Читать книгу Die rote Tinktur - Thomas Riedel - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
I
m dichten Blattwerk der uralten Stieleichen und Rotbuchen brachen sich die warmen Strahlen der herbstlichen Mittagssonne. Einige Blätter zeigten sich noch in satten Grüntönen, andere leuchtete bereits gelb, orange und rot. Jetzt wo die Tage im Herbst kürzer und kälter wurden, zeigte sich der Wald in einem imposanten bunten Kleid. Einem knorrigen Gürtel gleich standen die riesigen Bäume um den Hügel, auf dessen Hochebene, die dunkelgrau wirkende Ruine der festungsartigen Anlage von ›Dùn Gòrdan-Castle‹ stand. Man musste schon sehr genau hinsehen, um durch das üppige Geäst Teile der geborstenen Umfassungsmauer und ein Stück des viereckigen Westturmes, einer gelungenen Kombination aus Wohnturm und Bergfried, zu erkennen. Dahinter erhoben sich die immer noch stattlichen Reste des Torhauses, der Kapelle und des früheren Rittersaals.
Über zwei Jahrhunderte hatte das alte Gemäuer, nachdem im Jahr 1805 auch der südliche Turm in sich zusammengestürzt war, im sprichwörtlichen Dornröschenschlaf gelegen, dessen Ruhe nur noch selten von Pilzsammlern, gelegentlichen Ausflüglern oder jungen Pärchen gestört wurde.
Doch seit einigen Tagen gab es wieder Leben in der schottischen Burgruine, die sich an der Grenze zwischen dem Verwaltungsbezirk Moray und dem der Highlands, in der malerischen Landschaft am See des Findhorn-Flusses, erhob. Ein Team von sechs Archäologiestudenten der Universität Edinburgh nahm in der Ruine Ausgrabungen vor. Für die jungen Leute war es ihr erster ernstzunehmender wissenschaftlicher Auftrag und sie waren dementsprechend mit Feuereifer an ihre Arbeit gegangen. Sie hielten es nicht für ausgeschlossen, in den noch vorhandenen Fragmenten des ›Dùn Gòrdan-Castle‹ eine interessante Entdeckung zu machen.
Obwohl die Wurzeln der Burg im 11. und 12. Jahrhundert zu suchen waren, stammte die Mehrheit der noch vorhandenen Bausubstanz aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Eine erstmalige urkundliche Erwähnung fand die gewaltige Festungsanlage in historischen Dokumenten im Jahr 1237. Weitere Aufzeichnungen berichteten von der herausragenden Rolle des Kastells im Kampf gegen die Engländer. Den Pergamenten nach, soll der damalige Burgherr an die viertausend besiegte englische Soldaten bei lebendigem Leibe gepfählt haben, um sie anschließend rund um den Hügel zu seiner Burg zur Abschreckung aufzustellen.
Von den benachbarten Burgherren wurde er als Tyrann beschrieben, dem das Foltern und Töten seiner Feinde ein sadistisches Vergnügen bereitet haben soll. Folgte man diesen Quellen, so kam man auf die erschreckende Zahl von 20.000 bis 30.000 Opfer, wobei jene, die durch die Zerstörung und das Niederbrennen von ganzen Dörfern und anderer Festungen, nicht mitgerechnet waren. Besonders verstörend waren die zum Teil sehr detaillierten Darstellungen seiner Gräueltaten, und die gab es zuhauf. Da fanden sich Pfählungen, Folterungen, Feuertode, Verstümmelungen, Ertränkungen, Enthäutungen, Röstungen und sogar das Kochen von Opfern. Auch soll er Menschen gezwungen haben, das Fleisch ihrer Freunde und Angehörigen zu essen, oder ihnen die Kopfbedeckung an den Kopf zu nageln. Seine Opfer waren Männer und Frauen allen Alters, einschließlich Kinder und Säuglinge, Religionen und sozialer Schichten.
