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Kapitel 5

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rofessor Francis Alverston hatte die altmodischen hohen Fenster in seinem Arbeitszimmer in der Universität weit geöffnet, um die warme Luft des sonnigen Herbsttages in den Raum zu lassen. Alverston war ein kleiner, hagerer Mann mit einem silbergrauen Schnurbart, den er an den Seiten fein aufzwirbelte und einrollte. Sein Gesicht wurde umrahmt von ebenfalls silbrigen und sehr buschigen Koteletten. Auf seiner Nase trug er eine feine Hornbrille. Der vierundsechzigjährige Mann, mit dem leichten Bauchansatz, saß hinter seinem massiven Mahagoni-Schreibtisch aus der Tudor-Ära. Konzentriert studierte er eine vor sich auf dem Tisch liegende Abschrift eines alten Pergaments. Ab und zu nahm er ein Vergrößerungsglas zur Hand und betrachtete einige Stellen darauf besonders eingehend.

Gerade hatte er wieder die Lupe zur Hand genommen, als es energisch an der Tür klopfte.

»Herein!«, rief er resolut. Ein neugieriger Blick über den Brillenrand studierte den Besucher.

Ein Mann von mittelgroßer, schlanker Statur und mit ungewöhnlich stark ausgeprägten Augenbrauen trat ins Zimmer.

»Hallo, Francis!«, grüßte der Eindringling und reichte dem Professor die Hand, der trotz seines fortgeschrittenen Alters förmlich aus seinem Ledersessel geschnellt war, den Schreibtisch umrundet hatte und ein paar Schritte auf den Mann im Trenchcoat zu gemacht. Er erwiderte dessen kräftigen Händedruck.

»Der gute Isaac Blake!«, lachte er freudig überrascht. »Wie ich mich freue, dich nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen.« Er deutete auf die beiden Sessel vor seinem Schreibtisch. »Komm, setz dich, mein Freund.«

Man sah und spürte zugleich, welche Freude Blake ihm mit diesem unerwarteten und überraschenden Besuch bereitete. Er öffnete den Wandschrank und nahm eine Flasche Wein heraus, der mit Weinbrand versetzt war. Dann griff er nach zwei Gläser und kehrte mit beidem zum Schreibtisch zurück.

»Alter Madeira«, schmunzelte er vielsagend. »Fast noch aus archäologisch interessanter Zeit.« Er schenkte ein. »Bei dem können wir sicher gut plaudern.« Er sah ihn neugierig über den Brillenrand hinweg an. »Bist du immer noch beim Yard, Isaac?«

Sein Besucher hatte inzwischen in einem der Sessel bequem gemacht.

»Natürlich, wenngleich zurzeit auch im Urlaub«, erwiderte er lächelnd. »Und da habe ich mir gedacht, ich könnte einmal bei dir vorbeischauen.« Er warf ihm einen interessierten Blick zu. »Und du? Immer noch auf den Spuren der alten Ägypter und Sumerer?«

Alverston lachte herzlich.

»Im Augenblick bin ich mehr auf den Spuren der alten Briten, der Schotten, um es zu präzisieren«, antworte der Professor mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme. »Ein Thema, welches auch eines passionierten Archäologen nicht unwürdig ist.« Er zeigte auf die Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch. »Da habe ich zum Beispiel vor etwa fünf Monaten einige hochinteressante Dokumente entdeckt, die eine alte Burgruine in der Nähe von Kinloss betreffen. Gegenwärtig sind sechs meiner besten Studenten dort, um Ausgrabungen vorzunehmen. Die Burg hat eine nicht unbedeutende Rolle in der Geschichte Schottlands gespielt.« Er setzte sich wieder. »Ich bin davon überzeugt, dass es dort spannende und wissenschaftlich relevante Entdeckungen zu machen gibt. Und wer weiß, vielleicht darf ich ja am Ende auch einmal einen bescheidenen Platz in der Geschichte der Archäologie beanspruchen.«

