der Ethik, in dem die für einen bestimmten Bereich der menschlichen Praxis geltende Moral erforscht wird.

Als Bereichsethiken können u. a. die Bioethik, die Tierethik, die Umweltethik, die Medizinethik, die Genethik, die Nanoethik, die Rechtsethik, die Medienethik, die Wirtschaftsethik sowie die Technikethik genannt werden. Auch die Wissenschaftsethik kann als eine solche Bereichsethik aufgefasst werden. Zum Teil kann die Existenz dieser verschiedenen Bereichsethiken dadurch erklärt werden, dass bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Anwendungen in der Gesellschaft als höchst problematisch angesehen werden, während viele andere Erkenntnisse und Anwendungen durch die Gesellschaft unbemerkt bleiben. Dass z. B. die Genethik oft als eigenständige Bereichsethik neben der Bioethik und der Medizinethik besteht, ist wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass die moderne Gentechnologie in der Gesellschaft als besonders problematisch angesehen wird und dass es diesbezüglich einen großen Diskussionsbedarf und somit einen Bedarf an einer spezialisierten Ethik gibt.

Die verschiedenen Bereichsethiken sind nicht deutlich von einander getrennte Arbeitsbereiche, sondern überlappen sich teilweise und stehen untereinander in einer Vielzahl von Verbindungen. So hat die Wissenschaftsethik als Bereichsethik, die sich mit moralischen Fragen zu den Wissenschaften auseinandersetzt, große Überlappungsbereiche mit der Technikethik, der Bioethik, der Nanoethik sowie den sonstigen wissenschaftsbezogenen Bereichsethiken. Sie grenzt sich jedoch gleichzeitig von diesen durch einen eigenen Fragenbereich ab, der Fragen umfasst, die in Bezug zu allen Wissenschaften auftreten können, während sich die Bioethik, die Nanoethik, die Genethik usw. ausschließlich auf Fragen richten, die spezifisch für bestimmte Teilbereiche der Wissenschaft auftreten. Diese allgemeinen Fragen beziehen sich zumeist auf Aspekte des Betreibens von Wissenschaft, während sich die spezifischeren Fragen der Bioethik, der Nanoethik usw. typischerweise mehr auf die Folgen neuer wissenschaftlichen Erkenntnisse oder neuer technologischen Anwendungen richten. Obwohl es nicht unüblich ist, die Bioethik, die Nanoethik usw. als Teilbereiche der Wissenschaftsethik zu sehen, umfasst die Wissenschaftsethik diese Bereiche nicht vollständig.

Die folgende Beschreibung der Wissenschaftsethik kann zur Erläuterung des soeben gesagten dienen:

„Die Wissenschaftsethik beschäftigt sich mit moralischen Fragen, die in der wissenschaftlichen Handlungspraxis und als Folgen von wissenschaftlichen Innovationen auftreten können. Zum einen sind dies z. B. Fragen zur Verantwortung des Wissenschaftlers, oder die Frage danach, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und was genau als wissenschaftliches Fehlverhalten angesehen werden muss. Zum anderen sind dies Fragen zu möglichen gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Entdeckungen und neuer Technologien“ (Reydon und Hoyningen-Huene, 2011, S. 132).

Innerhalb der Wissenschaftsethik können dieser Definition entsprechend vier Arbeitsbereiche unterschieden werden (die im Folgenden diskutierte Unterscheidung entstammt Hoyningen-Huene, 2009, S. 11–13; Hoyningen-Huene und Tarkian, 2010, S. 3028).