Eine Erzählung berichtete: »Er verursachte mehr Schmerz und Leid als sich selbst die blutrünstigsten Peiniger der Christenheit wie Herodes, Nero, Dioclethan und alle anderen Heiden zusammen vorstellen konnten.«
In einer Aufzeichnung fand sich der Hinweis, dass er oftmals die Nasen gefangener Soldaten abschneiden ließ, die er dann an den Hof des englischen Königs Eduard I. sandte, um damit zu prahlen, wie viele Feinde er getötet hatte.
Folgte man den Aufzeichnungen, so war das Pfählen seine bevorzugte Art der Folter und Hinrichtung. Dabei ging er unterschiedlich vor, je nachdem, ob er einen schnellen oder langsamen Tod seines Opfers erreichen wollte. Eine der Methoden, von denen berichtet wurde, war, je ein Pferd an die Beine des Opfers zu spannen und einen angespitzten Pfahl schrittweise durch den Anus oder die Vagina in dessen Körper zu treiben, bis er wieder aus dem Körper hervortrat. Doch die wesentlich grausamere Methode, über die einige Chronisten schrieben, war, das Ende des Pfahls nicht spitz zu halten, zu ölen und dann aufzustellen. Während die Opfer sich nun durch ihr eigenes Körpergewicht immer mehr aufspießten, wurde durch den nicht spitzen und geölten Pfahl gleichzeitig verhindert, dass sie zu schnell durch Schock oder die Verletzung lebenswichtiger Organe starben. Dieser Tod am Pfahl war langsam und qualvoll und sein Eintreten dauerte manchmal Stunden oder Tage. Andere Zeitzeugen gaben Kunde darüber, dass die Opfer auch durch den Unterleib oder die Brust gepfählt wurden, was einen relativ schnellen Tod zur Folge hatte. Kinder sollen manchmal gepfählt und dabei durch die Brust ihrer Mutter gedrückt worden sein. In anderen Fällen wurden die Opfer auf dem Kopf stehend hingerichtet. Zur Abschreckung ließ er die Leichen oft über Monate an den Pfählen verwesen.
Im Team sah man hier eine gute Möglichkeit sich als zukünftige Archäologen einen gewissen Namen zu machen. Nicht zuletzt war sie auch von dem unvorstellbar Bösen fasziniert. Gerade ruhte das Arbeitsgerät und die Studenten genossen ihre selbst festgelegte Mittagspause.
Alexander Lawson hatte es sich auf dem Rücken liegend im dichten, verfilzten Gras des ehemaligen Burggrabens bequem gemacht und ließ sich von den wärmenden Sonnenstrahlen verwöhnen. Von irgendwoher aus dem umliegenden Gehölz, erklang gepresst zwitschernd mit schrillen krächzenden Tönen, der wenig melodische Gesang einer Wacholderdrossel. Dazwischen konnte man die gedämpften Stimmen der anderen Studenten hören. Aber Lawson achtete nicht wirklich darauf. Gedankenverloren starrte er in den hellblauen, strahlenden Himmel und nahm von Zeit zu Zeit einen Zug von seiner Zigarette.
Sein Universitätsprofessor hatte ihm vor einigen Wochen die Leitung des ganzen Projektes angeboten und er war darauf eingegangen. Warum auch nicht, hatte er gedacht, immerhin war das für ihn eine einmalige Chance. Er wäre ein Narr gewesen, das Angebot abzulehnen.
Noch deutlich erinnerte er sich an das Gespräch, welches er einen Tag vor der Abreise mit Professor Alverston in dessen Büro in der Fakultät geführt hatte. Längere Zeit hatte dieser gebannt auf die Kopie eines vergilbten Pergaments gestarrt.
»Es gibt ein aufregendes Geheimnis in ›Dùn Gòrdan-Castle‹, Lawson«, hatte Alverston gesagt, als er sein Studium beendet hatte und zu ihm aufsah. »Eines, über das ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt aber noch nichts mitteilen werde.«
Überrascht hatte er seinen Lehrer angestarrt.