»Das wünsche ich dir von Herzen!«, unterbrach Isaac Blake den Redeschwall des Professors. »Aber über deine beruflichen Ambitionen können wir uns später immer noch unterhalten. Jetzt ist mir mehr danach alte Erinnerungen aufzufrischen.« Er lehnte sich in dem Sessel zurück und schlug lässig die Beine übereinander. »Ich habe gerade eine, man kann es kaum anders beschreiben, übersinnliche Mordserie gelöst und mein Chief Superintendent meinte, ich solle einmal richtig ausspannen. Und wo könnte ich das besser als im gemütlichen Edinburgh. Ich habe mir ein Hotelzimmer genommen und werde zwei bis drei Wochen bleiben.«

»Ja, beim New Scotland Yard hat man es nicht leicht, auch wenn man es bis zum Detective Inspector gebracht hat«, warf der Professor ein.

»Detective Chief Inspector«, unterbrach ihn Blake schmunzelnd und strich sich dabei über eine Augenbraue. »Vor dem Urlaub erhielt ich meine Beförderungsurkunde aus den Händen des Commissioners!«

»Na, da gratuliere ich dir. Eigentlich auch längst überfällig nach all den Jahren, die du schon dabei bist.« Alverston freute sich für ihn. »Und dass du einmal so richtig ausspannen möchtest, kann ich mir auch gut vorstellen.«

Professor Alverston erhob sein Glas und prostete Blake zu.

»Dann zunächst einmal auf deine Beförderung zum Chief Inspector.« Lächelnd fügte er an: »Und darauf, gleich mit der Erholung zu beginnen, Isaac.«

Beide nippten an ihrem Drink.

»Wie geht es eigentlich deinem Vater?«, erkundigte sich der Professor. »Ich muss eingestehen, dass ich die letzten Jahre viel um die Ohren hatte. Irgendwie habe ich ihn ein wenig aus dem Blick verloren, Isaac. Arbeitet er noch immer als Paläopathologe? Als ich das letzte Mal von ihm etwas gehört habe, war er gerade an einer Grabungsunternehmung beteiligt in Uxul und Calakmul in Guatemala, mitten im Regenwald. Einhundertzwanzig Kilometer entfernt von jeder Zivilisation!«

Blake schluckte. Er wurde nicht gern an seinen Vater erinnert, auch wenn er ihn immer für seine Arbeit bewundert hatte, schon als er noch ein kleiner Junge war. Nur zu gern hätte er ihn damals an die exotischen Schauplätze seines Handelns begleitet. Nur selten war sein rastloser alter Herr für eine längere Zeit zu Hause gewesen und die meiste Zeit seiner Kindheit über, hatte er mit seiner Mutter allein verbringen müssen. Und wenn sein Vater tatsächlich einmal anwesend war, dann hatte Blake es nie geschafft, ihm auch nur im Ansatz gerecht zu werden. Archäologie war nie wirklich sein Fall gewesen, aber es war die Leidenschaft seines Vaters – sein einziger Lebensinhalt. Das Blake sich für andere Dinge interessierte, hatte sein Vater eher mit Missfallen registriert, und schon gar nicht hatte er verstanden, warum sein Sohn unbedingt zur Kriminalpolizei wollte, wo er doch nach dem abgeschlossenen Studium der Kriminalistik sehr viel mehr aus sich hätte machen können, anstatt eine schlichte Inspektorenlaufbahn anzustreben. In den Augen seines Vaters hatte sich Blake immer als Versager verstanden. Auch heute noch fühlte er sich klein, wenn nur sein Vater erwähnt wurde.

»Er ist aus Guatemala nicht mehr zurückgekehrt«, antworte er gepresst. »Er hatte sich mit dem Dengue-Virus infiziert. Wie sich herausstellte war es die hämorrhagische Variante. Im Verlauf kam es zu unkontrollierten Blutungen. Man konnte ihn zwar noch in ein Hospital bringen, aber da war er bereits im Koma. Ein paar Tage später ist er an den inneren Blutungen verstorben.«

Professor Alverston hatte ihm bestürzt zugehört. Er wollte gerade etwas sagen, als aus Blakes Manteltasche leise Musik ertönte. Es war die Miss Marple Titelmelodie, die er beruflichen Anrufen zugewiesen hatte. Überrascht zog er sein Apple-Smartphone hervor.

