Читать книгу Die rote Tinktur - Thomas Riedel - Страница 7
ОглавлениеKapitel 4
K
yle Maxwell, der Fotofachmann der Studentengruppe, nahm Lauren Pritchard die digitale Spiegelreflexkamera aus der Hand und kontrollierte die Einstellungen mit den Worten: »Pass auf die Belichtung auf!«. »Wenn du die Helligkeit nicht genau triffst, bekommst du grauenhafte Bilder. Bin gespannt was Professor Alverston zu den Fotos sagen wird. Die können wir ihm nachher gleich per Mail rüberschicken, dann kann er sich schon mal einen Eindruck über unsere Arbeit verschaffen. Wäre zwar besser, er wäre vor Ort, aber da er immer so viel um die Ohren hat, muss es eben so gehen.«
Lawson hatte sich zu Lauren Pritchard und Kyle Maxwell gesellt, während Finn Donovan, Shane Miller und Celia Pike mit Arbeiten an einer entfernteren Stelle des Rittersaales beschäftigt waren.
»Na, geht es bei euch voran?«, erkundigte er sich schmunzelnd.
»Der Professor wird große Augen machen«, freute sich Lauren Pritchard. »Das Fresko ist außergewöhnlich gut erhalten und wirklich beeindruckend. Als ich es gestern zum ersten Mal vollständig sah, hätte es mich beinahe umgehauen. Solche Intensität des Ausdrucks habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Ja, da hast du Recht«, stimmte Lawson ihr zu. »Erst habe ich gedacht, es sei eine ausschließlich feucht ausgeführte Arbeit, aber inzwischen glaube ich das nicht mehr. Ich bin ziemlich sicher, dass der Künstler eine Mischform aus Fresco- und Seccotechnik angewendet hat, vermutlich in Anlehnung an die Arbeiten Giotto di Bondones. Aber es ist um Längen besser und eindrucksvoller als die Fresken der Basilika San Francesco in Assisi.«
»Wenn du schon so genau bist in deiner Ausführung, Alex, dann vergiss Bondones Fresco in der Cappella deglia Scrovegni in Padua nicht!«, rief Celia Pike zu ihm herüber, die seine oft zur Schau gestellte oberlehrerhafte Art nicht mochte, seit er von Professor Alverston zum Teamleiter ernannt worden war.
Lawson ging nicht auf seine Kommilitonin ein, stattdessen trat er einige Schritte zurück und betrachtete wohl zum hundertsten Mal das Gemälde, das sich acht Yards breit und dreieinhalb Yards hoch auf der Südwand des Rittersaals von ›Dùn Gòrdan-Castle‹ abzeichnete.
Und wie jedes Mal zuvor, wenn er es sich ansah, lief ihm ein eisig kalter Schauer über den Rücken. In Lebensgröße erhob sich genau im Zentrum des Freskos eine silbrig glänzende Rittergestalt. Jede Einzelheit seiner prunkvollen Rüstung war bis auf das kleinste Detail filigran herausgearbeitet worden. Das Gesicht des schwer gepanzerten Kriegers schien vor Leben nur so zu sprühen. In dem wettergegerbten Antlitz des Mannes blitzten grünliche Augen. Ein rostbrauner Vollbart umgab einen sinnlichen Mund. Der Adelige trug ein schweres Schlachtbeil in der einen und ein, mit einem Wappen verziertes, Schild in der anderen Hand.
Wie eine makabre und grauenvolle Girlande zog sich ein seltsames Stillleben um die Figur des Recken. Es war ein Gewirr von nackten, aufs Blut gepeinigten Leibern. Einige wurden von gehörnten Teufeln mit Peitschen getrieben, andere wälzten sich in ätzendem Kot, wieder anderen waren die Körper so verdreht worden, dass sich ihre Gesichter nach hinten wendeten. Dann gab es welche, die mit kochendem Pech übergossen wurden, und wieder anderen wurden Gliedmaßen abgetrennt und die Eingeweide herausgerissen. Dazwischen fanden sich zahlreiche Totenschädel, denen man die verschiedenen Stadien der Verwesung ansah. Alle Körper wurden geschunden und gefoltert, aber auch die Folterknechte selbst trugen schreckliche Wunden am Körper aus denen zum Teil bereits die Maden krochen. Alle Grausamkeiten, die sich der menschliche Geist auch nur im Entferntesten ausdenken konnte, waren auf dem Gemälde verewigt. Es schien als wäre es dem Künstler darum gegangen alle Qualen der Hölle aus Dante Alighieris ›Commedia‹ in einem einzigen Bild zu vereinigen.