»Gibt es dafür einen bestimmten Grund, Professor Alverston?«, hatte er von ihm wissen wollen.
»Ich habe Sie für die Stelle eines Assistenten vorgesehen, wie ich Ihnen schon vor einiger Zeit sagte. Und ich möchte dies als eine letzte, besondere Prüfung verstanden wissen«, hatte Professor Alverston ihm lächelnd zur Antwort gegeben. »Die Jugend soll eine Chance bekommen sich zu bewähren. Ich weiß etwas, Sie wissen nichts. Aber ein guter Archäologe sollte dennoch in der Lage sein etwas zu finden, fündig zu werden.« Er hatte seine Brille abgenommen und ihm einen sehr nachdenklichen Blick zugeworfen. Dann hatte er nach einer kurzen Pause hinzugefügt: »Ich überlege noch, ob ich Ihnen einen kleinen Hinweis gebe soll.«
»Wenn Sie den Tipp schon andeuten, …?«, hatte er frech gegrinst.
»Dann will ich mal kein Spielverderber sein«, hatte der Professor schmunzelnd erwidert. »Sie sollten sich den Rittersaal genauestens ansehen. Und wenn ich genauestens sage, dann meine ich das auch so.« Er hatte ihm keine Chance gegeben weiter nachzuhaken und das Gespräch beendet. »Und jetzt habe ich zu tun. Wenn Sie mich entschuldigen wollen?«
Er hatte sich von seinem Professor verabschiedet und lange über die vagen Andeutungen seines Lehrers gegrübelt. Doch so sehr er auch sich anstrengte, er konnte sich absolut keinen Reim auf die vage Andeutung Alverstons machen. Und das bezeichnete man nun als ernsthafte Wissenschaft, dachte er, wenn jeder sorgfältig seine Geheimnisse hütete.
Alexander Lawson hatte sich aufgesetzt. Unzufrieden darüber nicht mehr erfahren zu haben, warf er die fast aufgerauchte Zigarette vor sich ins hohe Gras und zertrat sie mit dem Absatz seines Turnschuhs. Eine aufgeregte, schrille Stimme ließ ihn aufhorchen. Kreischend flatterten ein paar Vögel auf.
»Hey! Wo steckst du, Alex?«, rief eine Stimme aus der Studiengruppe.
»Lauren hat etwas entdeckt!«, meldete sich ein anderes männliches Organ.
Mit einem schnellen Satz sprang Lawson auf die Füße. Er lief ein Stück den ausgetrockneten Burggraben entlang und kletterte den Abhang zur Ruine empor. Nach kaum mehr als einer Minute kam er keuchend oben an. Keine fünfundzwanzig Yards entfernt sah er die kleine Gruppe seiner Mitstudenten.
Lauren Pritchard, seine attraktive Studienkollegin mit einer pinkfarbenen Kurzhaarfrisur, stand mit Shane Miller, Kyle Maxwell, Celia Pike und Finn Donovan vor der noch erstaunlich gut erhaltenen südlichen Innenwand des alten Rittersaals. Aufgeregt winkte sie ihn mit erhobenen Armen heran.
Hastig überquerte Lawson den Burghof. Durch eine riesige, unregelmäßig geformte Mauerlücke betrat er den Saal, in den von oben das helle Licht des Tages fiel.