Erstens befasst sich die Wissenschaftsethik mit moralischen Problemen, die in spezifischen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung auftreten können und unmittelbar mit den Gegenständen der Forschung verbunden sind. In diesem Bereich fallen Fragen zur Zulässigkeit der verbrauchenden Embryonenforschung, zum Umgang mit Menschen als Versuchspersonen in Experimenten (z. B. in der medizinischen und psychologischen Forschung), zum Gebrauch von Tieren in Experimenten und zur allgemeinen Zulässigkeit von Tierversuchen, zu den Risiken von Freilandversuchen mit genetisch modifizierten Pflanzen usw. Fragen dieser Art treten nur für spezifische Teilbereiche der Wissenschaft und in spezifischen Forschungskontexten auf und sind stark an den momentanen Stand der Forschung gebunden. So tritt die Frage nach der Zulässigkeit der verbrauchenden Embryonenforschung – d. h. Forschung, in der menschliche Embryonen für die Gewinnung von Stammzellen vernichtet werden – nur für spezifische Forschungsprojekte und außerdem nur dann auf, wenn es keine anderen und besseren Möglichkeiten gibt, um menschliche Stammzellen für Forschungszwecke zu gewinnen. Diesbezüglich ist jedoch absehbar, dass der technologische Fortschritt ermöglichen wird, menschliche Stammzellen zu gewinnen, ohne dafür menschliche Embryonen vernichten zu müssen (z. B. durch die Reprogrammierung adulter Stammzellen zu so genannten induzierten pluripotenten Stammzellen). Mit dem technologischen Fortschritt hätte sich das moralische Problem erledigt und bräuchte nicht mehr durch uns gelöst zu werden, weil es sich aufgelöst hat.

Der zweite Arbeitsbereich der Wissenschaftsethik befasst sich mit der Thematik der guten wissenschaftlichen Praxis, d. h. mit moralischen Aspekten der Wissenschaft als Beruf. Hier geht es darum, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und diese von wissenschaftlichem Fehlverhalten unterscheidet. Viel diskutierte Themen, wie die Plagiatsproblematik und die Veröffentlichung von gefälschten oder gar völlig frei erfundenen Ergebnissen, gehören ebenso in diesen Bereich wie Fragen zur Aufbewahrungspflicht von Rohdaten, zum fairen Umgang mit Kollegen und Studierenden, zum Recht auf Co-Autorschaft von Veröffentlichungen und den mit einer Co-Autorschaft verbundenen Pflichten, zur Grenze zwischen wissenschaftlichem Fehlverhalten einerseits und „lediglich“ unsorgfältiger bzw. fehlerhafter Arbeit usw.

Als dritter Arbeitsbereich kann die Problematik der Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers sowie der wissenschaftlichen Gemeinschaft als Ganzes genannt werden. Die Fragen, die in diesem dritten Bereich erörtert werden, lassen sich oftmals nicht deutlich von Fragen trennen, die typischerweise dem zweiten Bereich zugeordnet werden. Gute wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliches Fehlverhalten einerseits und das Übernehmen von Verantwortung für die eigenen Taten (oder die Weigerung, eine solche Verantwortung zu übernehmen) scheinen zwei Seiten der gleichen Problematik zu sein. Die Frage, wie man in einer fairen Weise mit seinen Kollegen und Studierenden umgeht, kann auch in der Weise gestellt werden, dass man fragt, welche Verantwortung Wissenschaftler ihren Kollegen und Studierenden gegenüber haben.