Und über der ganzen Szenerie glänzte in blutigem Rot eine Sonne. Sie hatte einen Durchmesser von etwa einem Yard und war von sprühenden, goldenen und silbernen Strahlen umgeben.
Diese Sonne stellte für Lawson das größte Rätsel des Freskos dar. Seltsamerweise hatte der Derjenige, der das Bild geschaffen hatte, sie nämlich nicht gemalt, sondern als eine von Hand geschliffene Glasplatte in die Wand eingelassen. Darüber hatten sich bereits schon seine Mitstudenten am Tag zuvor gehörig den Kopf zerbrochen. Das Phänomen hatte sich keiner von ihnen erklären können.
Sicher war das kein Zufall und genau so beabsichtigt gewesen.
Nur warum?
War es einfach aus einer Laune heraus so gemacht worden, oder vielleicht eine mittelalterliche, technische Spielerei, von der sie nie zuvor etwas gehört hatten?
Diente die geheimnisvolle Glasplatte möglicherweise der Beleuchtung des Rittersaals, oder handelte es sich vielleicht um eine Art Fenster?
Ansätze gab es viele, aber keiner schien ihnen wirklich einleuchtend zu sein. Inzwischen hatten sie ihren Professor verständigt. Sie hofften, dass Alverston eine Erklärung finden würde.
Es waren die ehernen Glockenschläge der kleinen Dorfkirche, die gedämpft durch den Wald herüberdrangen und Lawson aus seinen Gedanken wieder zurück in die Wirklichkeit holten.
Lauren Pritchard und Kyle Maxwell, die die ganze Zeit neben ihm standen, hatte er bei seiner eingehenden Betrachtung völlig vergessen. Er warf ihnen einen flüchtigen Blick zu und sah auf seine Armbanduhr. Es ging auf zwölf Uhr zu, und es war an der Zeit, die Arbeiten zu unterbrechen, um eine Pause zu machen.
Mit einem Ruck löste er sich vom Anblick des Freskos und wollte sich gerade seinem Team zuwenden, als er plötzlich in seiner Bewegung innehielt und wie erstarrt stehenblieb.
»Kyle, Lauren, schaut mal!«, rief er aus und deutete zitternd, mit seinem ausgestreckten Zeigefinger, auf das Wandbild.
Er war blass geworden.
»Was ist denn los?«, fragte Maxwell ihn aufgeregt. Er verstand nicht sofort, worauf Lawson hinauswollte.
»Da!«
Jetzt war es nicht mehr zu übersehen und sie sahen es auch!
Die gläserne Sonnenscheibe auf dem Fresko hatte sich verfärbt. Mit einem Mal strahlte sie in hellem Rot. Funken schienen aus dem Glas zu sprühen. Der ganze Rittersaal war in ein gespenstisches Licht getaucht.
»Das ist ja echt unheimlich!«, stieß Lauren Pritchard aus und starrte wie gebannt auf die Sonne.
Erstarrt standen die drei Archäologiestudenten vor dem Gemälde. Auch Finn Donovan, Shane Miller und Celia Pike hatten den Aufschrei ihres Studienkollegen gehört und waren inzwischen nähergekommen. Auch sie bemerkten jetzt das unheimliche Feuer in dem Wandbild.
»Das ist ja mal krass«, entfuhr es Celia Pike. »Völlig abgefahren!«
»Was kann das nur sein?«, flüsterte Lauren Pritchard. Sie drängte sich dicht an den einen Kopf größeren Kyle Maxwell, aber der nahm davon gar keine Notiz. Finn Donovan hatte sich auf den Griff eines Spatens gestützt und starrte wie gebannt auf das Fresko.
Ehe sich die Sechs versahen, war der Spuk auch schon wieder vorbei. Wie zuvor schimmerte das Glas dunkelrot im Sonnenlicht. Keiner von ihnen konnte genau sagen, wie lange die seltsame Erscheinung gedauert hatte. Es schien als würden sie aus einem Bann erwachen, der sie gefangen gehalten hatte. Irritiert sahen sie sich an. Der Appetit auf ein Mittagessen war ihnen gründlich vergangen.
Shane Miller war der erste unter ihnen, der wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
»Merkwürdig«, murmelte er. »So etwas Eigenartiges habe ich noch nie erlebt. Es war ja fast so, als ob das Gemälde die Mittagssonne begrüßen wollte.« Er schmunzelte. »Wer auch immer sich das ausgedacht hat, eine echt verrückte Idee, das muss man ihm neidlos zugestehen!«
»Stimmt«, nickte Miller. »Völlig irre!«
»Kann es nicht sein, dass uns irgendetwas geblendet hat?«, meinte Lauren Pritchard und sah die anderen fragend an. Das Ganze hatte sie sichtlich mitgenommen und sie war immer noch sehr bleich, bemühte sich aber der Sache eine natürliche Erklärung zu geben.