»Was gibt es denn so Spannendes?«, rief er der Gruppe schon aus einiger Entfernung zu. »Habt ihr einen geheimnisvollen Goldschatz entdeckt? Die auf ewig verwunschenen Gebeine eines mittelalterlichen Ritters, oder vielleicht … wäre noch viel besser ... gar den Zauberstab des großen Merlins?«
»Ach, du alter Spinner!«, entgegnete Kyle Maxwell knapp, aber durchaus freundschaftlich und strich sich über seinen dunkelblonden Schnauzbart. »Du erwartest hier wohl den kompletten Tisch von König Artus. Oder besser noch, ein Portal um direkt nach Avalon zu reisen. Damit können wir leider nicht dienen.«
»Soweit ich weiß, brauchte es dazu kein Portal«, schmunzelte Lawson, »sondern eine Barke. Aber genial wär’s schon. Zeitlich würde es passen, nur räumlich? Immerhin soll sich das Grab Arthurs in Glastonbury befinden. Edward I. hat es öffnen lassen und die gefundenen Knochen im Hochaltar der dortigen Abtei beisetzen lassen.«
Maxwell lachte, wurde aber gleich wieder ernst.
»Eine Barke haben wir auch nicht gefunden und auch keine Knochen vom guten Arthur, aber Lauren hat mit Celia an der Südwand herumgekratzt und dabei Farbe freigelegt. Wir haben uns das zusammen angesehen, und so, wie wir das einschätzen, könnte es durchaus sein, dass sich unter dem ganzen Kalk ein Fresko verbirgt.«
Jetzt mischte sich auch Finn Donovan ein, der sonst immer recht schweigsam war.
»Vielleicht hat das, was die beiden gefunden haben, etwas mit der seltsamen Andeutung von Professor Alverston zu tun?«, meinte er. »Du hast uns doch erzählt, dass er ...«
Lawson hörte schon gar nicht mehr zu. Er war direkt auf Lauren Pritchard zugegangen, die auf ein handteller-großes Wandstück deutete. Neben ihr stehend betrachtete er aufmerksam die von ihr bezeichnete Stelle.
»Schau mal hier, Alex«, sagte die hübsche Zweiundzwanzigjährige. »Eigentlich habe ich mit Celia nur etwas an der Kalkschicht herumgekratzt, weil wir prüfen wollten, wie alt der Belag sein könnte. Naja, dabei ist plötzlich ein Stück herausgefallen. Und Celia ist sofort die ungewöhnliche Farbschicht aufgefallen.«
Das freigelegte Mauerstück leuchtete in einem sanften Gelbton.
»Scheint tatsächlich so, als seien das die Reste von einem in wässriger Lösung angeriebenen Pigments ... typisches Material und bekannte Technik für ein Fresko«, meinte Alexander Lawson nach eingehender Prüfung fachmännisch. »Könnte tatsächlich sein, dass ihr beiden eine wirklich interessante Entdeckung gemacht habt«, setzte er dann noch hinzu und klopfte den beiden Frauen anerkennend auf die Schultern. »Aber klarer sehen, werden wir erst, wenn wir ein größeres Stück der Wand freigelegt haben.« Er wandte sich den anderen zu, die hinter ihn getreten waren. »Was meint ihr, wollen wir gleich damit anfangen?«
Shane Miller grinste ihn an.
»Aber klar doch!«, meinte er. »Auf die faule Haut können wir uns später immer noch legen.«
»Dazu fällt mir ein Witz ein«, meldete sich Donovan, der immer für einen Spaß gut war. »Ein Mann redet mit seinem Kumpel, fragt der: Was machst du heute noch? Sagt der andere: Ich werde nach Hause gehen, und mich auf die Faule legen ... aber die ist bestimmt wieder shoppen!«
»Echt witzig, Finn!«, empörte sich Celia Pike und stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite.
»Könnt ihr beiden mit dem Mist einfach mal aufhören?«, maulte Lawson.
»Die beiden necken sich doch nur!«, schmunzelte Miller. »Und ihr wisst doch, was das bedeutet, oder?«
Celia Pike und Finn Donovan warfen ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Wir sollten zunächst Stichproben machen. Jeder von euch legt etwa ein Square Yard frei.« Damit wich Miller direkt einer weiteren Auseinandersetzung aus. »Aber seid vorsichtig, damit wir nichts beschädigen.«
»Shane hat Recht!« Lawson besah sich die Wand noch einmal eingehend und kam zu dem Schluss: »Es sieht so aus als ließe sich der Kalk relativ leicht ablösen.«
Er suchte sich einen Spachtel aus einer der zahlreich herumstehenden Werkzeugkisten und machte sich sofort an die Arbeit. Seine Mitstudenten folgten seinem Beispiel. Auf allen Gesichtern konnte man jetzt die neugierige Spannung ablesen, die sie vorantrieb. Schon in kurzer Zeit gelang es Lawson eine ziemlich große Fläche freizulegen. Plötzlich stieß er auf etwas. Neugierig musterte die Stelle. Sie schimmerte bläulich.