Der Problembereich der wissenschaftlichen Verantwortung erstreckt sich jedoch deutlich weiter als Fragen dieser Art. Ein wichtiger Aspekt dieses Problembereichs bezieht sich auf Fragen nach der Verantwortung von Wissenschaftlern sowie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüber. Diese Fragen sind insbesondere im Zuge der zerstörerischen Folgen der Anwendung neuer Technologien in den beiden Weltkriegen aufgekommen und durch die Wahrnehmung von neuen, mit der Anwendung neuer Technologien verbundenen Risiken verstärkt worden. Zu denken wäre hier an die Entwicklung von Giftgasen im Ersten bzw. der Atombombe im Zweiten Weltkrieg oder auch an die mit der Gentechnologie verbundenen Risiken für die Umwelt und die menschliche Gesundheit. An die Entwicklung neuer Technologien beteiligte Wissenschaftler fühlen sich manchmal der Gesellschaft gegenüber für die zerstörerischen Folgen dessen Anwendung verantwortlich. Diesbezüglich ist eine wichtige Frage, ob einzelnen Wissenschaftlern oder der wissenschaftlichen Gemeinschaft tatsächlich eine solche Verantwortung zugesprochen werden kann: Kann die Wissenschaft in einer sinnvollen Weise für die Opfer der im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Atombomben oder für den auf den Zweiten Weltkrieg folgenden nuklearen Rüstungswettlauf verantwortlich gehalten werden? Oder ist nicht sie, aber die Gesellschaft selbst für diese Folgen verantwortlich? Und wie steht es um die Risiken der Gentechnologie? Diesbezüglich haben mehrere Autoren darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft zumindest eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber dafür hat, der Gesellschaft bei der Entscheidungsfindung über die Implementierung solcher Technologien beratend zur Seite zu stehen (siehe dazu Kapitel 5).

Der vierte Arbeitsbereich der Wissenschaftsethik ist, mit einem Begriff des Wissenschaftsphilosophen Paul Hoyningen-Huene, die Sozialphilosophie der Wissenschaft (Hoyningen-Huene, 2009, S. 11–13; Hoyningen-Huene und Tarkian, 2010, S. 3030). Hier steht, so Hoyningen-Huene (2009, S. 13; Hoyningen-Huene und Tarkian, 2010, S. 3030), die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft im Mittelpunkt. Die Fragen, die in diesem Arbeitsbereich erörtert werden, beziehen sich u. a. auf die Selbstbeschränkung der Forschungsfreiheit durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, z. B. wenn es um Forschungsprojekte geht, deren Ergebnisse gravierende negative soziale Effekte herbeiführen könnten. Auch wäre eine im Rahmen dieses Arbeitsbereichs zu verortende Frage, ob sich die Wissenschaft als „Dienerin der Menschheit“ sehen sollte – d. h., inwiefern sie ihre Forschungsthemen auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausrichten sollte oder sich autonom ihre Forschungsziele setzen kann. Diesbezüglich überlappt sich dieser Arbeitsbereich zumindest teilweise mit dem oben angesprochenen dritten Arbeitsbereich.

Der erste Bereich der Wissenschaftsethik soll im vorliegenden Buch nicht angesprochen werden, da für diesen Arbeitsbereich primär einige der anderen Bereichsethiken innerhalb der Ethik, wie die Bioethik und die Medizinethik, zuständig sind. Die Frage, wie mit Versuchspersonen in der Medizinforschung (Patienten in klinischen Studien) umgegangen werden soll, ist vielmehr eine medizinethische als eine allgemein wissenschaftsethische Frage. Der Fokus dieses Buchs liegt hauptsächlich auf Fragen, die dem oben diskutierten zweiten und dritten Bereich der Wissenschaftsethik zuzuordnen sind, also auf Fragen, die für alle Wissenschaften gleichermaßen oder zumindest für den Großteil der Wissenschaften auftreten. Fragen und Probleme aus dem zweiten Bereich finden sich überwiegend in den Kapiteln 3, 4 und 6, Fragen und Probleme aus dem dritten Bereich in den Kapiteln 4 und 5. Dass Kapitel 4 mit dem unterschiedenen zweiten und dritten Bereich überlappt, zeigt, dass sich die Fragen nach der wissenschaftlichen Verantwortung und nach der guten wissenschaftlichen Praxis nicht gut voneinander trennen lassen. (Andere Autoren fassen beide Bereiche unter dem Titel der wissenschaftlichen Verantwortung; z. B. Lenk und Maring, 1998, S. 295.) Die Thematik aus dem vierten Bereich soll in Kapitel 7 kurz angesprochen werden.

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