»Du entschuldigst bitte, Francis?«

Der Kriminalbeamte erhob sich aus dem Sessel, ging zu einem der offenen Fenster hinüber, sah hinaus und meldete sich.

»Detective Chief Inspector Blake!« Sein Gesicht, welches zunächst einen gleichgültigen und entspannten Ausdruck gezeigt hatte, wurde im Verlauf dessen was er zu hören bekam immer länger. Nach kurzer Zeit wirkte er ein wenig deprimiert. »Wie Sie wünschen, Chief Superintendent. Ja, Sir! Dann werde ich meinen Urlaub also abbrechen müssen.« Missmutig sah er zum Freund seines verstorbenen Vaters hinüber. »Das ist ja eine befremdliche Geschichte. Okay, ich werde mich dort einmal umsehen und mich dann umgehend bei Ihnen melden. Bye!«

Ein wenig verärgert steckte er sein Smartphone wieder ein.

»Verdammt«, schimpfte er leise.

Alverston hatte ihm während des kurzen Telefongesprächs das Glas wieder aufgefüllt. Blake leerte es in einem Zug. Dann starrte er den Professor herausfordernd an.

»Was ist denn passiert, Isaac?«, erkundigte sich Alverston mitfühlend. »Du bist gerade erst eingetroffen, hast deinen Urlaub angetreten und nun musst du ihn schon wieder abbrechen?«

»Ja, leider. Ich muss!« Blake hatte sich wieder gesetzt und saß mit enttäuschtem Gesicht vor ihm. »In einem kleinen Dorf, ganz in der Nähe von Kinloss, hat es einen Mord gegeben, … einen recht mysteriösen Mord, zumindest nachdem, was mir der Chief gerade mitgeteilt hat. Und wieder einmal ist keiner der sonst so zahlreich vorhandenen Kollegen abkömmlich. Zumindest keiner, dem er die Aufklärung zutraut. Also heißt es mal wieder in die Bresche springen.« Er warf dem Professor einen fragenden Blick zu, während er sich mit beiden Händen nachdenklich über die buschigen Augenbrauen strich. »Hattest du nicht vorhin auch etwas von Kinloss erzählt?«

Professor Alverston nickte.

»Ja, ich sagte, dass ich dort Ausgrabungen machen lasse«, bestätigte er.

»Du hast es echt gut«, entgegnete Blake grinsend. »Lässt deine Studenten für dich arbeiten und sitzt bequem in der Stube. Naja, es nutzt ja nichts sich aufzuregen. Wenn die Sache erledigt ist, schaue ich wieder bei dir herein. Aber im Augenblick ruft die Pflicht, ... so leid es mir tut, Francis. Bis bald, also.«

»Hoffe ich auch, Isaac«, erwiderte Alverston. Dann begleitete er Blake zur Tür. »War ein kurzer Besuch, aber ich habe mich dennoch sehr darüber gefreut dich zu sehen, Isaac. Vielleicht triffst du dort ja zufällig auf meine Studenten. In diesem Fall richte ihnen einen schönen Gruß von mir aus, machst du das?«

»Werde ich machen, Francis. Aber ich gehe kaum davon aus, dass ich deine Leute zu sehen bekomme. Schließlich will ich im Umkreis von Kinloss ja keine Ausgrabungen machen.« Er reichte ihm die Hand. »Also, mach‘s gut!«

Chief Inspector Blake trat auf den weiten Flur der Universität hinaus. Professor Alverston sah ihm noch eine Weile nachdenklich nach, bis Blake über das großzügig angelegte Treppenhaus nach unter huschte. Dann ging er in sein Büro zurück und zog die Tür hinter sich zu.

»Immer schwer beschäftigt, die Jungs vom Yard«, murmelte er schmunzelnd vor sich hin. »Die Wissenschaft hat es da schon besser.«

Er warf der Flasche Madeira einen traurigen Blick zu, setzte sich an seinen Schreibtisch und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.


Die rote Tinktur

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