»Hier ist eine andere Farbschicht. Diesmal ist es blau«, informierte er sofort seine Kommilitonen.
»Bei mir auch. Ich habe hier eine Spur von Ocker«, meldete Finn Donovan. »Scheint, als haben Lauren und Celia einen echten Schatz gefunden.«
Die jungen Frauen ließen sich durch das Lob nicht bei ihrer Arbeit stören. In dem Abschnitt, welchen sie freigelegt hatten, kamen verschiedene Farben zum Vorschein. Zuerst war es ein Rotton, dann kam etwas Blaues ans Tageslicht.
Eifrig schabten und kratzten sie alle weiter. Gespannt verfolgten sie, wie auf der Wand vor ihnen nach und nach Konturen entstanden. Umrisse zeichneten sich ab. Vor einem rötlichen Hintergrund erschien ein blassblaues Gebilde.
Die Gruppe sprach kein Wort. Intensiv waren die jungen Leute in ihre Arbeit versunken. Nur das ständige, laute Scharren ihrer Spachtel war zu hören.
Plötzlich ertönte ein markerschütternder, grauenvoller Schrei, der wie ein hämisches, geringschätziges Auslachen als Echo aus dem Wald zurückhallte. Lauren Pritchard hatte ihn ausgestoßen. Am ganzen Leib zitternd stand sie vor der Mauer. Sie hatte ihren Spachtel fallen lassen und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sich eine unheimliche Atmosphäre in dem alten Saal ausgebreitet. Und jetzt schien es sogar noch so, als wolle auch ›Mutter Natur‹ ihren Teil dazu beitragen. Schlagartig verschwand die Sonne hinter dunklen Wolken. Augenblicklich lag der Burghof im Schatten. Dann wühlte ein unangemeldeter heftiger Windstoß in den Wipfeln der Bäume unten im Graben.
Lawson und seine drei männlichen Studienkollegen standen mit weit aufgerissenen Augen neben Lauren Pritchard und Celia Pike. Sie war ihrer Freundin zu Hilfe gesprungen und stützte sie. Lauren Pritchards Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren und in ihren Augen stand die nackte Panik.
Alle starrten völlig fassungslos auf die Wandmalerei, die sich jetzt in all ihren prachtvollen Farben auf der Wand des Rittersaales zeigte.
Sie hatten einen Totenschädel freigelegt, dessen Gesichtszüge in einem satanischen Grinsen erstarrt waren. Und obgleich das eigentlich gar nicht möglich sein konnte, trug dieser Schädel tatsächlich noch die Gesichtszüge eines Mannes. Der unbekannte Freskenmaler, der dieses Bild geschaffen hatte und dessen Gebeine längst verblichen waren, musste ein wahrer Meister seiner Zunft gewesen sein, denn er hatte es ausgezeichnet verstanden, das unheimliche Grauen eines halbverwesten Kopfes wiederzugeben. Den sechs jungen Archäologiestudenten grinste der leibhaftige Tod von der Wand entgegen.
Celia Pikes Finger umklammerten Lauren Pritchards Arm. Immer noch musste sie ihre leichenblass gewordene Freundin festhalten. Gebannt starrte sie auf das Bild. Dann brach mit einem Mal wieder die Sonne durch, und die Ruine war wie zuvor erfüllt von hellem Licht. Das Grauen der letzten Minuten verflüchtigte sich. Jetzt war der Schädel nichts mehr weiter als die geniale Malerei eines außergewöhnlichen Künstlers.