»Könnte durchaus möglich sein«, erwiderte Lawson. »Auf jeden Fall sollten wir einmal genauer untersuchen, was es mit dieser Sonne auf sich hat.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich werde später Professor Alverston anrufen und ihn bitten, doch selbst herzukommen. Vielleicht hat er eine plausible Erklärung.« Dann schmunzelte er. »Aber nun schlage ich vor, dass wir uns nach dem Schreck ablenken und etwas zu Mittag essen.«
»Also mir ist darauf die Lust echt vergangen«, wehrte Donovan ab. Er lachte krampfhaft. »Ich kann mir einfach beim besten Willen nicht vorstellen, dass es sich tatsächlich nur um einen Sonnenreflex gehandelt haben soll. Und ich gebe zu, ich bin froh, wenn ich nach alledem noch eine Tasse Tee hinunter bekomme.«
Lächelnd stieß ihm Lauren Pritchard leicht mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Dann mache ich uns mal welchen«, schlug sie vor. Sie hatte in der kleinen Gruppe die Aufgabe der Köchin übernommen. »Und bis ich soweit bin, haben wir uns hoffentlich alle wieder etwas beruhigt ...«
Sie brachte den Satz nicht zum Ende. Ein grauenhafter Schrei ließ sie herumwirbeln. Gellend hallte er zu ihnen herüber. Es war ein Schrei, wie ihn keiner der Archäologiestudenten jemals zu Ohren bekommen hatte. Schrill und gurgelnd. Der panische Schrei eines in Todesangst versetzten Menschens!
Und dann war es plötzlich ruhig.
Es herrschte Stille!
Eine unheimliche Stille!
Und sie machte Angst, weil sich überhaupt nichts verändert zu haben schien.
Die hoch am Himmel stehende Sonne warf ihre hellen Strahlen in den Burghof wie zuvor. Und auch die Vögel zwitscherten weiter, in den sich leicht im Wind wiegenden Baumwipfeln. Aus der Ferne klang das Gurren einer Taube zu ihnen herüber.
Alles schien friedlich, gerade so, als wäre nichts geschehen.
Unwillkürlich waren die sechs jungen Studenten zusammengezuckt. Dicht gedrängt standen sie beieinander. Sie waren unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen. Sie alle starrten nach Westen, fixierten mit ihren Blicken den alten Wohnturm mit seinem Bergfried, aus dessen Richtung der fürchterliche Schrei gekommen war. Dort, wo die alten Buchen und knorrigen Eichen so dicht beieinanderstanden, musste etwas Grauenhaftes geschehen sein.
»Das klang ja schrecklich«, flüsterte Celia Pike kaum hörbar. »Gerade so, als sei jemand umgebracht worden ...«
»Jetzt mache aber mal einen Punkt, Celia! Rede doch nicht so einen Unsinn!«, fiel Lawson ihr barsch ins Wort. »Es wurde niemand umgebracht! Weiß der Teufel, wer oder was da eben so geschrien hat. Vermutlich war es nur ein krankes Tier.«
»Nein, Alex!«. schrie Lauren Pritchard ihn hysterisch an. »Das war ganz bestimmt kein Tier! Da hat ein Mensch geschrien! Celia hat vollkommen Recht!« Sie warf den anderen einen auffordernden Blick zu. »Los, lasst uns nachsehen! Schnell!«
»Na, meinetwegen«, beschwichtigte Lawson, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. »Ich gehe und sehe nach. Shane kommt mit. Ihr anderen bleibt solange hier. Es ist nicht nötig, dass wir deswegen alle in den Wald rennen.« Er klopfte Shane Miller auf die Schulter. »Na los, komm!«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich den Pickel mitnehme. Nur so zur Sicherheit?«, fragte Miller und warf einen Blick in Richtung des Werkzeugs. Sein Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren. »Wer weiß, vielleicht haben die Mädels ja wirklich Recht, und im Wald läuft tatsächlich ein Killer herum.«
»Du bist ein echter Vollidiot!«, entfuhr es Lawson verärgert.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte los. Shane Miller folgte ihm dicht auf. Seine Fäuste umklammerten die schwere Spitzhacke, die er einsatzbereit vor seiner Brust hielt.
Celia Pike, Lauren Pritchard, Kyle Maxwell und Finn Donovan blieb nichts Anderes übrig als ihren beiden Studienkollegen verunsichert hinterherzusehen, die gerade zwischen den ersten Baumreihen verschwanden.