Sie atmete tief durch.
»Alles ist gut, Lauren«, sagte sie leise, nachdem sie sich selbst von ihrem Schrecken erholt hatte. Beruhigend streichelte sie ihr die Schultern. »Wir haben uns alle erschrocken, als wir plötzlich diese Malerei sahen. Aber es ist doch nur ein Gemälde, nichts, wovor du dich ängstigen müsstest.«
Ganz behutsam redete sie auf ihre Freundin ein. Auch die Gesichter der anderen hatten sich wieder etwas entspannt. Endlich fand auch Lauren Pritchard ihre Fassung wieder und fuhr sich wie erwachend durch ihre pinkfarbenen Haare.
»Ihr werdet mir das kaum glauben, aber es war mir, als würden mich die toten Augen dieses Schädels direkt anstarrten«, erklärte sie stockend. Immer noch war die Angst in ihrer Stimme deutlich zu vorhanden. »Es ist ja nicht gerade so, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein schauerliches Bild gesehen, aber so eines, wie dieses, noch nie«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich war es nur die Überraschung, die mich so mitgenommen hat. Ausgerechnet einen halbverwesten Totenschädel, noch dazu einen, der so realistisch ist ... damit habe ich nun gar nicht gerechnet. Aber eines ist merkwürdig, obwohl ich das alles nachvollziehen kann, kommt mir diese Ruine jetzt äußerst unheimlich vor. Ich habe irgendwie, dass unerklärliche Gefühl, dass hier nicht alles ganz geheuer ist.«
Lächelnd sah sie Lawson an.
»Ach, komm schon, Lauren«, meinte er und hielt ihr seine Packung Zigaretten hin. »Hier, nimm dir mal eine. Und dann komm erst mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück! Von wegen, es ist hier nicht geheuer! Ich sollte dir eine Extraarbeit zuweisen, dann wird diese Spinnerei schnell wieder vergehen. Und die Freude über deine Entdeckung wird ein Übriges dazu tun«, setzte er hinzu.
Lauren Pritchard zündete sich die angebotene Zigarette an und nahm einige hastige Züge.
»Du wirst sicher recht haben, Alex«, sagte sie.
Ihre Stimme klang jetzt zumindest nach außen hin wieder sehr viel ruhiger. Aber ihre Augen sagten etwas völlig anderes. In ihnen flackerte immer noch die Angst.
Kyle Maxwell tippte seiner Teamleitung auf die Schulter.
»Du, Alex, ich habe weiter drüben eine ähnliche Kontur freigelegt. Aber ich bin noch nicht ganz so weit wie Lauren und Celia«, mischte er sich ein. »Ich halte es für durchaus möglich, dass sich dort noch ein weiterer Totenschädel befindet.«
»Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren«, wies Lawson seine Mitstudenten an. »Lasst uns gleich wieder an die Arbeit gehen ...«
»... denn es stehen uns große Entdeckungen bevor«, warf Finn ergänzend ein.
»Falsch, Finn!«, bemerkte Maxwell grinsend. »Frei nach Louis Pasteur muss es heißen: Gehen wir wieder an die Arbeit, denn eine wissenschaftliche Entdeckung ist die Arbeit von nur einer Person!«
Donovan nickte seinem Studienkollegen schmunzelnd zu, und Lawson musste unwillkürlich an die Worte Professor Alverstons denken.
»Damit könntest du recht haben, Finn«, murmelte er und überging Kyle Maxwells Kommentar. »Aber nun los! Wenn wir fleißig sind, dann können wir das Fresko sicher in zwei bis drei Tagen komplett freigelegt haben.«
Wieder schob sich eine düstere Wolke vor die Sonne. Aber die sechs jungen Archäologiestudenten achteten nicht darauf. Sie waren eifrig damit beschäftigt, ihre unterbrochene Arbeit fortzusetzen.